Vom Hören sagen

Vom Hören sagen

Medien. Als Nachrichten getarnte Verschwörungstheorien drängen aus dem Internet in den Mainstream

Drucken

Schriftgröße

Manchmal ist das Wesentliche für die Augen leider unsichtbar. Zum Beispiel in Oslo, vor allem in den letzten Tagen. Zum Glück durchschaute Paul Joseph Watson, Blogger und Radiomoderator aus Austin, Texas, im Gegensatz zu allen beteiligten Behörden die Hintergründe von Anders Breiviks Wahnsinnstat sehr schnell, auch wenn sie ziemlich kompliziert waren. In groben Zügen lief die Sache, Watson zufolge, so: Über eine vom britischen Geheimdienst MI5 infiltrierte rechtsradikale Hooligantruppe namens English Defence League wurde Breivik von hochrangigen britischen Politikern und Geschäftsmännern finanziert und instruiert, um Norwegen auf diesem Weg für seine allzu palästinenserfreundliche Nahostpolitik abzustrafen. Belege anbei. Auch ein Einfluss der libyschen Al Kaida sei denkbar, müsse aber noch näher untersucht werden.

Das Online-Forum, in dem Watson seine Sicht der Osloer Anschläge erläuterte, heißt Prison Planet, sieht aus wie ein ganz normaler Nachrichtenkanal und verbreitet doch sehr viel mehr, nämlich die reine, letzte und geheime Wahrheit. Also das, was die etablierten Medien offensiv verschweigen, Politiker bewusst verbergen und konspirative Cliquen hinter dicken Polstertüren zurechtbiegen. Dass diese Wahrheit irgendwie mit dem Ende der Welt (wie wir sie kennen) zusammenhängt, wird dabei gern betont (ohne dabei allzu konkret zu werden) und mit Werbebannern für Wasser-Entgiftungsanlagen, Überlebenscamps und krisensichere Goldmünzen auch marketingmäßig sehr anschaulich aufbereitet. Das eigentlich Seltsame an Prison Planet ist aber nicht seine krude Mischung aus Verschwörungstheorie, Infotainment und blankem Wahnsinn, sondern die Tatsache, dass es sich um ein Massenmedium handelt. Und dass es keineswegs allein da draußen ist.

Im Internet hat sich in den letzten Jahren eine Art Hintergrundrauschen ausgebreitet, ein immer dichteres Netz aus verschwörungstheoretisch unterfütterten Nachrichten, Filmen und Dokumenten, das längst nicht mehr nur Paranoiker und Ufo-Gläubige einfängt, sondern zunehmend den ganz normalen Medienkonsumenten im Visier hat. Über populäre Seiten wie Prison Planet, Infowars oder Zero Hedge, millionenfach heruntergeladene Filme wie die „Zeitgeist“- oder „Loose Change“-Videos, über amerikanische Talkradio-Shows oder internationale Nachrichtenkanäle wie den konspirativ veranlagten Sender Russia Today erreichen Verschwörungstheorien heute ein Massenpublikum. Auch die etablierten Medien können sich dem Reiz der Geheimniskrämerei immer schlechter entziehen. Vor wenigen Tagen berichtete das ARD-Kulturmagazin „ttt“ geradezu euphorisch über den deutschen Publizisten Mathias Bröckers, der eine Verschwörung hinter den Anschlägen des 11. September 2001 wittert. Wohlwollender Off-Kommentar: „Auch zehn Jahre nach den vier tödlichen Flügen, nach dem Tag, der die Welt, unser Denken, unsere Ängste veränderte, gibt es noch viele offene Fragen. Mathias Bröckers stellt sie.“ Und macht damit ein richtig gutes Geschäft.

