Brüssels langer Arm im Reality Check

Mehr Rechte für das Europaparlament: Wie die EU zunehmend unseren Alltag bestimmt

Wie die EU zunehmend unseren Alltag bestimmt

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Von Otmar Lahodynsky und Martina Lettner

Kaum hatte Bundeskanzler Werner Faymann bei seinem Besuch in Brüssel vorvergangene Woche das Gebäude der EU-Kommission betreten, war er auch schon wieder draußen – Feueralarm im Berlaymont. Aus dem geplanten Arbeitsessen mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso im hauseigenen Restaurant wurde nichts. Doch Faymann hatte auch sonst wenig Erfolg. Auf seine Vorschläge zur Überwachung der Ostgrenzen und zur Bekämpfung der Kriminalität reagierte Barroso eher ausweichend.

Nach Wien zurückgekehrt, rief Faymann zur Teilnahme an den Europa-Wahlen auf. „Wir dürfen nicht den extremen Gruppen das Feld überlassen“, so der Kanzler. Doch wie glaubwürdig sind solche Appelle, wenn der Bundeskanzler Europa für so wenig wichtig hält, dass er der ÖVP als Gegengeschäft für den ORF-Chef die Besetzung des EU-Kommissars überlässt?

Im Wahlkampf blieben – vor allem wegen der Hetzparolen der FPÖ – die EU-Zukunftsthemen unterbewertet: Sollen die EU-Staaten eine gemeinsame Wirtschaftspolitik entwickeln, statt einzeln gegen die Krise zu kämpfen? Sollen die EU-Budgets für die Schaffung von Arbeitsplätzen umgeschichtet werden? Welche Schwerpunkte soll eine gemeinsame Außenpolitik der EU haben?

Solche Weichenstellungen sind bisher wegen der Unsicherheit über das Inkraftreten des Lissabon-Vertrags noch nicht erfolgt. Dagegen mischt die EU in immer mehr Bereichen des täglichen Lebens der 500 Millionen EU-Bürger mit: vom Einkaufen im Supermarkt über Vorschriften für den Arbeitsplatz bis zu EU-Maßnahmen im ­Gesundheitssektor oder im bisher rein national geregelten Bildungswesen. Bis zu 80 Prozent der vom Nationalrat beschlossenen Gesetze sollen auf EU-Regelungen zurückgehen.

Für den Politologen Helmut Kramer ist dies zwar „ein Mythos“, der auf einer Prognose des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors basiere. Aber Kramer betont, „dass die EU auch außerhalb der Gesetzesebene durch Vorschläge an Einfluss gewinnt“. Das neu gewählte Europaparlament erhält zudem mehr Mitentscheidungsrechte. Wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, kann es auch bei den Bereichen Justiz und Inneres und bei der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Agrarpolitik mitentscheiden.

Politiker werden sich schwerer tun, unpopuläre Entscheidungen anonymen „Bürokraten“ in Brüssel umzuhängen. Nach einem Vorschlag von Außenminister Michael Spindelegger sollen österreichische Minister künftig nach den Ratstagungen in Brüssel oder Luxemburg daheim ihr Stimmverhalten offenlegen und erklären. Damit wird die bisherige Tradition, alles Unbequeme auf die EU zu schieben und alle positiven Errungenschaften als persönlichen Erfolg zu verkaufen, wohl bald zu Ende gehen.