Chronobiologie: Die innere Lebens-Uhr

Medizin: Die Lebens-Uhr

Rhythmische Vorgänge in unserem Organismus

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Wenn andere Menschen in den Tiefschlaf sinken, ist Betsy Thomas schon wieder hellwach. Die 76-jährige Pensionistin aus Salt Lake City, US-Bundesstaat Utah, steht täglich um 2.00 Uhr Früh auf und beginnt, ihre Tagesarbeiten zu verrichten. Dafür geht sie schon zu Bett, wenn der Rest der Stadt gerade zu Abend isst. Betsy Thomas lebt mit einer Art lebenslänglichem Jetlag. Ihr Biorhythmus ist um gute vier Stunden verschoben. Insgesamt 19 weitere Verwandte – verteilt über vier Generationen – teilen ihr Schicksal.

Die Ursache für dieses Phänomen fanden Wissenschafter der University of Utah erst vor Kurzem im Erbgut von Betsy Thomas. Im Vergleich zu anderen Menschen ist bei ihr ein so genanntes „period-Gen“ verändert, dadurch gerät ihre innere Uhr durcheinander. Bei anderen Frühschläfern suchten die Forscher die fragliche Gen-Variante hingegen vergeblich.

Inzwischen wissen die Vertreter der noch jungen Forschungsrichtung Chronobiologie mit ziemlicher Sicherheit: Es muss viele „Uhren-Gene“ im menschlichen Organismus geben, kleine Rädchen, die das gesamte innere Uhrwerk steuern. „Es gibt klare Beweise dafür, dass die innere Uhr des Menschen für Gesundheit und Krankheit eine außerordentliche Rolle spielt“, fasst Björn Lemmer, Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Heidelberg, den aktuellen Forschungsstand zusammen: Asthma, Bluthochdruck, bestimmte Tumore, Arthritis und sogar die Neigung zu extremem Übergewicht könnten die Folge von Rhythmusstörungen sein, die – früh genug erkannt – auch vorbeugend geheilt werden könnten. Selbst bei konventionellen Behandlungen mit Medikamenten könnte das Augenmerk auf den richtigen Zeitpunkt der Einnahme Wirkungen optimieren und Nebenwirkungen reduzieren.

Die moderne Medizin betrachtet Gesundheit als Zustand vollkommenen Gleichgewichts, den es gegen schädliche Einflüsse von außen zu verteidigen gelte. Folglich werden die meisten Arzneien möglichst gleichmäßig mehrmals über den Tag verteilt dosiert in der Annahme, dass die Wirkung zu jedem beliebigen Zeitpunkt konstant ist. „Das widerspricht dem dynamischen Charakter eines lebenden Organismus, der eine Zeitstruktur aufweist“, betont Wolfgang Marktl, Physiologe an der Wiener Medizinuniversität. „Für das optimale Funktionieren eines Organismus ist nicht nur der Transport des richtigen Materials in den richtigen Mengen zum richtigen Ort notwendig, dies muss auch zur richtigen Zeit geschehen.“

Immerhin wird inzwischen bei einigen Medikamenten auf die neuen Erkenntnisse Bedacht genommen. Asthmamittel und säurehemmende Medikamente gegen Magengeschwüre beispielsweise wirken abends besser. Der morgendliche Anstieg des Blutdrucks ist zusammen mit zunehmender Aktivität am Beginn des Tages mitverantwortlich für das gehäufte Auftreten von Herzinfarkten zwischen 6.00 und 12.00 Uhr. Ärzte raten deshalb zur Einnahme von Blutdrucksenkern am frühen Morgen. Ein völlig untypisches Zeitprofil weisen dagegen Patienten mit Nierenleiden oder Diabetes auf: Ihr Blutdruck fällt nachts entweder gar nicht oder steigt sogar an. „Das erhöht deutlich das Risiko für Schlaganfälle oder Schäden an Nieren und Gefäßen“, sagt Pharmakologe Lemmer.

