Neues Album von Bruce Springsteen

Maria ist wieder da

Der Boss findet zurück zu seinen Wurzeln

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Das erscheint im Zusammenhang mit einem Mann, in dessen Karriere es an Superlativen nicht mangelte, als eine gewagte Aussage – dennoch: Von den zwölf Songs auf „Devils & Dust“ ist nicht einer weniger als auf großartige Weise richtig, endgültig, perfekt. Es klingt, als habe Bruce Springsteen beschlossen, dass er nun der Rockmusik keine neuen Facetten (und kein weiteres Getröte) hinzufügen muss, sondern sich das Beste aus allen Epochen zu Eigen machen darf. Und so ergänzt er wie nebenbei das Great American Rock Songbook um zwölf neue Lieder: mit musikalischen Mitteln, die seinen Songs und ihrer Disposition zu einer Zeiten und Trends überdauernden Gültigkeit gerecht werden, weil er sich bei Sounds bedient, die das auf archaische Weise auch sind: gültig, seit immer und ewig, eingemeißelt in die Annalen der amerikanischen Musiktradition.
Springsteen sucht und findet seine Inspirationen beim Südstaaten-Blues, in den klassenkämpferischen Road-Songs von Woody Guthrie, in den Country-Vermächtnissen von Hank Williams, in jenen Archiven voller ungeborgener Traditionals, in denen auch Tom Waits, Steve Earle, Bob Dylan, Wilco oder Calexico gerne wühlen. Und aus dem, was Springsteen dort fand, formte er wunderbare Melodien mit Western- und Steel-Gitarren, Banjos und mexikanischen Bläsern und fasste sie, gemeinsam mit einer Hand voll zurückhaltender Musiker und dem Produzenten Brendan O’Brien, in präzise Arrangements, die der literarischen Qualität seiner Shortstory-Songs eine weitere Ebene hinzufügen, sie fühlbar, begreifbar machen – manchmal auch, indem er seine Stimme in bei Springsteen bislang ungekannte Dimensionen vordringen lässt, wie in dem überraschenden „All I’m Thinkin’ About Is You“, das vor allem in der Live-Version des Bonus-Videos stark anrührt.
Springsteen braucht keine Angst zu haben, sich lächerlich zu machen. Er ist jetzt 56 und hat, seit seinem 1973er-Album „Greetings from Asbury Park, N. J.“ Abermillionen von Platten verkauft, dutzende von Stadien gefüllt, die Covers von „Rolling Stone“, „Time“ and „Newsweek“ geziert; er ist in zweiter Ehe mit der schönen Sängerin Patti Scialfa verheiratet und hat drei Kinder – Springsteen braucht nichts mehr zu beweisen, und indem er es nicht mehr tut, zeigt er seine beste Seite.
Auf seinem vorigen Album „The Rising“ (2002) beschäftigte er bedauerlicherweise erneut die E-Street-Band, eine herzlose Kombo von Springsteen-Haberern aus seinen New-Jersey-Anfängen der frühen siebziger Jahre, die im Laufe der Jahrzehnte zahllose brillante Springsteen-Songs erbarmungslos ruiniert hat. Nun aber ist Bruce Springsteen, Nebraska, wieder da.
„Nebraska“, Springsteens sechstes Album aus dem Jahr 1982, versöhnte die E-Street-Hasser unter den Fans des Songwriters: Hier entsprach die unbehauene und unprätentiöse musikalische Form endlich ganz der Sensibilität von Springsteens Texten. Man konnte ihn endlich hören. Man konnte endlich verstehen, worum es in seinen Songs geht: um Menschen, denen die Welt um die Ohren fliegt und die nach Orientierung suchen. Denn das ist es, was Springsteen von fast allen Rockern seiner Ära und musikalischen Provenienz so vehement unterscheidet: Er hat was zu sagen. Er hat ein Thema. Er hat ein Anliegen. Und: Er fühlt sich verantwortlich.
Den Faden von „Nebraska“ spannte Springsteen erst 1994 mit dem Oscar- und Grammy-prämierten „Philadelphia“ weiter, dem Titelsong des gleichnamigen Films von Jonathan Demme. 1995 folgte sein an Geschichten und Charakteren von John Steinbeck angelehntes, leises und anrührendes Album „The Ghost of Tom Joad“. Und genau dort, beim politischen und sozialen Engagement, bei den Geschichten von ganz normal unterprivilegierten Menschen, knüpft Springsteen mit den Songs von „Devils & Dust“ wieder an. Und auch Maria ist wieder da, die metaphorische Maria, Springsteens wichtigste Frau, sein wiederkehrendes Sinnbild für Sehnsucht, Erfüllung und Heimat.
„Die interessanten Leute sind immer die Leute, an denen irgendetwas nagt“, sagt Springsteen auf der sehenswerten Bonus-DVD zu „Devils & Dust“. – „Sie wissen nicht immer genau, was es ist. Die Charaktere auf diesem Album suchen alle ihren Weg durch dieses Problem, manche einigermaßen erfolgreich, andere finden ein tragisches Ende.“

