Medizin: Verschluss-akte Blutgefäße

Medizin: Verschlussakte Blutgefäße

Über Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems

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Kaum mehr als 20 Meter hatte Josefine Ent ohne Unterbrechung gehen können. Dann schmerzte ihr linkes Bein derart, dass die Pensionistin aus Wien-Josefstadt zwei, drei Minuten rasten musste, ehe sie weitergehen konnte. Die ärztliche Abklärung ergab einen zehn Zentimeter langen Gefäßverschluss im linken Oberschenkel. „Zuerst hat es mir vorne im Schienbein wehgetan, dann hinten in der Wade“, erzählt die heute 84-Jährige. „Schaufensterkrankheit“ nennen Mediziner dieses durch Beinschmerzen erzwungene Stehenbleiben, weil viele Patienten vor Schaufenstern Halt machen und sich zum Schein für ausgestellte Waren interessieren, um auf diese Weise ihr Leiden zu kaschieren.

Vor zweieinhalb Jahren musste sich Josefine Ent einem kleinen Eingriff unter Lokalanästhesie unterziehen, einige Monate danach ein zweites Mal. Dabei wurde der Patientin mithilfe eines in die Beinarterie eingeführten Katheters ein „Stent“ gesetzt, eine Metallspirale nach Art einer Feder, die erst am Ort des Gefäßverschlusses ihre volle Größe entfaltet, um das Blutgefäß aufzudehnen und wieder durchlässig zu machen. „Heute geht es mir sehr gut“, sagt Ent, die allerdings mittlerweile auch schon Probleme mit einer verengten Halsschlagader (Carotis) hatte, welche zu einer vorübergehenden einseitigen Sehstörung führte. Deshalb ist die Patientin heute zur Kontrolle in der Ordination des Wiener Gefäßspezialisten Erich Minar, Autor eines eben erschienenen Ratgebers zum Thema Gefäßerkrankungen.

Ablagerungen. Gefäßverengungen können zu schwer wiegenden gesundheitlichen Problemen und sogar zum Tod führen. Dabei lagern sich mit dem Blut transportierte Fettpartikel an der Gefäßinnenwand ab und führen dort zu Entzündungsprozessen. „Das darf man sich aber nicht wie eine Entzündung im Rahmen einer bakteriellen Infektion vorstellen“, erläutert Gefäßspezialist Minar. „Wenn sich Partikel des ,bösen‘ LDL-Cholesterins in der Gefäßwand festsetzen, werden dadurch Entzündungszellen angelockt, die den Prozess der Atherosklerose in Gang setzen.“

Die krankhaft veränderte Gefäßwand stört den Blutfluss, es kommt leichter zur Pfropfenbildung und in der Folge zu einem Gefäßverschluss. Betrifft ein solcher das Herz, verursacht dies einen Herzinfarkt und eine Schädigung von Herzmuskelgewebe. Auch können sich Teile der sklerotisch veränderten Gefäßwand lösen und mit dem Blutfluss in ferne Körperregionen wandern. Wenn die Ablösung von krankhaftem Gefäßgewebe in der Halsschlagader auftritt, kann ein Gewebeteilchen ins Gefäßsystem des Gehirns transportiert werden, wo es einen Gefäßverschluss und den gefürchteten Schlaganfall mit Folgen von der Lähmung bis zum Tod auslösen kann.

Bei Menschen jenseits des 80. Lebensjahres sind derartige Risken im Grunde nichts Ungewöhnliches. Allerdings: Sie treten zunehmend auch bei jüngeren Patienten auf. Der Arzt rät von einer Operation der verengten Halsschlagader zumeist wegen der damit verbundenen möglichen Komplikationen ab, solange die Verengung weniger als 80 Prozent beträgt. Denn auch bei einem solchen Eingriff besteht die Gefahr, dass Teile der Gefäßwand vom Blutfluss ins Gehirn verschleppt werden und dort einen Schlaganfall auslösen. Erst wenn die Durchlässigkeit der Halsschlagader bis auf etwa 20 Prozent vermindert ist, überwiegt laut Minar der zu erwartende medizinische Nutzen das Risiko einer Operation.