Welche Folgen die Missachtung des Faktors Zeit bei Nierenleiden haben kann, zeigt das Beispiel Dialyse. Elf Jahre lang begleitete ein US-Forscherteam der Emory University in Atlanta 242 Patienten, die eine regelmäßige Blutwäsche benötigten. Jeder der Probanden war zu Beginn mindestens 60 Jahre alt und wurde nach dem Zufallsprinzip einer Vormittags- oder einer Nachmittags-Dialyse zugeteilt. Das Ergebnis war alarmierend: Patienten, die jeweils vormittags zur Blutwäsche kamen, lebten im Schnitt um 471 Tage länger als die Patienten mit Behandlung am Nachmittag. „Wir nehmen deshalb an, dass die biochemischen Selbstreinigungskräfte am Morgen wesentlich stärker sind“, erklärte Studienleiter Donald L. Bliwise.

Selbst in der Krebstherapie erreichen chronobiologisch ausgebildete Mediziner mittlerweile erstaunliche Erfolge. Im Wiener Krankenhaus Rudolfstiftung wird eine neue Behandlungsvariante bei Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium erprobt. Dabei werden verschiedene Medikamente durch computergesteuerte „Melody“-Infusionspumpen nach einem speziell definierten Tagesrhythmus automatisch dann verabreicht, wenn sie dem gesunden Gewebe des Körpers am wenigsten schaden. „Das ist auch der Zeitpunkt des besten Ansprechens der Chemotherapie“, erklärt Johann Schüller, Oberarzt der Onkologie. „Dadurch können die Medikamentendosis erhöht und viel mehr Tumorzellen getötet werden.“ Die ersten Resultate stimmen positiv: Im Vergleich zur herkömmlichen Behandlung mussten weit weniger Patienten die Therapie wegen Verdauungs- oder Nervenstörungen abbrechen. Auch Mundschleimhautentzündungen traten seltener auf. Und entscheidend: „Wir haben jetzt die ersten Patienten, die vier Jahre leben“, berichtet Schüller. Ein Ergebnis, das bislang nur wenige Therapieansätze aufweisen.

Erste chronobiologische Beobachtungen gab es schon bei den alten Griechen. Aber erst im Jahr 1729 dokumentierte der französische Astronom Jean Jacques d’Ortous de Mairan, dass ein Krautgewächs unabhängig vom Sonnenlicht seine Blätter am Morgen öffnete und am Abend wieder schloss. Auch in dauerhafter Dunkelheit behielt die Pflanze diesen Rhythmus wochenlang bei.

Bunkerexperimente. Dennoch galt in den Naturwissenschaften bis Mitte des 20. Jahrhunderts das strikte Dogma, dass sich Lebewesen nur deshalb rhythmisch verhalten, weil sie auf Signale ihrer Umwelt reagieren. Einen Umschwung brachten erst die Bunkerexperimente des deutschen Pioniers der Chronobiologie, Jürgen Aschoff. In den sechziger Jahren hatte Aschoff Versuchspersonen von Tageslicht und Außenwelt isoliert, indem er sie in komfortable Laborbunker sperrte und ihr Schlaf-Wach-Verhalten beobachtete. Dabei zeigte sich, dass die Probanden ihren ureigenen Biorhythmus unabhängig vom Tageslicht beibehielten: Auch ohne Wecker standen sie in etwa zu gleichen Uhrzeiten auf, aßen ungefähr zu den gleichen Zeiten und legten sich zu ähnlichen Zeiten wieder schlafen. Allerdings pendelten sich die meisten auf einen Rhythmus von ungefähr 25 Stunden ein – ein Phänomen, das „zirkadiane Rhythmen“ (lateinisch „circa“ = etwa; „dies“ = Tag) genannt wird.

Dass es eine innere Uhr geben musste – die nicht etwa vom Mond beeinflusst wird, wie viele Menschen glauben, was von der Wissenschaft vielfach widerlegt wurde –, stand nun für Chronobiologen zweifelsfrei fest. Nur wo versteckte sie sich? Die Suche konzentrierte sich auf das Gehirn: Forscherteams entdeckten Anfang der siebziger Jahre bei Ratten kaum stecknadelgroße Nervenanhäufungen im Bereich der Nasenwurzel hinter den Augen. Wurden diese Nervenbündel der Versuchstiere zerstört, gerieten alle Tagesrhythmen – vom Blutdruck bis zur Periodik der Körpertemperatur – durcheinander. Wegen seiner Lage tauften die Forscher das Areal „suprachiasmatischer Nucleus“ (SCN), was so viel wie „Kern über dem Kreuz“ bedeutet. Doch die Hoffnung, das Zentrum der inneren Uhr gefunden zu haben, wurde bald relativiert: Bei Versuchstieren, denen der SCN entfernt wurde, stellte sich nach einiger Zeit wieder ein Rhythmus ein. Gab es etwa mehr als nur eine Uhr?

