Europas neue Front

Mali: Europas neue Front

Nordafrika. Mali droht zum Afghanistan der EU zu werden

Drucken

Schriftgröße

Es war Donnerstagmittag vergangener Woche, als sich die EU zu einem für ihre Begriffe nahezu überstürzt anmutenden Handeln entschloss: Ihre Außenminister segneten die Entsendung von 450 Militärberatern und Soldaten nach Mali ab, um die dortigen Regierungstruppen für den Kampf gegen Islamisten zu trainieren.
Schon „Ende Februar oder Anfang März“ sollen die ersten Ausbildner im Sahara-Staat eintreffen, erklärte EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton.
Zu diesem Zeitpunkt lieferten sich französische Truppen bereits sechs Tage lang blutige Gefechte mit Dschihadisten-Milizen, die im März 2012 die Kontrolle über den Norden Malis übernommen hatten und nun im Begriff waren, bis zur Hauptstadt Bamako vorzustoßen.
Gleichzeitig eskalierte in der Wüste Algeriens eine Geiselnahme westlicher Arbeiter auf einem Gasfeld in In Amenas, darunter auch ein Österreicher, durch eine Splittergruppe der Al Kaida. Freitag vergangener Woche, am dritten Tag des Kidnappings, zogen algerische Sicherheitsbehörden eine erste vage Bilanz: Rund 600 Geiseln befreit, Dutzende weiterhin vermisst. Der Österreicher befand sich zu diesem Zeitpunkt nach Angaben des Außenamts in Wien bereits in Sicherheit. Die Terroristen seien nach wie vor auf dem Gelände des Gasfelds, hieß es, und es gebe Dutzende Tote.

Tummelplatz bewaffneter Gruppierungen
Während in Brüssel noch darüber sinniert wurde, wo die europäischen Militärberater ihren Schulungsaufgaben am besten nachkommen können, ohne in Kämpfe verwickelt zu werden, war längst eines klar: Die EU wird immer weiter in einen Kriegsschauplatz hineingezogen, der zwar mehr als 1000 Kilometer Luftlinie von ihrer Außengrenze entfernt liegt, aber dennoch gefährlich nahe ist – und wohl auf Jahre hinaus nicht so einfach befriedet werden kann.
Ob sich der Konflikt weiter verschärft und dabei zur chronischen Bedrohung mutiert, wird am Vorgehen der Europäer liegen. Dennoch ist die europäische Staatengemeinschaft wieder einmal weit davon entfernt, geschlossen vorzugehen. Man ist froh, dass sich die Ex-Kolonialmacht Frankreich dort engagiert. Abgesehen davon hält man sich in der Angst, selbst zum Ziel des Terrors zu werden, mit der Terrorbekämpfung in Nordafrika lieber zurück. Frankreichs Botschafter in Österreich, Stéphane Gompertz, scheiterte bisher etwa daran, der Regierung seines Gastlandes auch nur das geringste Hilfsangebot abzuringen – nicht einmal ein Termin mit Verteidigungsminister Norbert Darabos wurde ihm gewährt (siehe Interview: "Österreich könnte mithelfen").
Und das, obwohl gleichzeitig die Befürchtung umgeht, dass für Europa ein eigenes Afghanistan in Nordafrika heranwachsen könnte. Tatsächlich erinnern manche Aspekte der dramatischen Entwicklungen in Mali und Algerien an das Desaster am Hindukusch.

Es war seit Monaten nicht zu übersehen gewesen, dass sich im westlichen Teil der Sahara eine Krise mit potenziell weit über die Region hinausreichenden Auswirkungen zusammenbraut. Über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg war die lebensfeindliche Abgelegenheit der Wüste zum Tummelplatz bewaffneter Gruppierungen geworden: Religiöse Extremisten, die von der algerischen Regierung gejagt wurden, fanden ab den 1990er-Jahren dort Zuflucht, Räuber- und Schmugglerbanden sind ohnehin seit jeher heimisch – und nicht immer waren die einen exakt von den anderen zu trennen. So richtig wahrgenommen wird das ­außerhalb der Region allerdings erst, seit eine der ­Milizen im Jahr 2007 einen neuen Namen annahm. Hatte sie sich bis dahin etwas sperrig „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) genannt, wollte sie nunmehr „Al Kaida im islamischen Maghreb“ (AQIM) heißen. Für internationales Auf­sehen sorgte sie in der Folge vor allem durch die Entführung westlicher Touristen – darunter 2008 zwei ­österreichische Touristen.

