"Man spürt es, oder man spürt es nicht"

Die Geschichte einer tragischen Ermittlung

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Das vorläufige Ende der Causa Natascha Kampusch hat in den Reihen der zuständigen Polizisten Erleichterung ebenso wie Bestürzung ausgelöst. Mehr als acht Jahre lang hatten die Beamten ihre Ermittlungen nie ganz eingestellt und immer wieder neue Anläufe unternommen. Zuletzt wurden vor kaum zwei Wochen Grabungen durchgeführt. In der Anfangsphase der Fahndung, die damals unter höchstem Druck der Öffentlichkeit durchgeführt wurde, waren bis zu 500 Polizisten, Donauschiffe, Spezialtaucher, Hundestaffeln, Helikopter mit Wärmebildkameras und alles andere eingesetzt worden, was irgendwie verfügbar war und vertretbar schien. Das Land wollte Natascha wieder in Sicherheit wissen. Und die Polizei wollte das Mädchen finden. Mit allen Mitteln.

Und nun das: Natascha flüchtet nach acht Jahren aus eigener Kraft und bittet eine Nachbarin, die Polizei zu verständigen. Und das mitten in einem von Fahndern durchkämmten Gebiet wenige Kilometer vor Wien. Zudem mussten die erfolglosen Beamten auch noch hinnehmen, dass es sich mit Wolfgang Priklopil um einen Täter handelt, den die Fahnder schon bald nach dem Verschwinden des Kindes beinahe „geschnappt“ hatten – freilich ohne es zu wissen. Sie hatten mit ihm gesprochen, seinen weißen Kastenwagen begutachtet, aber nichts Ungewöhnliches entdeckt. „Das ist jetzt natürlich eine traumatische Situation für die Polizei“, meint ein Beamter.

Der Verlauf einer der größten Fahndungen der Zweiten Republik zeigt die Grenzen polizeilicher Ermittlungsmöglichkeiten auf und legt offen, was passieren kann, wenn von falschen Annahmen ausgegangen wird. Ernst Geiger, mittlerweile wegen des Verdachts des Geheimnisverrats in der so genannten Sauna-Affäre vom Dienst suspendiert (er steht diese Woche deswegen vor Gericht), war die ersten Jahre als leitender Kriminalist mit der Suche nach Natascha Kampusch betraut, bevor der Fall im Jahr 2002 einer eigens dafür gegründeten Sonderkommission überantwortet wurde. Heute spricht Geiger aus, was allgemeine Überzeugung war: „Wir sind davon ausgegangen, dass Natascha tot ist. Dass sie lebt, hätten wir als Letztes vermutet.“ Es gebe weltweit kaum Fälle, in denen Entführungsopfer so lange überlebten. Weil die Täter häufig gewalttätig sind; weil wenn sich ein Opfer durch Hilferufe bemerkbar machen will oder zu fliehen versucht, sie zum äußersten Mittel greifen. Eine Ausnahme stellen diesbezüglich bloß kinderlose Frauen dar, die Kinder entfüh-ren, um die Mutterrolle zu übernehmen.
Weil niemand mehr damit rechnete, dass Natascha noch leben könnte, beging die Exekutive einen entscheidenden Fehler: Es wurde eine Leiche gesucht. Und die sucht man anders als ein lebendes Kind.
Es gebe nichts Schwierigeres, so Geiger, als Ermittlungen in einem „bedenklichen Abgängigkeitsfall“. Dahinter könne Freiwilligkeit ebenso stecken wie ein Verbrechen; und im Fall Natascha hätten kaum brauchbare Ermittlungsansätze und keine Spuren existiert. Es gab keinen eindeutig identifizierbaren Tatort, der Rückschlüsse zugelassen hätte; keine Kontaktaufnahme durch einen Täter, der Lösegeldforderungen gestellt hätte; kein Zeichen, keine Nachricht, gar nichts. Geiger: „Als Erstes war da die so genannte Ungarn-Spur.

Natascha hätte im ungarischen Rotlichtbereich missbraucht werden können. Manche Indizien deuteten in Richtung der eigenen Familie. Sehr viele Sexualdelikte werden innerhalb von Familien begangen. Doch bald habe man eine Beteiligung der Familie ausgeschlossen.“
Der einzige echte Ansatz stammte von einem zwölfjährigen Mädchen. Es wollte gesehen haben, wie Natascha in einen weißen Kastenwagen gezerrt wurde. 700 weiße Kastenwägen in ganz Österreich wurden überprüft – doch nur oberflächlich.
Auf einen bestimmten weißen Kleinbus exakt aus Strasshof war telefonisch ein anonymer Hinweis bei der Polizei eingegangen. Zudem hatte auch ein Wiener Ehepaar angegeben, zum Zeitpunkt von Nataschas Verschwinden einen weißen Bus am Rennbahnweg gesehen zu haben, dessen Kennzeichen jenes von Gänserndorf gewesen sein müsse. Das G im Kennzeichen sei jedenfalls sicher.

Zwei Volltreffer, die von der Polizei nicht erkannt wurden.
Etwa zwei Wochen nach Nataschas Verschwinden wurden auch Wolfgang Priklopil und dessen weißer Kastenwagen überprüft. Im Fahrzeug habe sich Schutt von Umbauarbeiten am Haus befunden, der Besitzer ist polizeilich noch nie aufgefallen. Ernst Geiger: „Was hätten wir tun sollen? Wir können nicht ohne konkreten Verdacht 700 Hausdurchsuchungen beantragen und überall die Keller aufstemmen. Das hält der Rechtsstaat nicht aus.“

Wie sind dann aber unauffällige, methodisch vorgehende Täter ausfindig zu machen? Bei Menschen, die noch nie etwas angestellt haben und sich auch durch ihr Verhalten bei einer Befragung nicht verraten, stoße man an die Grenzen der Ermittelbarkeit, meint Geiger resignierend. Wohl verdächtigt hatte man im Zuge der Massenüberprüfungen den Fahrer eines weißen Busses aus Graz, weil er als vorbelastet identifiziert wurde. Der Mann hat vor vielen Jahren ein Kind entführt und getötet. Solche Anhaltspunkte gab es bei Wolfgang Priklopil aber eben nicht.
Dennoch gab es im Fall des tatsächlichen Natascha-Entführers mit dem weißen Bus zwei konkrete Hinweise. Außerdem hätten es die Beamten als verdächtig einstufen können, dass in einem damals kaum sechs Jahre alten Bus für Personentransport Bauschutt befördert wurde. Hat man aber nicht. Geiger: „Da kommt es auf das Gespür für den Anfangsverdacht an. Keine Fahndungstechnik kann das. Es ist wie im Fernsehkrimi: Man spürt etwas, oder man spürt es nicht. Letztlich ist man als Kriminalist auf Zufälligkeiten angewiesen.“ Im Fall Natascha, dessen Lösung die Beamten vor mehr als acht Jahren, ohne es zu wissen, schon recht nahe waren, haben die Ermittler nichts gespürt. Geiger: „Das ist sehr, sehr unbefriedigend.“