„Man darf nicht vergessen, dass Verschwörungstheorien meistens auch gut gemachte Unterhaltung sind“, sagt der Freiburger Amerikanist Michael Butter, der seit Jahren zum Thema forscht. „Sie erzählen tolle, spannende Geschichten, wobei man oft nicht genau trennen kann, wo die Wahrheitssuche endet und wo die Geschäftemacherei beginnt. Man darf Verschwörungstheorien jedenfalls nicht damit abtun, dass man sagt: Das sind ein paar irre Paranoiker am Rande der Gesellschaft. Im Gegenteil: Es handelt sich um Massenphänomene.“ Dementsprechend erfolgreich werden obskurante Thesen für einen wachsenden Markt aufbereitet und immer unverschämter auch in die politische Debatte geworfen. Im republikanischen US-Vorwahlkampf wird, angeheizt von den verschwörerischen Thesen der prominenten Talkshow-Moderatoren Glenn Beck und Alex Jones sowie dem Anti-Establishment-Furor der Tea Party, schon seit Monaten allen Ernstes darüber diskutiert, ob Barack Obama nun wirklich und wahrhaftig Amerikaner sei oder nicht vielleicht doch ein ausländischer, mutmaßlich islamistischer Verschwörer. Ein zweites, europäisches Beispiel: Vor wenigen Wochen outeten sich etliche Schweizer Politiker als 9/11-Skeptiker. Auf der Online-Plattform www.911untersuchen.ch äußerten gleich mehrere Nationalräte ihre Zweifel an der offiziellen Version von den Anschlägen in New York und Washington. Der ehemaligen Berner Regierungsrätin Dori Schaer¬ fiel dazu der folgende Beitrag ein: „Offen ist, ob 9/11 nur benutzt, bewusst nicht vermieden oder sogar durch US-Stellen inszeniert worden ist.“

Neben politischen und ökonomischen Interessen hat die gegenwärtige Verschwörungs-Hochkonjunktur aber auch eine mediale Säule, eben das Internet. Denn wirklich neu ist das Phänomen nicht, wie Michael Butter erklärt: „In den sechziger und siebziger Jahren gab es dieselben Theorien und wohl auch dieselbe Menge an überzeugten Verschwörungstheoretikern. Nur taten sie sich damals wesentlich schwerer, ihre Thesen an den Mann zu bringen.“ Im Netz dagegen fallen die traditionellen Kontrollinstanzen weg, das publizistische Ethos funktioniert online nicht oder nach ganz anderen Regeln, die Grenze zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt, die Informationsflut wird undurchsichtiger. In diesem Umfeld werden Verschwörungstheorien als regierungskritischer Bürgerjournalismus oder „Alternativer Journalismus“ verkleidet und von „Presseagenturen“ wie dem französischen Alter Info (das mit Vorliebe iranische Propagandabotschaften und Hisbollah-Kommuniqués unter seine Meldungen streut) oder „Nachrichtenkanälen“ wie Infowars verbreitet. Obskure Spinnereien bekommen den Anschein von seriösem Expertenwissen, verbreiten sich in atemberaubender Geschwindigkeit und gewinnen allein schon durch ihre massenhafte Präsenz an Glaubwürdigkeit – ein sich selbst verstärkendes Hörensagen, das auch von der antiautoritären Grundverfasstheit des Internets profitiert, derzufolge das Establishment schon einmal a priori verdächtig ist. Den Soundtrack zum „Truth Movement“ liefern regierungskritische Musiker wie der Wiener Rapper Kilez More, die Werbung für einschlägige Nachrichtenseiten erfolgt per Graffiti. Verschwörung ist auch Popkultur.

In diesem Rahmen verdeckt die Frage „Wem kann man noch glauben?“ leider eine viel wesentlichere, nämlich: „Was sollte man eigentlich wissen?“ Der Politologe Peter Filzmaier erkennt darin ein Symptom von „erschütternd geringer Mediennutzungskompetenz: Viele Leute erkennen den Unterschied zwischen seriöser Berichterstattung und obs¬kuren Verschwörungstheorien schlicht nicht.“ Kein Wunder: Wenn auch in seriösen Medien Information und Entertainment zunehmend zum Infotainment verschwimmen, wenn sich Wissenschaftssendungen mit Ufos und Atlantis beschäftigen und politische Talkshows über islamistische Verschwörungen debattieren, erscheinen auch abstruse Konzepte wie eine von Freimaurern, Illuminaten, jüdischen Bankiers und der Bilderberg-Gruppe angestrebte „Neue Weltordnung“ nicht mehr ganz so abstrus.