Schau hin! Springsteen, das macht ihn zu einem Guten, dokumentiert mit jedem neuen Album seine Haltung, dass Gesellschaftskritik noch einen Sinn hat. Dass es wichtig ist, an den Zuständen zu rütteln. Gegen Türen zu klopfen. Jemand was vor die Nase zu halten. Zu sagen: Schau hin!
Schau hin, sagt der Titelsong „Devils & Dust“. Besser: Springsteen schaut stellvertretend für sein Publikum hin, er versetzt seine Zuhörer in einen Soldaten im Irak, und was er sieht, ist Angst, Verzweiflung und der Verlust allen Halts: „Ich habe Gott an meiner Seite, ich versuche nur zu überleben. Aber was ich tue, um zu überleben, zerstört alles, was ich liebe. When I look inside my heart, there’s just devils and dust.“ Es ist nicht nur, was er singt. Es ist auch, wie er es singt: Angst, Verzweiflung, Haltlosigkeit.
Springsteen zeigt mit „Devils & Dust“ erneut, was Kunst abseits von Unterhaltung zu leisten vermag: Sie kann das Unvorstellbare zugänglich, vorstellbar, fühlbar, begreifbar machen. Sie kann Empathie und Mitgefühl erzeugen, den Wunsch auslösen, etwas zu unternehmen.
Das bringt den Künstler allerdings auch ins Dilemma. Denn Springsteen wird gern vorgeworfen, dass einer, der auch mit Geschichten über mexikanische Flüchtlinge und Highway-Polizisten reich, sehr reich geworden ist, doch gar nicht in der Lage sei, sich glaubhaft einzufühlen in die Lebensumstände und Schicksale von Asylanten und Obdachlosen, von Soldaten oder von Kindern, die ihre Mütter auf der Flucht verloren haben. Aber die Charts und die Bestsellerlisten sind nun mal nicht voll von musikalischen oder literarischen Berichten von Veteranen und Asylanten und Tagelöhnern, die ihr Leben, ihre Ängste und Sorgen nachvollziehbar machen könnten. Springsteen tut es – weil er es kann, und kaum einer, Bob Dylan und Steve Earle eingeschlossen, kann das besser als er.
„Deine eigene Stimme muss sich auflösen in der Stimme der Person, über die du singst und die dir ihre Geschichte erzählt“, sagt Springsteen auf der DVD. „Du musst es fühlen: Was würde diese Person tun, was würde sie nicht tun, wie würde sie sich unter bestimmten Umständen benehmen. Und wie ist der Rhythmus ihrer Rede – und daraus ergibt sich die Musik.“

„Boycott the Boss“. Mit diesem Engagement macht sich Springsteen nicht nur Freunde. Im Gegenteil: Viele seiner Fans aus jener Zeit, als Springsteen im Rahmen der „Born in the U.S.A.“-Tour die Stadien füllte, sind ihm längst abhanden gekommen. Sie haben allerdings seit jeher Springsteens Patriotismus, der stets liberal, kritisch und demokratisch war, missverstanden und reagierten deshalb im vergangenen Jahr, als Springsteen anlässlich der „Vote for Change“-Künstleroffensive offen für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry ein- und auftrat, nicht nur enttäuscht, sondern beleidigt. In der Gegenkampagne „Boycott the Boss“ wurde dazu aufgefordert, keine Springsteen-Platten mehr zu kaufen und seine Songs nicht mehr zu spielen.
„Devils & Dust“ lässt sich deshalb durchaus auch mit Springsteens Enttäuschung über die Wiederwahl von George W. Bush und den immer noch nicht beendeten Irak-Krieg erklären: Springsteen hat keinen Grund mehr, seine „Born in the U.S.A.“-Fans mit einem Rock-Album zu versöhnen. Keine Wir-schaffen-das-schon-Parolen mehr. Springsteen scheint am Ende seines patriotischen Verantwortungsbewusstseins angekommen zu sein: Seine jahrelange Überzeugungsarbeit hat nichts gefruchtet, nun kann er genauso gut zu den Bekehrten predigen. Und so wie Springsteen auf dem Video zur CD entspannt in einem heruntergekommenen Wohnzimmer sitzt und auf einer total abgeschrabbelten Akustikgitarre und mit Mundharmonika fünf seiner neuen Songs spielt, kommt ihm das offenbar nicht ungelegen.
„Man schreibt immer aus seinem eigenen inneren Kern heraus, egal, wo man gerade ist“, sagt Springsteen zwischen zwei Liedern. Da, wo er mit „Devils & Dust“ gerade ist, ist er offensichtlich zu Hause: „It’s been a long time comin’“, heißt es in einem der optimistischeren Songs des Albums. „It’s been a long time comin’, but now it’s here.“ Ja, das ist es. Hoffentlich noch lange.

Von Doris Knecht