Organuhren. Mittlerweile wissen Chronobiologen, dass es nicht nur mehrere, sondern Milliarden innerer Uhren gibt: Jede Körperzelle besitzt eine, jede mit ihrem eigenen Rhythmus. Die verschiedenen Uhren sind hierarchisch organisiert – so besitzt jedes Organ seine eigene Uhrengruppe, welche die interne zeitliche Koordination regelt. In einer Art Austauschprogramm halten sich die Uhrengruppen der Körperorgane und -zellen ständig im gleichen Takt.

Ihr Herzstück sind Uhren-Gene, welche Informationen für die Herstellung von Proteinen enthalten. Von Tagesbeginn an produzieren sie so lange Proteine, bis ein bestimmter Höchstwert erreicht ist, worauf ihr langsamer Abbau eingeleitet wird. Am nächsten Morgen beginnt das Procedere dann wieder von vorn. Oberste Steuereinheit bleibt jedoch der SCN: Wie ein Dirigent gibt er den Takt vor und bestimmt den richtigen Einsatz der Instrumente. Die Oberuhr samt ihren Unteruhren arbeitet keinesfalls starr wie eine physikalische Uhr vor sich hin, sondern passt sich wie ein Regelkreis veränderten Umständen an und ist dabei äußerst lernfähig. „Das sind selbstorganisierende Rhythmen“, erklärt Pharmakologe Lemmer. „Der Körper weiß etwa um 3.00 Uhr nachts, dass der Blutdruck um 7.00 oder 8.00 Uhr ansteigen wird. Durch diesen vorausschauenden Charakter haben wir einen Überlebensvorteil.“

Nach chronobiologischen Gesichtspunkten gleicht kein Mensch dem anderen. Dennoch tendiert jeder mehr oder weniger stark zum Morgen- oder Abendtyp, ist entweder Lerche oder Eule. „Extreme sind aber selten. Die meisten Menschen sind Mischtypen“, erklärt Wolfgang Marktl, Präsident der Wiener Akademie für Ganzheitsmedizin. Lerchen sind Menschen, deren Uhr etwas zu schnell geht, ihr innerer Tag entspricht etwa 24 Stunden. Sie stehen morgens zeitig auf, fühlen sich schnell munter, nicken dafür aber abends früher ein. Eulen gehen dagegen vergleichsweise spät ins Bett, ihr Wecker klingelt aber zur gleichen Zeit wie bei den Morgentypen. Die innere Uhr von Nachtmenschen geht zu langsam, für einen Tag brauchen sie deutlich länger als 24 Stunden. Deshalb erreichen Eulen die Höchstwerte ihrer inneren Rhythmen später als Lerchen.

Die Ausprägung dieser Chronotypen beginnt bereits in der Kindheit, lediglich während der Pubertät sind die meisten Jugendlichen tendenzielle Eulen. So wird auch verständlich, warum die Mehrzahl der Teenager Schwierigkeiten hat, morgens auf Touren zu kommen. Schon seit Jahren fordern Chronobiologen, Pädagogen und Schlafforscher deshalb die Verlegung des Schulbeginns auf 9.00 Uhr. Einschlägige Studien haben nämlich gezeigt, dass sich die Leistungen erheblich verbessern, wenn der Schulstart um eine Stunde nach hinten verschoben wird.

