„Das kann nur Frustration gewesen sein“

Lou Reed: „Das kann nur Frustration gewesen sein“

Interview. Ein schwieriges Gespräch mit Lou Reed

Drucken

Schriftgröße

Von Thomas Mießgang

Der New Yorker Musiker Lou Reed widmet sich einer Menge Nebenjobs: In den vergangenen zehn Jahren hat das legendäre Gründungsmitglied der Band Velvet Underground sein Betätigungsfeld erheblich erweitert, sich vom Rockpoeten und Experimentalgitarristen zum Fotografen weiterentwickelt, zwei Bildbände veröffentlicht und Texte von Edgar Allan Poe zu einem Hörspiel verdichtet. Nun hat der 68-Jährige auch noch einen kleinen Film gedreht – eine dokumentarische Arbeit namens „Red Shirley“, in der er seine 100-jährige Cousine, eine polnische US-Immigrantin und ehemalige Gewerkschaftskämpferin, zu ihrer wilden Biografie befragt. Auf Einladung der Viennale wird Lou Reed sein Filmdebüt nun auch in Österreich vorstellen und kommentieren: Ab 1. November verbringt er, als Stargast des laufenden Festivals, drei Tage in Wien.

profil besuchte Reed vergangene Woche in New York, um vorab dazu ein Interview zu führen. Der Plan klang simpel: Das Gespräch sollte am Donnerstag um 17.30 Uhr stattfinden, der Treffpunkt werde noch bekannt gegeben, hieß es. Zwei Stunden vor dem Termin kommt ein Anruf vom Management: Lou sei, wie es aussehe, nicht in der Stadt, das Interview werde auf Freitagvormittag verschoben. Ort weiterhin unbekannt. Am nächsten Morgen: nervöse Spannung, der Rückflug nach Wien ist für 17 Uhr gebucht. Es wird langsam knapp. Um 10 Uhr ein neuer Anruf von Reeds Agenten: „Für welche Zeitung schreiben Sie eigentlich?“ Die Frage kommt ein bisschen spät, eigentlich ist das seit Wochen geklärt. „We’ll be back soon“, das Management legt auf. Um 10.15 Uhr läutet das Telefon erneut: Lou sei downtown im Restaurant „Le Pain quotidien“, das Interview finde in 15 Minuten statt. Sehr witzig: Vom Central Park in die Hudson Street in einer Viertelstunde – das schafft höchstens Donald Trump mit dem Hubschrauber. Also ab ins Yellow Cab, beim Times Square staut es sich erwartungsgemäß. Aber immerhin: Nach 25 Minuten ist das „Pain quotidien“ in Sicht. In diesem Moment: Anruf vom Management. Lou habe soeben das Gebäude verlassen. Er befinde sich nun in einem Lokal mit dem originellen Namen „Café“, schräg gegenüber. Soll das eine Schnitzeljagd werden oder doch eine subtile Form der Journalistenfolter?

Das „Café“ lässt sich schnell ausfindig machen: ein Lokal mit Blümchenvorhängen und Plakaten, die ein Kinder-Halloween ankündigen. Auf der Speisekarte: Sparkling Hibiscus Tea und biologisch korrekte Hamburger. Ein Ort, an dem das West Village seine makrobiotische Gutmenschen-Fassade zeigt. Mittendrin, als ungesunde Erinnerungsspur an das exzessive New York der sechziger Jahre, als Mensch gewordenes Trauma: Lou Reed, klein und verknittert, deutlich älter aussehend als erwartet, smaller than life, flankiert von einem wohlgenährten Manager. Reed trägt schwarze Jeans und ein T-Shirt von der Stange. Man vermisst die Lederjacke und die Sonnenbrille, die den alten Fotos ihren morbiden Heroin Chic verliehen hatten.