Dazu kommt, dass neuere Verschwörungstheorien an ihren vernünftigeren Enden durchaus anschlussfähig für eine rationale Gesellschaftskritik sind. Dass der ehemalige US-Vizepräsident Dick Cheney aufgrund seiner engen Verbindungen zur Rüstungsindustrie auch private Interessen in den Irakkrieg schickte, liefert ebenso begründeten Anlass zu weiterführender Spekulation wie die enge Allianz zwischen US-Politik und Wall Street nach der Bankenkrise 2008. Michael Butter: „Was Verschwörungstheorien verbindet, ist, dass sie in mehr oder weniger verzerrter Form auf echte oder wahrgenommene soziale Probleme hinweisen, zum Beispiel auf ein wachsendes Misstrauen gegenüber der amerikanischen Politik. Auch deshalb sollte man sie durchaus ernst nehmen.“ Der Vietnamveteran, Ex-Wrestler und ehemalige Gouverneur von Minnesota Jesse Ventura, Star der vom US-Kabelsender TruTV ausgestrahlten Reihe „Conspiracy Theory“, garniert seinen soeben auf Deutsch erschienenen Bestseller „Die amerikanische Verschwörung. 9/11 und andere Lügen“ denn auch mit einem Zitat von Albert Einstein: „Blinder Glaube an die Obrigkeit ist der schlimmste Feind der Wahrheit.“

Der schlimmste Feind der Vernunft wiederum ist die Angst. Zum Glück können Verschwörungstheorien auch diese verringern – oder zumindest in geordnete Bahnen lenken. Es mag schrecklich sein, von unbekannten Mächten kontrolliert und getäuscht zu werden, aber eben nicht ganz so schrecklich wie die Vorstellung, dass ein 32-jähriger Psychopath nicht daran gehindert werden kann, in einer guten Stunde 68 Menschen zu erschießen. So etwas kann nicht wahr sein, also muss mehr dahinterstecken. So wie es auch nicht wahr sein kann, dass kein Staatschef, kein Zentralbanker der Welt ein echtes Rezept gegen die Kreditkrise hat. So hilflos kann die Politik doch nicht sein. Also muss sie lügen. Verschwörungstheorien bieten Erklärungen an, schließen Zufälle aus und verringern so die Angst vor dem Chaos. Alles hängt mit allem zusammen, und das hat alles schon seine Ordnung so.

Weniger klar ist die ideologische Ordnung hinter der Verschwörungsaufdecker-Szene. Auf die These, dass hinter den Anschlägen vom 11. September ein Regierungskomplott steckt, können sich amerikanische Rednecks und Schweizer Grünpolitiker, antisemitische Norweger und New Yorker Globalisierungskritiker gleichermaßen einigen. Wo alles auf undurchschaubare Weise mit allem zusammenhängt, wo 9/11, Bankenkrise, Waffenlobby, Freimaurer, Klimawandel, Islamismus und Grippeepide¬mien Teil derselben Verschwörungsszenerie sein können, kann es auch zu seltsamen Allianzen kommen. Die Welt der Verschwörer ist eine Scheibe, die sich so rasend schnell dreht, dass rechts und links schwer voneinander zu unterscheiden sind. Der Freiburger Experte Michael Butter: „Verschwörungserzählungen schaffen Kollektive, von denen man sich zunächst gar nicht vorstellen kann, wie sie zusammenkommen konnten. Wenn man konkreter hinsieht, erweist sich aber die Schlüssigkeit dieses Prinzips: In dem gleichen Grundgerüst können, mit kleinen Veränderungen an den entsprechenden Scharnieren, rechte wie linke Ideologien andocken.“ Auch die wahrste Wahrheit muss schließlich interpretiert werden. Bleibt es bei der Interpretation, stellt das nur ein intellektuelles Problem dar. Dass es dabei bleibt, ist leider gar nicht so sicher. Der deutsche Historiker Wolfgang Wippermann hat diesbezüglich jedenfalls Bedenken: „Wir unterschätzen die Wirksamkeit von Verschwörungsideologien. Dieses Denken ist gefährlich, denn Ideologie ist nicht nur falsches Bewusstsein, sondern auch ein Indikator von realen politischen und historischen Vorgängen. Das wird verwirklicht.“
Andererseits: Das ist der CIA bestimmt schon längst bewusst. Und die hat schließlich ihre Mittel.

Mitarbeit: Stephanie Schüller

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.