Die Patientinnen von Sigmund Freud

"Meine Glückstiere" - Die Patientinnen von Sigmund Freud. Wer waren Sie?

Wie arbeitete der Wiener Seelenforscher?

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Erst vergangene Woche wurde eine Gedenktafel am Wohnhaus der Pappenheims in der Liechtensteinstraße in Wien-Alsergrund angebracht, um Bertha, die Tochter des Hauses, in Erinnerung zu rufen. Ein Resultat von langwierigen Bemühungen, wie die Wiener Historikerin Gudrun Wolfgruber erzählt. Dass die 1859 in Wien geborene Bertha Pappenheim, die 1936 ihrem Krebs erlag, erst so spät in dieser Form gewürdigt wird, ist doppelt erstaunlich. Denn die Tochter eines jüdisch-orthodoxen Getreidehändlers, die sich zeitlebens der Ehe verweigerte, weil sie sich nicht auf „Kinder, Küche und Kleider“ festlegen wollte, trug Entscheidendes zur Entwicklung der wichtigsten Geistesrichtungen des 20. Jahrhunderts bei: Feminismus und Psychoanalyse.
Nach ihrer Übersiedlung von Wien nach Frankfurt 1888 wurde die jahrelang an Hysteriesymptomen leidende Bertha Pappenheim zu einer Wegbereiterin der Frauenrechte. Sie verfasste flammende Pamphlete für die Gleichstellung und lebte ihre Theorie des „Wohlfahrtsfeminismus“, indem sie Heime für Schwangere und unverheiratete Mütter ins Leben rief. 1904 gründete Pappenheim die Pionierorganisation „Jüdischer Frauenbund“. Dass der Reichskanzler Adolf Hitler die Frauenbewegung als eine durch und durch „verjudete“ Geisteszersetzung auszulöschen trachtete, war vor allem Bertha Pappenheims Verdienst. Als die Pappenheim 1909 den Weltkongress der Frauen in Toronto besuchte, wurde sie ohne ihr Wissen zum Gegenstand der Vortragsreihe eines „Conquistadorentemperaments“: Sigmund Freud, damals international bereits ein größerer Star als im eigenen Land, „tourte“ mit seinem Programm „Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen“ durch die USA. Der „Fall Anna O.“, die Geschichte einer Hysterikerin aus wohlbehütetem Haus, war ihm dabei ein zentrales Mittel, um die Entwicklung des Verfahrens zu dokumentieren, das als „talking cure“ (Redekur) oder „chimney-sweeping“ (Kaminfegen), wie die hochgradig eloquente Patientin selbst ihre Therapie bezeichnet, seinen Anfang genommen hatte. Hinter dem Pseudonym Anna O. verbarg sich Bertha Pappenheim, die zeitlebens ihre Identität als „Urpatientin“ und „Geburtshelferin“ der Psychoanalyse verschwieg. Das Paradoxe: Der Fall Anna O. gilt als entscheidende Etappe in Freuds weiterer Entwicklung, obwohl er die Hysterikerin mit den oft stürmischen Frisuren niemals persönlich kennen gelernt, sondern den Verlauf ihres Leidenswegs nur aufgrund der Erzählungen ihres behandelnden Arztes, des Freud-Förderers Josef Breuer, nacherlebt hatte.
Erst der ultraorthodoxe Freudianer Ernest Jones enthüllte in einer Fußnote in seiner Freud-Biografie aus dem Jahr 1953 die wahre Identität jenes Mädchens „von überfließender geistiger Vitalität und scharfsichtiger Intuition“, wie Freud sie in den „Studien zur Hysterie“ aus dem Jahr 1895 nannte, die er gemeinsam mit Breuer, dem Internisten der großbourgeoisen-jüdischen Schickeria, verfasst hatte.
Anna O. wurde zur frühen Kristallisationsfigur eines durchgängigen Leitmotivs in Freuds späterer beruflicher Biografie: Mehr als die Heilung der Patientinnen interessierten ihn die Ursachen ihrer Krankheit und die damit verbundenen Lebensgeschichten. Freud „brauchte“ seine Patientinnen, degradierte sie bisweilen zum „Forschungsgegenstand“ und plünderte ihre Probleme, zu deren Lösung er „einen seelischen Apparat erst finden und erfinden muss“, so Linda Salber in „Der dunkle Kontinent“, um seine eigene Unsterblichkeit voranzutreiben.