profil: Sie treten nun, mit 68, erstmals als Filmemacher an die Öffentlichkeit. Was brachte Sie dazu, den Interviewfilm „Red Shirley“ zu drehen, die Dokumentation eines Gesprächs mit Ihrer Cousine Shirley Novick? Aufarbeitung der Familiengeschichte – oder die Historie des 20. Jahrhunderts in einer Nussschale?
Reed: Wir haben das Interview am Vortag von Shirleys 100. Geburtstag gemacht. Sie ist eine erstaunliche Person mit einer unglaublichen Geschichte. Und was für mich noch wichtiger war: Sie ist in einer Verfassung, die es ihr ermöglichte, diese Geschichte auch zu erzählen. Wenn ich diese Chance nicht ergriffen hätte, würde ich mich später vermutlich dafür hassen.

profil: War Shirley Novick für Sie nur eine entfernte Verwandte, an die Sie mit Ihrem Projekt herantraten, oder hatten Sie auch vorher schon eine starke Verbindung?
Reed: Wir hatten über viele Jahre hinweg sehr oft gute Gespräche. Ich wusste alles über ihr Leben, und ich dachte: Das ist so spannend, dass auch andere Menschen davon erfahren sollten.

Lou Reed hat den Ruf, Journalisten zu hassen und diese bei Interviews so zu behandeln, dass sie danach eine Therapie benötigen. Davon kann hier keine Rede sein: Reed gibt bereitwillig, wenn auch leicht gelangweilt, Auskunft – wohl, weil ihm sein Film sehr am Herzen liegt. Wenn er spricht, blitzt die untere Zahnreihe metallisch auf.

profil: „Red Shirley“ ist eine komplexe ästhetische Montage: Sie wechseln von Schwarz-Weiß zu Farbfilm, es gibt Kamerafahrten durch die Wohnung und Familienfotos zu sehen. Wie ergab sich diese Form?
Reed: Das waren alles meine Entscheidungen, ich bin schließlich der Regisseur und nicht nur ein talking head. Oder vielleicht hat auch Ralph Gibson, mein Kameramann, daran mitgewirkt, ich weiß nicht mehr. Ich kenne mich mit Kameras ein bisschen aus, bin da kein völliger Novize. Wir haben nur natürliches Licht verwendet, keine Scheinwerfer – und weil das Licht sich ständig veränderte, wechselten auch die Stimmungen. Gibson ist ein großer Porträtist, deshalb sieht das Ergebnis so schön aus.

profil: Sie zeigen Shirley Novick aus verschiedenen Perspektiven, mal im Profil, dann wieder von vorn. Nur in der Frontalansicht kann man erkennen, dass eine Seite ihres Gesichts gelähmt ist – was sehr beklemmend wirkt.
Reed: Ralph folgte dem Licht, gestaltete die Farben und Tiefenwirkungen. Die Fotos, die wir zeigen, Shirleys Erinnerungsfotos, lagen übrigens in einem Schrank. Sie fragte uns erst während des Drehens, ob wir sie verwenden wollten. Es war ein spontaner Einfall. Der ganze historische Aspekt des Films war nicht so bedeutend, wie er sich nun darstellen mag. Ich ging nicht unvorbereitet in das Interview, aber ich recherchierte auch nicht in dicken Geschichtswälzern. Ich ließ ein paar wesentliche historische Daten und Fakten herausschreiben – Dinge, die politische Umwälzungen betrafen, aber auch, welche Kleidung die Leute damals trugen – und benutzte dieses Material, um ins Gespräch zu kommen. Aber ich hab das vor der Kamera sehr flexibel gehandhabt.

profil: Ihre Cousine trägt im Film einen roten Pullover und roten Lippenstift: Sie ist augenfällig eine „Red Shirley“.
Reed: Wir hatten einfach Glück, wir sagten nicht: Shirley, du musst unbedingt etwas Rotes anziehen, um deine Arbeit für die Gewerkschaft auch symbolisch darzustellen. So arbeiten wir nicht. Sie glauben vielleicht, dass es da ein umfangreiches Drehbuch gab, dem wir Schritt für Schritt folgten. In Wahrheit war es genau umgekehrt: Wohin auch immer uns die Sache führte, wir gingen einfach mit; wir ließen uns treiben. Jeder kann enzyklopädische Studien über historische Epochen betreiben – das interessierte mich überhaupt nicht. Mir ging es nur um Shirleys Herz, um ihren Geist, um ihren Verstand.