Die Verwendung des Markennamens Al Kaida versetzte letztlich alle Beteiligten in eine Win-win-Situation: die Islamisten, weil sie dadurch Zulauf und Spendengelder bekamen; ihre Gegner in der algerischen Regierung, weil umgehend die USA mit großzügiger Militärhilfe auf den Plan traten. In der Folge metastasierte die AQIM in mehrere bewaffnete Gruppen, die wiederum mit sezessionistischen, gegen Malis Regierung kämpfenden Tuareg konkurrierten.

Frankreich greift ein
Im vergangenen Frühjahr spitzte sich die Lage zu: Tuareg, die sich aus der Erbmasse des zerfallenen Gaddafi-Regimes in Libyen mit modernen Waffen eingedeckt hatten, übernahmen gemeinsam mit Islamisten die Kontrolle im Norden Malis – und wurden in der Folge von den religiösen Extremisten verdrängt, die sofort die Scharia einführten. Das bitterarme und zugleich kulturell enorm vielfältige Sahara-Land war damit in zwei Teile zerbrochen.
Und Europa: zeigte sich alarmiert, konnte sich aber trotz wiederholter Warnungen aus Frankreich zu keiner schnellen Reaktion entschließen – nur dazu, Ausbildner für die malische Armee abzustellen, angekündigt zunächst für den September 2013.

Das mag die Islamisten dazu angestachelt haben, möglichst rasch Tatsachen zu schaffen. Um den 11. Jänner unternahmen sie einen überraschend schnellen Vorstoß in Richtung von Malis Hauptstadt Bamako. Das war für Frankreich das Signal, unilateral einzugreifen. „Die Regierung in Paris hatte ein Zeitfenster von vielleicht 24 Stunden“, sagt ein westlicher Diplomat gegenüber profil: „Hätte sie es nicht für eine Militäroperation genutzt, wäre Bamako wohl in die Hände der Fundamentalisten gefallen“ – und mit der Stadt auch Tausende dort lebende französische und andere EU-Staatsbürger.
Noch wenige Wochen zuvor hatte Frankreichs Staatspräsident François Hollande versichert, er werde bestimmt keine Kampftruppen nach Mali abkommandieren. Dennoch mochte ihm niemand den Vorwurf machen, aus Abenteuerlust gehandelt zu haben, im Gegenteil: Die heimische Opposition verzichtete zunächst auf Kritik wegen des Schwenks, Großbritannien und Deutschland sagten Unterstützung zu, die Westafrikanische Union zeigte sich erfreut, die malische Regierung atmete auf, und sogar Algerien und Marokko bekundeten ihr Einverständnis durch die Erteilung von Überfluggenehmigungen für französische Kampfjets.
Laut Hollande freilich sollte der Einsatz mit dem Codenamen „Operation Serval“ zügig und präzise drei Ziele erreichen: die terroristischen Angriffe stoppen; Bamako und die dort lebenden mehreren tausend Franzosen sichern; und schließlich die territoriale Integrität Malis wiederherstellen.
Eine schöne Illusion.

Niemand kann genau sagen, über wie viele Kämpfer die verschiedenen bewaffneten islamistischen Gruppen in der Region verfügen. Sicher ist aber, dass sie derzeit ausreichend Geld und Waffen haben und in dem riesigen Gebiet höchst mobil sind. Dieses terroristische Potenzial „zu zerstören“, wie Hollande ankündigte, kann nicht in einigen Wochen gelingen. Gänzlich aussichtslos jedoch ist der Plan, den Norden Malis unter die Kontrolle der malischen Armee zu bringen. Diese ist zur Zeit quasi inexistent, ihre von den USA trainierten Elite-Einheiten sind bei erster Gelegenheit zum Feind übergelaufen.

Jahrelange militärische Präsenz
Der deutsche Ex-Generalinspektor Klaus Naumann sagte vergangene Woche in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, man könne Mali erst wieder verlassen, „wenn eine demokratisch gewählte Regierung die Kontrolle über das ganze Staatsgebiet mit eigenen Kräften und Aussicht auf Erfolg sicherstellen kann“.
Mit anderen Worten: Mali benötigt vermutlich für viele Jahre fremde militärische Präsenz.

Spätestens da beginnen die Probleme. Frankreichs Ruf als ehemalige Kolonialmacht ist denkbar schlecht. Die Errichtung einer Militärbasis in Mali würde als neuer Anspruch auf Kontrolle des Landes interpretiert. In Afrika reagiert man auf solche Tendenzen verständlicherweise sehr empfindlich.
Die de facto bestehende Teilung Malis in einen schwarzafrikanisch regierten Süden und einen von den Tuareg beanspruchten Norden ist auch durch demokratische Wahlen nicht aufzuheben. Die sezessionistische „Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad“ (MNLA) wird auch eine von Frankreich verordnete Einheit des Landes nicht ohne Weiteres akzeptieren.
So könnte sich Frankreich in Konflikte verstricken, mit denen es eigentlich gar nichts zu tun haben möchte, und dabei permanent zum bevorzugten Ziel von Al-Kaida-Gruppen werden.