Schlaganfall und Herzinfarkt sind jedem erwachsenen Österreicher bekannte Begriffe. Wesentlich geringer sind in der Bevölkerung jedoch die Kenntnisse über das eigentlich betroffene Organ, dessen Ausmaße und dessen Eigenleben. Das Blutgefäßsystem ist das mit Abstand größte Organ des Menschen und – aufgrund seiner weiten Verzweigung bis in jede kleinste Faser des Körpers – hunderte Kilometer lang. Nur die Knorpel und die Hornhaut des Auges werden nicht durch Blutgefäße, sondern durch osmotische Prozesse mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Selbst die Knochen sind – wenn auch mit Ausnahme des blutbildenden Knochenmarks nicht sehr dicht – mit Blutgefäßen durchzogen. Allein die von möglicher sklerotischer Veränderung betroffenen Gefäßinnenwände erreichen, würde man sie auf einer ebenen Fläche ausbreiten, die Größe von mehreren Fußballfeldern.

Systemleiden. Aber noch mehr als die Größe des Organs überrascht das Ausmaß des Leidens, wenn einmal Gefäßerkrankungen erkennbar werden. Denn es ist nicht eine punktuelle, sondern eine Systemerkrankung, die sich nicht bloß an einer verengten Ader im Bein zeigt, sondern nahezu überall im System. „Der Mensch ist so alt wie seine Gefäße“, zitiert der Wiener Sozialmediziner Michael Kunze einen alten medizinischen Lehrsatz. Gefäßerkrankungen sind in den Industriestaaten mit Abstand der Killer Nummer eins – weit vor Krebs. Gefäßspezialist Minar vermerkt diese Tatsache im Untertitel seines kürzlich gemeinsam mit dem Medizinjournalisten Gert Baumgart verfassten Buches*): „Die stille Gefahr fordert mehr Todesopfer als Krebs.“ Als „stille Gefahr“ bezeichnet Minar die Krankheit deshalb, weil sie sich meist lange Zeit entwickelt, ohne vom Betroffenen entdeckt zu werden, ehe sie in Form von Schmerzen oder anderen Symptomen manifest wird. Das macht die Krankheit besonders gefährlich, weil sie oft erst sehr spät erkannt wird – nämlich dann, wenn bereits eine Thrombose, also ein Gefäßverschluss, ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt eingetreten ist.

All die schwer wiegenden, häufig tödlich verlaufenden Ereignisse sind unter dem Begriff Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammengefasst. Daran starben in Österreich im Jahr 2004 laut Statistik Austria 32.486 Menschen, was 43,7 Prozent aller Sterbefälle entspricht. An Krebs verstarben im gleichen Zeitraum 19.245 Menschen, das sind 25,9 Prozent aller Sterbefälle. Auffallend ist das Ost-West-Gefälle: Während in Tirol und in Vorarlberg im Vorjahr nur 41,3 beziehungsweise 41,6 Prozent aller Sterbefälle auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen waren, waren es in Wien 45,8 Prozent (siehe auch Grafik Seite 83). Sozialmediziner Kunze führt diese Differenz auf Unterschiede im Lebensstil der Menschen zurück, die sich über die Jahrhunderte wohl auch im Genpool niedergeschlagen haben dürften. „Im Flachland machen die Menschen weniger Bewegung“, erklärt Kunze. „Im Bergland müssen sie beständig Höhen überwinden. Ein Bergbauer kann seinen Beruf nicht ausüben, wenn er übergewichtig ist.“

Wertvolle Gesundheit. Familiäre genetische Vorbelastung, Übergewicht, Bluthochdruck, hohe Blutfettwerte, Diabetes, mangelnde Bewegung und Rauchen sind die wesentlichen Faktoren, welche die Entstehung von Gefäßleiden begünstigen. Theoretisch wissen das die Österreicher, es mangelt auch nicht an guten Vorsätzen, wie Dennis Beck, Geschäftsführer des Fonds Gesundes Österreich, aus Umfragen weiß. Gut 98 Prozent der Befragten schätzen alljährlich das Thema Gesundheit wichtiger ein als Geld und Beruf. Zwischen 61 und 72 Prozent der Befragten antworteten auf die Frage „Was möchten Sie für Ihre Gesundheit tun?“ in den vergangenen Jahren mit „mehr Bewegung machen“, zwischen 50 und 68 Prozent mit „gesündere Ernährung“. Aber schon bei der Frage „Wer, glauben Sie, ist für Ihre Gesundheit verantwortlich?“ zeigt sich die Diskrepanz: 36 Prozent nannten „die Ärzte“, nur gut jeder Fünfte sagte „ich selber“. Unter den befragten Wienern waren sogar 42 Prozent der Meinung, „die Ärzte“ seien für ihre Gesundheit verantwortlich, hingegen vertraten nur 32 beziehungsweise 33 Prozent der Steirer und Kärntner diese Ansicht. 37 Prozent der Österreicher sind übergewichtig (54 Prozent der Männer, 21 Prozent der Frauen), rund zehn Prozent leiden an Fettsucht.