Dinge, die Lou Reed wichtig sind, wiederholt er mit langsamer, prononcierter Stimme, als sei es schwierig, sie zu begreifen. Es sieht so aus, als glaubte er, bereits alles Wesentliche gesagt zu haben. Seine Konzentration lässt nach. Er beschäftigt sich jetzt vorwiegend mit dem iPhone, das vor ihm auf dem Tisch liegt und unsere Konversation aufzeichnet. „Super“, wird er später sagen, „das kann man jetzt direkt an iTunes schicken, und schon ist das Interview im Netz.“

profil: Musik taucht in „Red Shirley“ nur gelegentlich auf, als Zäsur zwischen den Gesprächsabschnitten. Trotzdem strukturiert sie den Film stark, verleiht ihm Dynamik, eine Art Beschwingtheit: Der Soundtrack stammt vom Metal Machine Trio, einem Improvisationsensemble, das Sie mit dem Saxofonisten Ulrich Krieger und dem Elektroniker Sarth Calhoun seit einigen Jahren betreiben. Haben Sie die Musik extra für den Film eingespielt?
Reed: Nein, das sind Aufnahmen aus dem Redcat Center in Los Angeles, die wir für den Film ausgesucht haben. Ich wollte einzigartige Musik für eine einzigartige Lady. Wir haben lange gesucht, mit Klängen experimentiert. Diese Aufnahmen passten am besten. Ich liebe es, wenn die Musik in „Red Shirley“ aus dem Nichts zu kommen scheint, anschwillt und dem Film seine atmosphärische Dichte gibt. Ohne Musik wäre die Sache zu statisch geworden.

profil: Das Metal Machine Trio ist auch ein Verweis auf Ihr berüchtigtes Album „Metal Machine Music“ aus dem Jahr 1975: eine atonale, gewalttätige Sologitarrenattacke aus übereinandergeschichteten Tonspuren, die seinerzeit sowohl Publikum als auch Kritiker vor den Kopf stieß. Sie selbst sollen gesagt haben: „Wer es bis auf Seite vier dieses Doppelalbums schafft, ist noch dümmer als ich selbst.“
Reed: Das soll ich gesagt haben? Wenn das Zitat stimmt, kann es nur Frustration gewesen sein. Denn mir war es mit dieser Arbeit durchaus ernst. Ich spielte „Metal Machine Music“ allein ein – es gab keine Musiker, mit denen man so ein Experiment wagen konnte. Erst jetzt, mehr als 30 Jahre später, habe ich Partner gefunden, mit denen man solche Klänge auch live aufführen kann. Das zeigt, wie weit die Platte ihrer Zeit voraus war.

profil: Heute ist das ja wohl anders. An jeder Ecke gibt es Noise-Bands, die mit endlosen Drones und tiefem Basswummern eine Art psychedelisches Nirwana ansteuern.
Reed: Ja, es gibt jetzt den Kontext, den ich damals schmerzlich vermisst habe. Wir sind mit dem Metal Machine Trio vor Kurzem im Sydney Opera House im Rahmen eines Festivals aufgetreten, das Laurie Anderson und ich kuratiert haben. Da spielten Noise--Bands wie Bardo Pond, Boris und Melt Banana – und wir mittendrin. Niemand war der Meinung, dass unsere Musik konfrontativ oder abstoßend wäre. 1975 dagegen gab es in der Rockszene keinen Platz für solche Klänge. Ich selbst hatte natürlich einen anderen Background als durchschnittliche Rockmusiker. Ich kannte die Minimal Music von La Monte Young, ich kannte Free Jazz: John Coltrane, Cecil Taylor. Der Fehler war wohl, dass wir die Platte in ein typisches Rock-Cover gesteckt hatten. Damit erzeugten wir eine Erwartungshaltung und enttäuschten sie dann. Ich glaube, es gibt in der gesamten Geschichte der Rockmusik kein Album, das eine so hohe Rückgaberate hatte wie dieses. Jeder, der es gekauft hatte, wollte es sofort wieder loswerden.

