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Martin Puntigam Bam, Oide

Bam, Oide

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Rummel um seine Person ist für einen Ginkgobaum an sich nichts Neues. Immerhin ist der sommergrüne Chinese der einzig rezente und somit letzte Vertreter in der Ordnung der Ginkgoales und wurde im Jahr 2000 in Deutschland nicht bloß zum Baum des Jahres oder des Jahrzehnts gekürt, nein, gleich des ganzen Jahrtausends. Als also am 10. Juli dieses Jahres neben einem solchen Gewächs in West New York, New Jersey, in der Bergenline Avenue zwischen der 60. und 61. Straße laut Augenzeugen angeblich die weltberühmte Muttergottes landete, hat der sympathische Spermatophyt die Fotosynthese zunächst einmal nicht unterbrochen.

Als danach aber jeden Tag immer mehr Menschen kamen, eine Wiederholung des überirdischen Besuchs herbeisehnten und den Hauptwohnsitz des Ginkgobaums großräumig zu einem Wallfahrtsort umbauen wollten, bat die bedrängte Grünpflanze um Polizeischutz. Und bekam ihn auch. Kolportierte 1000 Dollar gibt die Stadtverwaltung seitdem täglich aus, um den Baum vor seinen Verehrerinnen und Verehrern zu schützen sowie den Verkehr rundherum, immerhin steht der Baum auf einer stark befahrenen Straße, die bisher fast ausschließlich für säkulare Zwecke genutzt wurde.

Woher weiß man überhaupt, dass es sich in New Jersey um eine Marienerscheinung handelt? Immerhin gibt es in West New York nicht viel mehr zu sehen als einen Ginkgobaum mit einer verheilten Rindenverletzung. Noch dazu weist die Narbe Ähnlichkeiten mit den Umrissen einer Vagina auf, was in diversen Internetforen allerlei einschlägigen Spott hervorruft. (Und in der Tat gibt es auch bei uns noch immer zahlreiche Aufzugkabinen, in deren Seitenwand jemand AUTO geritzt hat, ohne dass dadurch gleich eine Marienerscheinung daraus wurde.)

Manche Einheimische von West New York gehen trotzdem von einem Gastspiel der Gottesgebärerin aus. Weil erstens der Baum in Wirklichkeit eine Rindenverletzung nicht in Form einer Vagina, sondern vielmehr einer Muttergottes hat, und zwar in der in Mexiko sehr populären Variante "Unsere Liebe Frau von Guadalupe“. Zweitens hat die im Himmel für Marienerscheinungen zuständige Sachbearbeiterin ihren Außendienst selber bestätigt. "I am the virgin“, soll sie einer Verehrerin gesagt haben. Selbstverständlich in der Landessprache, das ist ein Service, den die Jungfrau Maria bei ihren Visiten regulär anbietet. Ursprünglich konnte sie, falls sie jemals gelebt hat, zwar vermutlich nur Aramäisch und war wohl Analphabetin, aber nach der Himmelfahrt hat sie die Zeit offenbar für umfangreiche Sprachstudien genutzt.

Das Besondere am Bild "Unserer Lieben Frau von Guadalupe“ ist, dass es sich nicht nur um ein Porträt der Gottesmutter handelt, sondern sie ist dabei auch noch "von der Sonne umkleidet“, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt. Was für Ahnungslose in einer abstrakten Form - wie am Ginkgobaum in West New York - aussehen mag wie eine Vulva.

Falls es sich aber tatsächlich um eine Marienerscheinung der mexikanischen Spielart der Muttergottes handeln sollte, wäre es eine spektakuläre Erscheinung, denn dann müsste man von einem Doppelwunder ausgehen: einer Marienerscheinung in Tateinheit mit einem Sonnenwunder. So etwas gab es schon einmal, vor knapp hundert Jahren in Portugal, und schon damals war es ein Riesenerfolg für die Veranstalter.