Die Herz- und Gefäßchirurgen sehen täglich das kumulierte Ergebnis von genetischer Vorbelastung und Lebensstil. Zu den Routineeingriffen gehören Bypass-Operationen an verengten Herzarterien. Um das Herz freizulegen, wird bei diesem Eingriff das Brustbein aufgeschnitten und der Patient an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Dann werden aus dem Ober- oder Unterschenkel des Patienten Venenstücke entnommen und als Umgehungsschläuche um die Engstellen in die Herzarterien eingenäht. Die meisten Patienten laufen schon zwei Tage nach der Operation munter durch die Gänge. Hunderte solcher Eingriffe werden an Österreichs chirurgischen Abteilungen und Universitätskliniken jährlich mit Erfolg durchgeführt.

Weniger bekannt als die Tätigkeit der Herzchirurgen ist indes die Arbeit der Gefäßchirurgen. Peter Polterauer, Vorstand der Klinischen Abteilung für Gefäßchi-rurgie an der Wiener Medizinuniversität, operiert etwa so genannte Aortenaneurysmen, ballonartige Ausweitungen der Hauptschlagader, die zu 90 Prozent an der Bauchaorta auftreten. Betroffen sind zumeist Männer über 60 Jahre. Wenn ein solches Aneurysma nicht rechtzeitig erkannt wird und durch den auf der ausgedünnten Gefäßwand lastenden Blutdruck platzt, kommt es in 70 Prozent der Fälle zum Tod durch inneres Verbluten. Bei der klassischen offenen Operationsmethode wird der Bauch vom Brust- bis zum Schambein geöffnet und der krankhaft aufgeblähte Teil der Bauchaorta durch einen eingenähten Goretex-Schlauch ersetzt. Dieser so genannte inerte Kunststoff ist mit mikroskopisch kleinen Poren und Fibrillen durchsetzt, in die Körperzellen einwachsen können, sodass das Material eine komplette Verbindung mit der Bauchaorta eingeht – und nach bisherigen Erfahrungen durchaus auch 30 Jahre hält.

Neue Techniken. Bei einer neueren, von Polterauer und seinem Team sowie von Radiologen in Wien eingeführten mini-malinvasiven Operationsmethode wird über die Leistenbeuge ein zusammengefalteter Goretex-Textilschlauch in die krankhaft aufgeblähte Bauchaorta eingeführt, durch eine eingebaute Springfeder vor Ort entfaltet und so verankert, dass das Blut nur noch durch diesen Schlauch fließt und der Druck von der ausgedünnten Gefäßwand genommen wird. Dieser im Erprobungsstadium befindliche Eingriff soll derzeit nur bei Patienten ab dem 72. Lebensjahr oder bei Hochrisiko und nur unter Studienbedingungen an Universitätskliniken durchgeführt werden.

Die zweithäufigste an Polterauers Abteilung durchgeführte Operation ist das Ausschälen der sklerotisch verengten Halsschlagader zur chirurgischen Schlaganfallprophylaxe, ein von der beständigen Gefahr eines Schlaganfalls begleiteter Eingriff, weil durch die Operation Gefäßteilchen ins Gehirn gespült werden können. Eine Reihe von protektiven Maßnahmen sowie ein laufendes Monitoring des Gehirnstoffwechsels sollen diese Gefahr so gering wie möglich halten. Zwei Drittel der Patienten sind Männer. Offenbar dauert die Nachwirkung des durch das weibliche Geschlechtshormon Östrogen ausgeübten Gefäßschutzes bis in die Menopause an. Erst nach dem 65. Lebensjahr nähert sich die Häufigkeit der bei Frauen auftretenden Gefäßkrankheiten allmählich jener der Männer, und nach dem 75. Lebensjahr sind Herzinfarkte bei Frauen genauso häufig oder sogar noch häufiger als bei den Männern.

Noch bis vor Kurzem waren die Mediziner überzeugt, bei Gefäßerkrankungen handle es sich um einen degenerativen Prozess. „Erst die Molekularbiologie hat uns gelehrt, wie die Krankheit entsteht“, sagt Minar. „Sobald wir die einzelnen, an der Krankheitsentstehung beteiligten Moleküle identifiziert haben werden, wird es möglich sein, die Entstehung der Atherosklerose zu stoppen.“

Von Robert Buchacher