Lou Reed, der eben noch schläfrig und desinteressiert wirkte, ist plötzlich wieder präsent. Die Erinnerung an seine größte künstlerische Niederlage und seine späte Rehabilitation beflügeln ihn. Reeds Karriere stand zum jeweiligen Zeitgeist tatsächlich oft quer: Die Band Velvet Underground, mit der er die Rockmusik revolutionierte, löste sich wegen schlechter Plattenverkäufe und mangelnden Erfolgs schon in den frühen siebziger Jahren auf. Erst in den folgenden Jahrzehnten wurde sie zum Kult und zum Rollenmodell für Hunderte schlechtgelaunte, drogenabhängige Indiepop-Musiker.

profil: Sie waren in den siebziger Jahren vor allem als klassischer Songwriter bekannt – durch Ihre Arbeit mit Velvet Underground, aber auch als Solokünstler. Und Sie hatten mit „Walk on the Wild Side“ einen veritablen Hit. „Metal Machine Music“ war somit wohl das, was in der Branche als kommerzieller Selbstmord bezeichnet wird.
Reed: Ich sah das völlig anders. Ich fand, das sei die perfekte Platte für Gitarrenfreaks. Keine störenden Stimmen oder Worte – nur Gitarrenspuren in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die zu einem Turm übereinandergeschichtet wurden. Doch die Antwort des Publikums war Nein. Es gab sogar Leute, die danach nie wieder ein Wort mit mir sprachen. Dabei bin ich heute noch der Meinung, dass dies ein Rock’n’Roll-Album ist und kein akademisches Werk. Ich habe nie etwas Akademisches gemacht.

profil: „Metal Machine Music“ mag ein Extrem gewesen sein. Doch ungewöhnliche Gitarrentechniken und andere Extravaganzen gehörten von Beginn an zu Ihrem Repertoire. Woran orientierten Sie sich? Die Gitarrenhelden der Sixties hießen ja Barney Kessel oder Kenny Burrell, alles Jazzer, die sauber und unverzerrt Skalen spielten.
Reed: Mein Vorbild war Ornette Coleman. Ornette, Ornette, Ornette! Ein Saxofonist! Ich sah Ornette, wie er mit Don Cherry „Lonely Woman“ spielte. Oh, mein Gott! Es gab damals keinen Gitarristen, der mich interessierte. Die Leute begannen gerade erst, die Rückkoppelung, das Feedback als kreative Möglichkeit des Gitarrespielens zu entdecken. Das war meine Sache! Daran arbeite ich bis heute. Wie kann man ein Feedback einsetzen, ohne es unfreundlich, schmerzhaft, hässlich klingen zu lassen? Ich habe Jahre gebraucht, um das herauszufinden. Inzwischen kann ich wohlklingende Rückkoppelungen erzeugen, kann einen Song mit Feedback spielen und alle quietschenden, kreischenden Geräusche vermeiden. Ich habe halt 30 Jahre dafür gebraucht.

profil: Sie spielen also heute besser Gitarre als früher?
Reed: Auf jeden Fall! Aber ich war auch damals schon kein Stümper.

Lou Reed hat sich gerade erst warm gesprochen. Der Manager schiebt sich in den Vordergrund und klopft auf seine Armbanduhr. Lou müsse gehen, sofort, wohin auch immer. Einwände zwecklos. Mit sichtbarer Anstrengung bewegt der Rockstar seinen Körper in die Vertikale. Man möchte ihm unter die Arme greifen, doch das gehört sich nicht. Ein Fürst der Finsternis muss in jeder Lebenslage selbst wieder auf die Beine kommen – oder er bleibt gleich für immer liegen. Lou Reed verlässt das Lokal mit vorsichtig tastenden Schritten, beinahe unbemerkt. Kein einziger Blick folgt ihm.