Medizin: Heiße Luft ums Sonnenbaden

Medizin: Heiße Luft

Seit Jahrzehnten wird vor den Gefahren gewarnt

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Michael Holick fühlt sich verunglimpft: Seine Reputation als ernst zu nehmender Wissenschafter, so klagt er, leide seit Monaten unter ständigen Angriffen der Kollegen. Seine Professur am Institut für Dermatologie an der Universitätsklinik Boston musste er auf Druck seiner Chefin aufgeben. „Ich hätte mir nie gedacht, dass mein Buch solch schreckliche Auswirkungen haben würde“, zeigt sich Holick erstaunt.

Völlig unvorbereitet auf die Aufregung wird der medienerfahrene Forscher mit dem schlohweißen Haar und dem Bergführerteint freilich nicht gewesen sein, als er Anfang Mai sein 224 Seiten starkes Buch „The UV-Advantage“ auf den Markt brachte. Schließlich begibt er sich mit dem Werk bewusst auf Kollisionskurs mit einer allgemein anerkannten Lehrmeinung der Medizin: Diese besagt, dass Sonnenstrahlung für Menschen gefährlich, weil potenziell krebserregend ist.

Holick dagegen glaubt in seinem Buch nachweisen zu können, dass die Wirkung von Sonnenlicht keineswegs so schädlich ist wie bisher angenommen, sondern in Form seiner Strahlen vielmehr die billigste und zugleich eine im Überfluss vorhandene Arznei gegen fast jedes Zivilisationsleiden zur Erde schickt. Ob Depression oder Bluthochdruck, Osteoporose, multiple Sklerose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs – gegen fast jede Menschheitsgeißel könne laut Holick vorbeugen, wer bloß oft und lang genug Gesicht, Arme und Hände der Sonne entgegenreckt. Die Häufigkeit von Brustkrebs könne durch die Befolgung seiner Ratschläge um erstaunliche 75 Prozent reduziert werden, behauptet Holick.

Die meisten Branchenkollegen reagieren heftig auf derlei medizinische Häresie. Holick erweise mit seinen Empfehlungen der „Gesellschaft einen Bärendienst“, schimpft Boni Elewski, Präsidentin der Amerikanischen Akademie für Dermatologie. „UV-Licht gilt als der bedeutendste Umweltschadfaktor für den Menschen“, sagt auch Harald Maier, Oberarzt an der Abteilung für Spezielle Dermatologie und Umweltdermatosen am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH). Maiers Schlussfolgerung ist eindeutig: „Eine gesunde Bräune gibt es nicht.“ Wenn sich die Haut unter Sonneneinfluss verdunkelt, so Maier, „ist das bereits ein Anzeichen dafür, dass sie geschädigt wurde“.

Vergangene Woche entbrannte die Debatte neuerlich, nachdem das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ Holicks umstrittene Thesen aufgegriffen hatte – just zu einem Zeitpunkt, als für Österreich die heißeste Woche dieses Jahres in Aussicht gestellt und Spitzentemperaturen von bis zu 35 Grad prognostiziert wurden.

Für den Laien ist der Zank der Experten zunächst bloß verwirrend. Denn die simplifizierende Einteilung in ein Lager der Sonnenanbeter einerseits und eines der Schattenpriester andererseits ist nicht gerade hilfreich bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie denn nun der richtige Umgang mit der Sonne tatsächlich zu bewerkstelligen ist.

Fragwürdige Argumente. Holick sei „ein smarter Bursche“, sagt der Fotodermatologe Peter Wolf von der Grazer Universitätsklinik. „Er weiß, dass er Aufmerksamkeit bekommt, wenn er gegen die allgemeine Lehrmeinung auftritt.“ Dabei schreckt Holick nicht davor zurück, seine Thesen mit nicht wirklich stichhaltigen Argumenten zu unterfüttern. Sein Versprechen etwa, dass mehr Sonnenbestrahlung indirekt zu weniger Krebserkrankungen führen könnte, basiert auf Untersuchungen an Zellkulturen in der Petrischale, die sich nur mit viel Fantasie auf den Menschen übertragen lassen.

Die meisten Dermatologen wiederum reagieren ausnehmend empfindlich auf den wissenschaftlichen Störenfried – kein Wunder, kämpfen sie doch bereits seit 30 Jahren mit allen Mitteln gegen den Kult des sommerlichen Sonnenanbetens. Der vermeintliche „UV-Vorteil“, den Holick verspricht, könne die bisherige Bewusstseinsbildung wieder zunichte machen, so die Befürchtung.

Vitaminspender. Allerdings wirken Holicks Argumente zunächst tatsächlich einleuchtend. Denn der menschliche Körper sei jedenfalls auf eine gewisse Mindestdosis Sonnenlicht angewiesen. Wenn er die nicht bekommt, kann die Haut kein Vitamin D produzieren. Dieses jedoch ist notwendig, um den Kalzium- und Phosphathaushalt in Ordnung zu halten. Störungen in diesem Bereich machen die Knochen poröse und brüchig, Kinder können an Rachitis erkranken, und auch Dickdarmkrebs wird durch einen Vitamin-D-Mangel begünstigt.