Das A-Wort
Einige dieser Umstände erinnern fatal an die Intervention in Afghanistan, die 2001 mit dem klaren Ziel der Auslöschung des Terrornetzwerks der Al Kaida und des Sturzes der Taliban-Herrschaft begann. Der Kampf gegen islamistische Terroristen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ist nicht zu Ende, die Taliban sind längst nicht entmachtet, und die Vorstellung, afghanische Truppen könnten den westlichen Plan demnächst in Eigenregie zu Ende führen, hält der Realität nicht stand.
Ein Krieg gegen den Terror, eine Al-Kaida-Bande als Feind, ein riesiges, unwirtliches Territorium als Schauplatz: Wird die Sahara also doch Europas ­Afghanistan? In Frankreich begann die Opposition Mitte vergangener Woche bereits nachzufragen. Jean-François Copé, Parteichef der Konservativen, wollte im Parlament wissen, wie die Kriegsziele präzise formuliert seien und ob man wohl die Lehren aus dem Krieg am Hindukusch gezogen habe.

Manches spricht gegen einen direkten Vergleich: zum Beispiel, dass der radikale Islamismus in Afghanistan gesellschaftlich stark verankert ist. Die Taliban rekrutieren sich vorwiegend aus der dominierenden Volksgruppe der Paschtunen und genießen dort auch entsprechenden Rückhalt. Die schwarzafrikanischen Einwohner von Mali pflegen hingegen einen vergleichsweise entspannten Umgang mit religiösen Vorschriften – etwa was den Konsum von Alkohol und das Musizieren betrifft. Die meisten Tuareg wiederum stehen in keinerlei muslimischer Tradition und können damit auch wenig anfangen. Es ist auch nicht bei allen islamistischen Gruppierungen völlig klar, ob ihre religiösen Motive echt sind oder nur vorgeschoben.

Während die Taliban in Afghanistan häufig ihre angestammten, relativ überschaubaren Territorien verteidigen, treiben in der Sahara vor allem hochmobile Milizen ihr Unwesen. Sie sind einerseits in der Lage, große Distanzen binnen weniger Stunden zu überwinden, Ansiedelungen überraschend anzugreifen und schnell zu erobern – andererseits aber auch eher bereit, sie ohne allzu viel Widerstand wieder aufzugeben. Das heißt, ein Guerillakrieg in Mali dürfte völlig anders verlaufen als am Hindukusch: weniger verlustreich, gleichzeitig aber viel dynamischer und unübersichtlicher.
Allerdings erinnert die Herangehensweise und Erwartungshaltung jener westlichen Staaten, die Frankreich nunmehr unterstützen, fatal an die Fehler der USA und der NATO in Afghanistan. Dort wie da herrschte die naive Vorstellung, das Problem innerhalb vorgegebener staatlicher Territorien lösen zu können. Währenddessen hat die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan für die Taliban ebenso wenig Bedeutung wie jene zwischen Mali, Algerien und anderen Sahara-Staaten für die AQIM.
Es ist auch damit zu rechnen, dass die Islamisten in der Sahara umso mehr Zulauf internationaler Dschihadisten bekommen, je länger der Konflikt dauert.

Immer öfter fällt nun das A-Wort. Frankreichs Oppositionschef Jean-François Copé warnte im Parlament: „Wir müssen die Lehren aus Afghanistan ziehen!“ In einem Kommentar der „Neuen Zürcher Zeitung“ wurde eine dieser afghanischen Lektionen zitiert: Streitkräfte seien „alleine mit der Bekämpfung von Terrorismus überfordert“. Genüsslich ziehen die malischen Terroristen selbst den Vergleich: „Das hier in Mali wird schlimmer als Afghanistan“, dröhnte Omar Hamaha, der Führer der Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (Mujao).
Europa ist gut beraten, diese Warnung ernst zu nehmen.