Im Jahr 1917 erschien auf einem Feld bei Fatima die Gottesmutter drei Hirtenkindern sechsmal hintereinander, jeweils am 13. des Monats. Als am 13. September die Fangemeinde bereits nennenswert war, kündigte die Mutter Jesu für 13. Oktober eine Flug-Show an, mit pyrotechnischen Special FX, mithin ein Sonnenwunder mit Ansage. Fernsehen war damals eher noch nicht weit verbreitet, schon gar nicht in Portugal am Land, also fand sich eine gewaltige Menschenmenge ein, dem Vernehmen nach etwa 30.000 Menschen, und die sahen genau das, was angekündigt war, nämlich ein Sonnenwunder. Nicht schlecht.

Wunder sind Ereignisse, die im Widerspruch zu den Naturgesetzen stehen oder nicht durch diese erklärt werden können. Und wenn die Sonne am Himmel zu rotieren, herumzuhüpfen und zu tanzen beginnt, und ein paar tausend Menschen sehen das, und zwar genau deshalb, weil die Muttergottes ihnen dieses einen Monat davor in einem "Save the date“ verraten und sie auf die Gästeliste gesetzt hat, dann kann und muss man mit Fug und Recht von einem Wunder sprechen. Denn Rotieren, am Himmel Herumhüpfen und Tanzen ist physikalisch für die Sonne nicht vorgesehen. Wenn sich die Sonne so benähme, hätte das für die Erde erhebliche Konsequenzen.

Begänne die Sonne zu rotieren, dann würde sie aktiver, das bedeutet, die Sonnenwinde würden stärker. Das hieße zwar mehr Nordlichter, vielleicht sogar in Äquatornähe, aber im Weiteren auch deutlich mehr Strahlenbelastung auf Erden. Das ist für Mensch und Tier nicht gesund. Bei einem Sonnentänzchen würde die Erdbahn sich verändern, was sehr interessante Auswirkungen auf die Jahreszeiten hätte, je nachdem, in welchem Rhythmus getanzt würde.

Falls sich die Sonne für Hin- und Herspringen entschiede, wäre die Erde aufgrund der Gravitation gezwungen mitzuspringen. Das allein wäre schon aufregend, darüber hinaus ginge das aber vermutlich für die Atmosphäre, die nicht weiß, dass jetzt gleich gesprungen wird, zu schnell, und sie würde sich nicht von der Stelle rühren.

Sie merken, ein Sonnenwunder wäre sein Geld wert. Allein, in Fatima haben die Menschen zwar eine rotierende, tanzende und springende Sonne erlebt, aber nicht die Nebenwirkungen.

Gläubige Menschen werden möglicherweise sagen: Genau darin besteht das Wunder, weniger gläubige werden eher nach einer plausibleren Erklärung suchen. Die gibt es natürlich auch, und sie bringt die erste Enttäuschung: Es hat auf der Welt schon sehr viele Sonnenwunder gegeben - aber es gab noch nie eins in der Nacht. Was deutlich beeindruckender wäre.

Das Tolle an Sonnenwundern: Sie sind gratis, weltweit erhältlich, und jeder kann sie ganz leicht selber erleben.

Was braucht man dafür? Mindestens eine Sonne und einen Himmel, sonst funktioniert es nicht, und der Himmel muss mit Dunst oder Wolkenschleier überzogen sein. Die Sonne ist zwar wirklich weit von der Erde weg - Fachleute sprechen von einer mittleren Entfernung von knapp 150 Millionen Kilometern -, aber direkt in den Stern hineinschauen, wenn er unverschleiert am Himmel steht, sollten Menschen nur dann, wenn sie gerne ihr Augenlicht verwirken möchten. Bei diesigem Wetter hingegen, etwa im Herbst, beispielsweise um den 13. Oktober, sind die Voraussetzungen für ein Sonnenwunder ideal. Das direkte Hineinschauen in die Sonne ist dann zwar möglich, allerdings trotzdem nicht sehr angenehm, weil die Strahlungsmenge noch immer beträchtlich ist.