Syphiliskuren. Dass es vor allem Frauen waren, die ab 1891 zu Freud pilgerten, hing mit dem repressiven Sexualbegriff der Epoche zusammen. Während die Männer ihre Doppelmoral unter dem Deckmantel eines Kavaliersdelikts ausleben konnten und sogar bisweilen in Begleitung der gesamten Familie ihre Syphilis in Kurorten ausheilten, war für die Frauen eine erfüllte Sexualität nicht vorgesehen. Für die Historie der Psychoanalyse waren nur wenige männliche Fälle wie der „kleine Hans“ und der „Wolfsmann“ maßgeblich. Die „Melancholikerinnen wegen ihrer eigenen Unvollkommenheiten und der Unvollkommenheiten der Männer“, so der Kulturhistoriker Egon Friedell über den Prototyp der Freud’schen Patientin, flüchteten sich in „eine Art Privattheater“, wie Pappenheim es nannte. Ein Privattheater der Hysterie, in der sie die Defizite ihres Lebens in „bunte Bilder an Störungen“ (Breuer) umsetzten und so dagegen rebellierten. Dass die zeitlebens in „Oppositionslaune“ befindliche Pappenheim sich nie zu ihrer Schlüsselfunktion in der Entwicklung der Psychoanalyse äußerte, lag auch an der zeitbedingten Stigmatisierung ihrer Krankheit, die sich in Schlangen-Halluzinationen, Lähmungserscheinungen, Atembeschwerden, dem Verlust der Muttersprache (oft sprach sie nur Englisch ) und einer Wasserphobie (Pappenheim weigerte sich oft tagelang zu trinken) äußerte.
Hysterikerinnen wurden in der öffentlichen Wahrnehmung als geltungssüchtige Oberschichtenrepräsentantinnen abgetan, die, so die antisemitisch gefärbte Volkswahrnehmung, vorrangig dem Judentum entsprangen, das mit schwacher Gesundheit und nervösem Charakter assoziiert wurde. „Pappenheim wollte nicht, dass ihr soziales Engagement nur vor der Folie ihrer Krankheit gewertet wurde“, so Wolfgruber. Die „Studien über Hysterie“ wurden zur Grundlage der Psychoanalyse, deren Entstehungsjahr Freud selbst, die Historie verfälschend, mit 1900 angab. Trotz der schleppenden Anerkennung im eigenen Land war Freud von unerschütterlichem Selbstbewusstsein, was den revolutionären Wert seiner Erkenntnisse betraf, und wollte, dass seine Entdeckung mit dem Beginn einer neuen Ära gleichgesetzt werde.
Den einzigen Berührungspunkt zwischen der finanziell potenten Familie Pappenheim und Freud bildete seine spätere Frau Martha Bernays, Tochter eines Bankrotteurs aus einer Hamburger Oberrabbiner-Familie. Martha war mit Bertha befreundet, hatte aber keinerlei Ambitionen, was deren Frauenrechtstheorien betraf. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Siegmund Pappenheim die Vormundschaft der mittellosen Martha übernommen. Als Freud 1886 nach vierjähriger Verlobungszeit seine Martha endlich heiraten durfte, konnte er sicher sein, dass sein Status als „Zentralsonne“ (so Freud-Kollege Isidor Sagder), der „das Elend des Alltags vom Leib gehalten werden musste“, nie und nimmer infrage gestellt werden würde. Um Punkt 13 Uhr stand in der Berggasse zeit ihrer Ehe das Essen, meist in Form von Rindfleisch, am Tisch.
Dass eine Ehe einem die Luft zum Atmen nehmen konnte, war der streng erzogenen Bertha schon mit 16 Jahren klar gewesen. Im Alter von 21 wurde die dunkelhaarige Schönheit bei der Sommerfrische in Bad Ischl erstmals von Halluzinationen und Angstvisionen geplagt. Eilig konsultierte man, wieder in Wien, den damaligen Modearzt der Geld- und Geisteselite, Josef Breuer. Der gut aussehende Internist mit dem kessen Schnurrbärtchen war bekannt dafür, dass die Salondamen mehr Leiden als notwendig zu mobilisieren imstande waren, um in den Genuss seiner Hausbesuche zu kommen. Mit dem jungen, aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Medizinstudenten Sigmund Freud verband den brillanten Diagnostiker seit 1878 eine väterliche Freundschaft. Bei Wanderungen rund um den Traunsee in der Sommerfrische erzählt Breuer Freud immer wieder von der Patientin, deren Leiden sich in dem Augenblick minderte, in dem er sie mittels Hypnose „einschnappte“ und sie wie in Trance aus ihrem Leben zu erzählen begann. Im Zuge der Behandlung von Bertha Pappenheim, die in einem besonders engen emotionalen Verhältnis zu ihrem mittlerweile sterbenskranken Vater stand, avancierte Breuer mehr und mehr zur einzigen Vertrauensperson, die sie an sich heranließ. Als Pappenheims Vater starb, eskalierte ihre Hysterie. Erst 1923 schrieb Freud in einem Brief an den Schriftsteller Stefan Zweig, dass Breuer, mit dem er sich inzwischen längst entzweit hatte, die Behandlung der jungen Frau abrupt abgebrochen hatte, weil sie sich bei einer Abendvisite in Unterleibskrämpfen gewunden und gerufen hatte: „Jetzt kommt das Kind, was ich von Dr. B. hab!