Warnzeichen. Erst am Beginn steht die Forschung hingegen bei der Klärung der Frage, welche Rhythmusänderungen potenziell krank machend sind, ein Bereich, in dem Chronobiologen großes Potenzial vermuten. Dass Störungen der rhythmischen Koordination von Körperfunktionen als erstes Warnzeichen für eine kommende Erkrankung wahrgenommen werden können, steht für Chronobiologen fest: „Insulin wird im Körper immer neben der 24-Stunden-Rhythmik in Intervallen von etwa 15 Minuten freigesetzt. Das Erste, was bei Diabetikern verschwindet, bevor Symptome der Krankheit auftreten, ist diese pulsatile Rhythmik.“ Bei Brustkrebspatientinnen wurde beobachtet, dass sich die Hauttemperatur verändert hatte.

Seit Kurzem gerät ein weiteres Krankheitsbild in den Fokus der Chronobiologen: das zumindest in den westlichen Ländern bedrohlich zunehmende Metabolische Syndrom, ein gefährliches Gemisch aus erhöhten Risikofaktoren und Defekten, an dem in den USA schon jeder sechste Einwohner leidet. Blutdruck und Blutzuckerspiegel sind zu hoch, die Betroffenen werden extrem übergewichtig, bekommen oft schon früh Altersdiabetes, neigen zu Herzkrankheiten und krankhaftem Schnarchen mit Atempausen. Die Hinweise verdichten sich, dass das Verbindende zwischen den vielen Facetten der Krankheit eine Störung der zeitlich organisierten Stoffwechselkontrolle im Zwischenhirn ist. Offenbar hat der Körper Probleme, Phasen der Ruhe und Energiespeicherung von Zeiten der Aktivität und Nahrungsaufnahme zu trennen, so das Fazit eines von Ruud Buijs geleiteten Forschungsteams des Instituts für Hirnforschung in Amsterdam. Die Wissenschafter hoffen, die gefährliche Krankheit neben Anweisungen zu mehr Aktivität und einer kalorienreduzierten Ernährung mit chronobiologischen Therapien kurieren zu können.

Schichtarbeiter wissen, welche Folgen ein dauerhaftes Leben gegen die innere Uhr haben kann: Sie müssen aktiv sein, wenn die Uhr Ruhe diktiert. Überdurchschnittlich häufig leiden sie an Schlaf- oder Verdauungsstörungen und sind anfälliger für Depressionen. „Der Mensch ist für Schichtarbeit einfach nicht geschaffen“, warnt Chronobiologe Lemmer.

Ähnlichen Belastungen sind Menschen ausgesetzt, die regelmäßig lange Flüge über mehrere Zeitzonen unternehmen. Ihr biologischer Zeitmesser lässt sich nicht binnen kürzester Zeit wie eine Armbanduhr verstellen. In einer 2001 veröffentlichten Studie konnte der Neurobiologe Kwangwook Cho von der Universität Bristol nachweisen, dass das Bordpersonal internationaler Fluggesellschaften langfristig Einbußen in seiner Lern-, Merk- und Reaktionsfähigkeit in Kauf nimmt.

Auch einfache Fernreisende werden von den Folgen der Rhythmusstörung geplagt. Man schläft schlecht ein, ist mitten in der Nacht hellwach, tagsüber müde oder hat Probleme mit der Verdauung sowie Konzentrationsstörungen. „Es gibt kein Verfahren und kein Medikament, die das Auftreten von Jetlag verhindern oder dessen Symptome beseitigen könnten“, weiß Björn Lemmer. Die innere Uhr braucht schlicht Zeit, um sich an die Veränderungen anzupassen. Pro Zeitzone muss man einen halben bis einen Tag einrechnen, lautet die Faustregel.

Dennoch gibt es Hilfen, die zumindest eine schnellere Anpassung am Zielort versprechen. Wer etwa seine Schlafenszeit vor dem Abflug täglich um eine Stunde verschiebt, kann das Ausmaß der Zeitzonenverschiebung abmildern. „Körperliche Aktivität und helles Licht sind natürliche Mittel, damit sich die innere Uhr schneller auf die veränderten Bedingungen am Zielort einstellt“, rät Lemmer. Mittlerweile bieten einige Firmen Schirmmützen mit eingebauten Lichttherapielampen an, die auch dann Helligkeit spenden, wenn man nicht ins natürliche Licht kann: im Flugzeug oder am Arbeitsplatz.

Von Thomas Hanifle und Kurt Langbein