Aus neurophysikalischer Sicht passiert Folgendes: Durch die Verschleierung ist das Sonnenlicht abgeschwächt, unsere Augen versuchen ihm aber bei direktem Blickkontakt trotzdem noch auszuweichen. Sie bewegen sich hin und her, man spricht von einer autokinetischen Bewegung, und dadurch scheint die Sonne zu hüpfen oder sich zu drehen. Tatsächlich handelt es sich aber nur um eine optische Illusion, eine subjektive Wahrnehmung, die sich auf unserer Netzhaut und in unserem Gehirn abspielt. Nicht die Sonne tanzt, sondern unsere Augen. Und weil jeder seine Augen anders abwendet, schaut ein Sonnenwunder auch für jeden oder jede anders aus.

Das war auch damals in Fatima so. Dort blickten ein paar tausend Menschen bei passendem Wetter und in Erwartung eines Wunders, was das Eintreten desselben noch erheblich wahrscheinlicher macht, in die Sonne und erlebten einen autokinetischen Effekt. Die Sonne scheint allerdings nicht nur über Fatima, sondern auch anderen Weltgegenden, und dort registrierte niemand eine tanzende Sonne.

Bitte zurücktreten, es gibt hier nichts zu sehen.

Nach allem, was wir heute wissen, gibt es Sonnenwunder, wie sie die katholische Kirche auch offiziell anerkennt, nicht, auch wenn selbst Papst Pius XII. im Jahr 1950 vier Stück davon persönlich in Rom erlebt hat, bezeichnenderweise Ende Oktober/Anfang November. Und auch Marienerscheinungen sind mit den Naturgesetzen, wie sie Wissenschafter seit Galileo Galilei beschreiben und auf deren Basis die gesamte moderne Zivilisation funktioniert, nicht vereinbar.

Das sah auch ein Vertreter der örtlichen Filiale der katholischen Kirche in West New York ein wenig so, der den Baum allen Ernstes begutachtete, dabei aber keinen Besuch der Mutter seines Chefs erkennen konnte. "We’re hopeful that even though this is just a knot in a tree, it will spark people to examine themselves and find a deeper understanding of their faith“, tastete sich der Funktionär der dortigen Erzdiözese vorsichtig durch dieses Minenfeld des Aberglaubens.

Marienerscheinungen werden traditionell eher in ländlichen Gebieten mit viel bäuerlicher und nicht alphabetisierter Bevölkerung anberaumt, in denen das Umwidmen von Ackerland in Baugrund von der Wertschöpfung her noch attraktiv ist, wie in Medjugorje oder seinerzeit in Fatima oder Lourdes.

West New York hingegen ist gut erschlossen, die Bevölkerung kann mehrheitlich lesen und schreiben, ab Juni 2013 soll dort sogar in unmittelbarer Nachbarschaft des inkriminierten Ginkgobaums jedes Jahr ein Formel-1-Grand-Prix durch die Hafengegend führen, entlang des Hudson River, vor der Skyline von Manhattan, dem Straßenrennen von Monte Carlo nicht unähnlich.

So wird der Ginkgobaum mit eingebauter Marienerscheinung vermutlich nur ein Sommerlochphänomen des Jahres 2012 bleiben, denn wo und warum man Hotels, Kathedralen und Parkplätze für die Pilgerbusse bauen sollte in einer Gegend, in der Immobilien heute schon teuer sind, weiß kein Mensch.

Ganz abschreiben sollte man die Ginkgobäume aus der Bergenline Avenue aber vielleicht doch nicht. Derartige Rindenverletzungen sind nämlich alles andere als selten, in derselben Straße kann man schon heute an weiteren Bäumen umstandslos noch andere Heiligenkonterfeis entdecken, wenn man unbedingt möchte. Und am Donnerstag, dem 13. Juni 2013, wären mit Beginn des Rennwochenendes unter Garantie jede Menge Kameras anwesend, um eine weitere Rinden-Epiphanie extensiv und breitenwirksam dokumentieren zu können.

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