So weit befindet sich Holick noch im Einklang mit der allgemein gültigen Lehrmeinung. Allerdings: Dieses Problem ist vorwiegend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts virulent gewesen, erklärt der Krebsarzt Heinz Ludwig vom Wiener Wilhelminenspital. Damals mussten viele Menschen in dunklen Kellerlöchern leben und arbeiten. „Häufiger Dickdarmkrebs bei älteren Menschen und Rachitis bei Kindern waren eine Folge“, berichtet der Mediziner. Seither haben jedoch verbesserte Wohn- und Arbeitsbedingungen, die Fünftagewoche und Urlaubsanspruch das Problem des Lichtmangels weitgehend aus der Welt geschafft, meint Ludwig: „Die Menschen haben mehr Freizeit und sind einfach viel mehr im Freien als früher.“

Michael Holick argumentiert indes in seinem Buch, dass nun schon seit Jahren die von Dermatologen geschürte Angst vor zu viel Sonnenstrahlen mittlerweile viele Menschen so sehr in Sorge versetzt hätte, dass manche sich bereits freiwillig wieder zurück ins ungesunde Dauerdämmerlicht verkrochen hätten.

Die Empfehlungen der Majorität der Hautexperten klingen tatsächlich drastisch: Zwischen 10 und 16 Uhr sollte laut den aktuellen britischen und australischen Empfehlungen niemand ins Freie gehen. Die österreichische Krebshilfe gibt sich nur wenig moderater: Sie empfiehlt, das direkte Tageslicht zwischen 11 und 15 Uhr zu meiden. Wer wirklich zur Mittagszeit hinausmuss, solle das nur mit dreifachem Schutz durch langärmelige Bekleidung, dick aufgetragene Sonnencreme und Kopfbedeckung wagen. Halb nackten Sonnenanbetern an Australiens Stränden versuchen die dortigen Gesundheitsbehörden mit Dauerkampagnen ein Sozialprestige ähnlich jenem von Alkoholikern zu verleihen.

Mangelleiden. Holick hält all dies für absurd. „Eine Sonnencreme mit Schutzfaktor 15 führt dazu, dass die Haut fast kein Vitamin D mehr produzieren kann“, so der Dermatologe. Weil sich so viele Menschen an die drastischen Empfehlungen der Hautärzte hielten, litten in den USA und weiten Teilen der westlichen Welt viele bereits unter gravierenden Vitamin-D-Mangelerscheinungen.

Folgt man den Ergebnissen bisher publizierter Studien, lässt sich diese Behauptung freilich nicht aufrechterhalten. Denn die von Holick angeführten „weiten Teile der westlichen Welt“ beschränken sich im Grunde auf Altenheime. „Bei Hochbetagten wird immer wieder ein Mangel an Vitamin D festgestellt“, sagt der Wiener Anthropologe John Dittami, der sich mit den Auswirkungen von Licht auf den Menschen beschäftigt. „Das liegt daran, dass die Fähigkeit der Haut zur Vitaminsynthese mit dem Alter nachlässt. Außerdem kommen diese Menschen vielfach nicht mehr oft genug ins Freie.“ Die Ernährungsgesellschaften von Deutschland, Österreich und der Schweiz raten betagten Menschen deshalb zu einer medikamentösen Vitamin-D-Kur von täglich zehn Mikrogramm.

Abgesehen davon „gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass es in der breiten Bevölkerung einen Mangel an Vitamin D geben könnte“, sagt Alexandra Hofer von der Österreichischen Gesellschaft für Ernäh-rung. „Die Vitamin-D-Synthese als Argument für übermäßiges Sonnenbaden zu verwenden ist wirklich blauäugig“, meint auch AKH-Dermatologe Harald Maier.

Ähnlich argumentiert dessen Grazer Kollege Peter Wolf. Der hat über Jahre hindurch Patienten begleitet, die aufgrund einer Genmutation besonders anfällig für Hautkrebs sind und deshalb jedem Sonnenstrahl aus dem Weg gehen müssen. „Bei keinem einzigen dieser Patienten konnten wir jemals einen Mangel an Vitamin D feststellen“, berichtet Wolf.

Auch Holicks These, dass breite Schichten der Bevölkerung ob der Warnungen der Dermatologen nur noch verschreckt im Dämmerlicht vegetierten, erscheint kaum haltbar. Ein Lokalaugenschein in österreichischen Freibädern während der vergangenen heißesten Woche des Jahres zeigt eher das gegenteilige Bild: Von Boden- bis Neusiedler See verzeichneten die Strandbäder regen Besuch. Auch die Bikini- und Badehosentracht der Fans beim Beachvolleyballturnier in Klagenfurt kann nicht wirklich als Hinweis auf übertriebene Sorge vor dem Strahlenbombardement aus dem heiteren Himmel gelten.