Infobox

Die Islamisten
Die „Al Kaida im islamischen Maghreb“ (AQIM) besteht hauptsächlich aus algerischen Fundamentalisten, die bis 2007 unter dem Namen „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) Anschläge verübte und sich dann – nicht zuletzt aus propagandistischen Überlegungen – zumindest formell Osama Bin Laden unterstellte. Der Gruppierung dürften einige hundert Bewaffnete angehören, die ihre Operationen unter anderem durch die Entführung westlicher Touristen finanzieren; damit soll sie in den vergangenen Jahren mehr als 100 Millionen Dollar ergaunert haben. 2008 hielt die AQIM etwa monatelang ein aus Salzburg stammendes Ehepaar gefangen, das bei einer Fahrt durch die tunesische Wüste gekidnappt und verschleppt worden war. Derzeit sollen sich bis zu neun europäische Geiseln in der Gewalt der Gruppe befinden. Angeführt wird die AQIM von Abdel Malek Droukdel, ihre exakte Führungsstruktur ist aber ­unklar.
Die Gruppe Al-Muwaqiun bi-l Dam („Die mit dem Blut unterschreiben“), die nunmehr für den Überfall auf das BP-Gasfeld von In Amenas in Algerien verantwortlich sein dürfte, spaltete sich im vergangenen Dezember von der AQIM ab. Sie wurde von dem Islamisten Mokhhar Belmokhtar kommandiert, einem altgedienten Kämpfer mit Afghanistan-­Erfahrung, der nicht nur gute Kontakte zu internationalen Dschihadisten unterhält, sondern durch mehrere Heiraten auch zur lokalen arabischen Bevölkerung und den Tuareg. Belmokhtar ist unter mehreren Spitznamen bekannt: „der Einäugige“, seit er in den 1990er-Jahren bei einem Gefecht mit dem algerischen Militär verwundet wurde; „Marlboro-Mann“ wegen seiner Rolle im Zigarettenschmuggel durch die Sahara; „den Unfassbaren“ nennt ihn der französische Geheimdienst angeblich, weil er bislang jedem Versuch widerstand, seiner habhaft zu werden. Belmokhtar wurde bereits mehrfach totgesagt, etwa im vergangenen Sommer und nun beim Angriff auf In Amenas.

Die Mujao („Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika“) ist ebenfalls aus der AQIM entstanden, an ihrer Gründung sollen aber auch Drogenbarone aus der Region um Gao im Osten Malis beteiligt gewesen sein. Sie rekrutiert sich vermutlich aus Mauretaniern und Angehörigen anderer Nationalitäten, die nach Spannungen innerhalb der von Algeriern dominierten AQIM im Jahr 2011 eine eigene Fraktion bildeten. Die Mujao ging in der Vergangenheit vor allem gegen die Tuareg-Nationalisten der MNLA und andere Sezessionistengruppen vor. Sie vertritt offiziell das ambitionierte Ziel einer weltweiten Einführung der Scharia.
Die Ansar al-Dine („Helfer des Glaubens“) besteht aus islamistisch geprägten Tuareg und Berbern, die eine Art lokale Schutzmacht für die Fundamentalisten der AQIM bilden. Das Verhältnis der beiden Gruppen dürfte jenem der Taliban und Osama Bin Ladens Al Kaida in Afghanistan entsprechen. Auffällig wurde Ansar al-Dine allerdings erst nach dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi, in dessen Sold viele ihrer Mitglieder gestanden waren und sich dabei mit modernen Waffen ausgerüstet hatten. Nachdem die Gruppe Anfang 2012 im Norden Malis die Macht übernommen hatte, führte sie im Namen der Scharia Körperstrafen wie Auspeitschungen und Amputationen ein und zerstörte eine Reihe historischer Grabstätten, die sie als unislamisch ansah.

Die Nationalisten
Die MNLA („Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad“) ist eine nicht religiös geprägte Tuareg-Bewegung, die im Norden Malis einen eigenen Staat – den Azawad – errichten will. Sie kontrollierte zeitweise die Städte Gao und Kidal und kooperierte dabei anfangs mit den Islamisten, zerkrachte sich aber bald und wurde von den religiösen Fundamentalisten vertrieben. Mit der Ansar al-Dine unterhält die MNLA aufgrund von Verwandtschafts- und Stammesbeziehungen eine Art Nichtangriffspakt. Ähnlich strukturiert wie sie ist auch die FLNA („Nationale Front für die Befreiung des Azawad“), eine arabisch dominierte Sezessionistengruppierung.

Die Volksgruppen-Milizen
Die Gruppierung Ganda Koy („Herren der Welt“) ist als Selbstverteidigungsmiliz der Volksgruppe der Songhai entstanden, die in Westafrika rund 4,5 Millionen Angehörige zählt, und wird als solche für Übergriffe gegen die Tuareg verantwortlich gemacht. Eine ähnliche Rolle spielt die Bewegung Ganda Izo („Söhne des Landes“) für die mehr als eine Million Menschen umfassenden Fulbe.