“ Daraufhin hatte Breuer „in konventionellem Entsetzen“, so Freud, die Patientin verlassen. Freuds herablassendes Urteil: „Er hatte bei all seinen großen Geistesgaben nichts Faustisches an sich.“ Die Erkenntnis, die Freud sehr verspätet aus der Gebär-Illusion zog, war bahnbrechend. Er bezeichnete das Phänomen als „Übertragungsliebe“: „Jedes Mal, wenn wir einen Nervösen psychoanalytisch behandeln, tritt bei ihm dieses befremdende Phänomen auf. Das heißt, er wendet dem Arzt ein Ausmaß von zärtlichen, oft genug mit Feindseligkeiten vermengten Regungen zu, welches in keiner realen Beziehung zu begründen ist.“ Freud selbst jedoch soll, so sein Biograf Peter Gay, von den Zuwendungen seiner „Hysterikerinnen“ durchaus geschmeichelt gewesen sein. Dass Breuer in der Causa Anna O. „den Schlüssel, den er in der Hand hatte, wieder fallen lieߓ, hing, wie Freud seiner Verlobten Martha Bernays schrieb, auch mit dem angespannten Zustand seiner eigenen Ehe zusammen. Breuers Frau Matilda, die gerade ihr fünftes Kind erwartete, rieb die intensive Beziehung ihres Mannes zu der „genialen Kranken“ (Freud) zusehends auf. Der einschlägige Tratsch in den Wiener Salons trug ein Übriges zur Verschärfung der häuslichen Situation bei.
Erst 13 Jahre nach dem Abbruch der Behandlung sollten Breuer und Freud die Pappenheim-Erkenntnisse publizieren. Im Vorwort zu den „Studien über Hysterie“ gaben sie sich überraschend kleinlaut. Bei der Auswahl der Fälle hätten sie sich „leider nicht bloß von wissenschaftlichen Rücksichten bestimmen lassen“ dürfen, schließlich entstammten diese Geschichten „der Privatpraxis in einer gebildeten und lesenden Gesellschaftsklasse, und ihr Inhalt berührt das intimste Leben und Geschick unserer Kranken“.
Dass in diesen Sätzen auch ein Anklang von schlechtem Gewissen mitschwang, hatte freilich einen anderen Grund: Was Freud und Breuer in den „Studien“ berichteten, erfolgte nicht zuletzt nach taktischen Überlegungen. „Breuer und Freud mussten eine Erfolgsgeschichte präsentieren. Die Publikation der Krankengeschichten war unter anderem auch ein Versuch, die Psychoanalyse möglichst schlüssig darzustellen“, erklärt die Historikerin Gudrun Wolfgruber. Insbesondere die berührende Geschichte der „Katharina“ hat wohl eher literarischen als wissenschaftlichen Wert: Freuds Begegnung mit der Wirtstochter Aurelia Kronich, die ihm quasi en passant, während einer Jause auf der Rax, von der sexuellen Belästigung durch ihren Vater erzählte, passte ihm einfach zu gut ins Konzept, um sie nicht für seine Arbeit zu verwenden – selbst wenn ihre wissenschaftliche Bedeutung noch so gering sein mochte. Bewies der Fall Katharina doch, dass seine Theorie nicht nur auf die Salon-Gattinnen, denen Freud manchmal lieber „ein paar Einkäufe“ oder eine Dosis „Penis normalis“ angeraten hätte, sondern auch auf das einfache Volk anzuwenden war. Das Verhältnis zwischen Breuer und Freud war zum Zeitpunkt des Erscheinens bereits merklich unterkühlt.

Radikaler Egomane. Freud, ein radikaler Egomane, der seine Wegbegleiter und -bereiter schnell wieder zu entsorgen wusste, wenn sie ihm nicht mehr nützlich waren, fühlte sich inzwischen in seinem fachlichen Fortkommen durch Breuer blockiert. Bis 1909, als er die eingangs erwähnte USA-Vortragsreise absolvierte, erwähnte er ihn jedoch noch als gleichwertigen Mitbegründer der Psychoanalyse, distanzierte sich aber mit fortschreitenden Jahren mehrfach deutlich von Breuer. Er habe diesem „einen unangemessenen Ausdruck der Dankbarkeit“ erwiesen.