Die Sonnengefahr scheint die Österreicher in Wahrheit kaum zu kümmern. Gut ein Viertel all jener Österreicher, die ihren so genannten Haupturlaub im Ausland verbringen, tut dies in Italien. Griechenland und Spanien sind Nummer zwei und drei in der Rangliste der beliebtesten Urlaubsdestinationen. Die beliebteste Freizeitbeschäftigung dort ist jeweils der Aufenthalt am Strand, wo durch die Reflexionen der Wasseroberfläche die UV-Belastung noch einmal gesteigert wird. „Dabei kommen die Urlauber auf eine UV-Dosis, die weit über dem liegt, was etwa Bauern oder Bauarbeiter abbekommen, die das ganze Jahr im Freien arbeiten“, erklärt der Meteorologe Günther Schauberger vom Institut für Medizinische Physik der Wiener Universität für Veterinärmedizin.

Sonnensüchtig. Dass die Urlauber trotz aller Warnungen zur Sonne drängen, könnte einer jüngst publizierten Erhebung zufolge auch daran liegen, dass der menschliche Körper möglicherweise nach intensiver UV-Bestrahlung süchtig werden kann. Dies glaubt jedenfalls der US-Dermatologe Steven Feldman nachweisen zu können. Anders als Holick staunte Feldman immer wieder über die Beharrlichkeit der UV-Jünger auf Strand- und Solariumliegen. Deshalb bat er einen kleinen Trupp von Probanden, zwei Sonnenbänke auszuprobieren. Was die Versuchspersonen nicht wussten: Nur eines der beiden Geräte gab wirklich UV-Strahlung ab. Nach einer Woche wurden die vorgebräunten Testpersonen noch einmal eingeladen, und diesmal durften sie selbst wählen, auf welchem Gerät sie Platz nehmen wollten. Prompt bevorzugten 92 Prozent der Tester jenes, das wirklich UV-Strahlung freisetzte. Feldman vermutet nun, dass die Strahlung zur Ausschüttung von Endorphinen im Körper führt, die das Wohlbefinden steigern.

Leichter als der von Holick postulierte UV-Vorteil lassen sich indes die Schattenseiten der Sonne nachweisen. Zwar erreichen nur drei Prozent der gesamten abgestrahlten Energie den Erdboden in Form der kurzwelligen UV-Strahlung. Doch eine Überdosis von UV-B-Strahlen, die mit einer Wellenlänge von 280 bis 320 Nanometern in die obersten Schichten der Haut eindringen, bringen Hautzellen zum Absterben.

Sie zerstören darüber hinaus die so genannten Langerhans-Zellen, die für das Immunsystem wichtig sind. Kommt es zum Sonnenbrand, weiten sich die Blutgefäße, die Haut bekommt dadurch die charakteristische Rötung. Wer jetzt noch immer in der Sonne bleibt, riskiert überdies Schwellungen, die durch den Austritt von Flüssigkeit aus den Gefäßen ins Gewebe ausgelöst werden.

Der so entstandene Sonnenbrand wird meist als schmerzhaft, aber harmlos abgetan, doch deutet einiges darauf hin, dass die Haut – mit rund zwei Quadratmetern Fläche das größte Organ des Körpers – gleichsam ein Gedächtnis für die Verbrennung hat. Denn immer wieder passiert es beim Sonnenbaden, dass Strahlen bis in den Kern der Hautzellen durchdringen und im Erbgut Chaos anrichten. Zwar gibt es in jeder Zelle Mechanismen, die den angerichteten Schaden wieder reparieren. Auch das Immunsystem erkennt viele der getroffenen und gefährlich veränderten Zellen und zerstört sie. Doch die körpereigene Abwehr ist keineswegs unbeschränkt belastbar.

„Wenn im Verlauf des Lebens eine kritische Dosis erreicht wurde, können diese Mechanismen nicht mehr mithalten“, so Dermatologe Harald Maier. Mitunter Jahrzehnte nach dem ersten Sonnenbrand kann derart Hautkrebs entstehen. Auch der Grazer Fotodermatologe Peter Wolf warnt vor möglichen Langzeitfolgen: „Niemand kann sagen, wie viel Sonnenlicht ungefährlich ist. Es gibt einfach keinen unteren Grenzwert. Mit der Sonne muss man vorsichtig sein.“

Differenzierte Sichtweise. Michael Holick kennt diese Indizienkette gegen das Zentralgestirn natürlich auch. Während er sich in Interviews als Märtyrer der Sonne stilisiert, gibt selbst er sich zwischen den Buchdeckeln durchaus differenziert: „Ich empfehle niemandem, sich zu bräunen“, steht da zu lesen, und im Anhang finden sich Tabellen, in denen die maximal verträgliche Bestrahlungsdauer, abhängig von Hauttyp und geografischer Region, angeführt wird.

Im öffentlichen Trubel um das Buch sind derlei Zwischentöne freilich untergegangen. An Holicks Grundtenor, dass die UV-Strahlen heilsam seien, ändern sie ohnehin nichts – was seinen ersten Fans vermutlich ohnehin gelegen kam. Monate bevor „The UV-Advantage“ offiziell im Buchhandel erschien, war das Manuskript bereits erhältlich. Vertrieben wurde es von „SmartTan“ – einer amerikanischen Organisation von Sonnenstudiobetreibern.