Jahrelang hatte der Internist „dem Neurologen ohne Patienten“, so der Psychiater Julius Wagner-Jauregg über Freud, dessen Talente als Netzwerker herkunftsbedingt äußerst dürftig waren, ausgesprochen prominente Patientinnen zugeschanzt: die Bankiersgattin Anna von Lieben („Cäcilie M.“), die sich, wie man munkelte, ausschließlich von Champagner und Kaviar ernährte; die von der Wahnvorstellung zu verarmen besessene Fanny Moser („Emmy von N.“), eine der reichsten Frauen Europas, und Elise Gomperz, Frau des angesehenen Altphilologen Theodor Gomperz und Salonkönigin, die von „der Nervosität des großstädtischen Lebens geplagt war“, so ihr Gemahl. Die Bankierstochter Marie von Ferstel, verheiratet mit einem Diplomaten und Großmutter des ehemaligen CA-Generals Heinrich Treichl, war ihm ebenfalls von Breuer vermittelt worden. Die an Phobien laborierende Baronin, die ihr Spiegelbild nicht ertragen konnte und es bis zu ihrem Tod im Alter von 92 nicht schaffte, sich selbst zu frisieren, ließ ihre weit reichenden Beziehungen spielen, um ihrem Arzt 1902 zum lange ersehnten Professorentitel zu verhelfen. Dieser wiederum steigerte Freuds Ansehen derart, dass zunehmend auch internationale Kundschaft in die Berggasse strömte, darunter die russische Adelige Lou Andreas-Salomé, eine philosophisch-literarische Femme fatale, die mit Friedrich Nietzsche (der vergeblich um ihre Hand anhielt) und Rainer Maria Rilke durchaus auf Augenhöhe parlierte und 1912 zu Freud kam, um die Psychoanalyse zu studieren. Er nannte sie „mein Glückstier“, ein Ausdruck, den er an anderer Stelle auch für besonders ergiebige Patienten gebrauchte. Noch mehr, nämlich nicht weniger als sein Leben, verdankte er Marie Bonaparte, Prinzessin von Griechenland und Urgroßnichte Napoleons I., die 1925 nach Wien reiste, um ihre – trotz Klitorisoperation und wechselnder Liebhaber – fortwährende sexuelle Unlust heilen zu lassen. Als Freud 1938 zur Emigration gezwungen wurde, kam Bonaparte für die „Reichsfluchtsteuer“ auf und verhalf dem schwer kranken Professor zur Flucht nach London. Immer wieder waren die Behandlungen der Patientinnen von Stagnation und Misserfolgen gekennzeichnet. Marie von Ferstel bezeichnete Freud später sogar als „Scharlatan“, wie ihr Enkel Heinrich Treichl erzählt. Nie hatte sie ihm verziehen, dass er 1904 ihrer Einweisung in ein Berliner Sanatorium zugestimmt hatte: „Als die Haushälterin nach Bezug der Institution feststellte, dass die Türen innen keine Klinken hatten, ist man abgereist. Daraufhin hat meine Großmutter mit Freud endgültig gebrochen.“
Ida Bauer („Dora“) beendete ihre Analyse, weil Freud nicht bereit war, sich mit ihrer erotischen Adoration für die Geliebte ihres Vaters auseinanderzusetzen. Die libertine Pariser Dichterin Comtesse de Noailles machte ziemlich schnell kehrt, als sie statt eines animalischen Don Juans einen biederen Bartträger im grauen Dreiteiler vorfinden musste. „Was für ein schrecklicher Mann!“, soll sie ausgerufen haben: „Ich bin mir sicher, dass er seiner Frau nie untreu war. Das ist geradezu abnormal.“ Es wird vermutet, dass Freud, der Befreiungstheoretiker der Sexualität, seiner Frau nicht nur nie untreu gewesen sein, sondern ihr auch nach den sechs Kindern nie wieder beigewohnt haben soll. Nach der Analyse seines Arbeitspensums (von 8 bis 12 Uhr Patientinnen, ab 15 Uhr Sprechstunde, bis 21 Uhr Analysestunden, nach dem Abendessen bis ein Uhr nachts wissenschaftliches Arbeiten) leuchtet es durchaus ein, dass Freud oft das beste Beispiel für seine Sublimierungsthese verkörperte. Anna Freud, die Kronprinzessin, musste den Übervater sogar davon abhalten, auch in der Sommerfrische Audienzen zu erteilen. „Lass dich nicht von Patienten quälen“, schrieb sie, „und lass nur alle Millionärinnen ruhig verrückt bleiben, sie haben doch sonst keine Beschäftigung.“

Von Angelika Hager und Sebastian Hofer. Mitarbeit: Franziska Troger