Menschenhandel: Schlimmer als der Tod

Menschenhandel: „Schlimmer als der Tod“

Österreich ist eine Dreh-scheibe für Frauenhandel

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Sie war 16 und eine richtige, kleine Prinzessin, als alles gleichzeitig zusammenbrach. Ihre Mutter starb elend. Und der Kommunismus implodierte. Von da an ist Tanja1) gefallen.

Es war ein Sturz in Etappen. Immer wieder hat sie sich aufgerappelt und daran erinnert, dass sie einmal eine Prinzessin war, vor dem November 1989, als ihre Welt noch Struktur und Ordnung hatte: Sie war die Beste ihrer Klasse, hatte Japanisch gelernt und Gitarre gespielt. Archäologin wollte sie werden und aus ihrem Leben etwas Besonderes machen.

Jedes Mal, wenn Tanja, das Mädchen aus einem kleinen Dorf im Norden Tschechiens, am Boden aufschlug, versuchte sie ihrem Leben doch noch eine Wendung zu geben. Und jedes Mal schien es eine Weile so, als würden sich die Dinge einrenken.
Doch dann fiel sie nur noch tiefer.

Tanja ist 32 Jahre alt und lebt in Wien, eine schöne, gescheite und lebhafte Frau, die sich immer wieder ganz unvermutet in sich zurückzieht. Was sie erlebt hat, sei zu viel gewesen für einen Menschen: „Manchmal habe ich das Gefühl, noch nicht im Leben angekommen zu sein.“ Wenn sie ihre Geschichte erzählt, was selten vorkommt – nicht einmal ihr Freund kenne all die schrecklichen Einzelheiten –, möchte sie hinterher nur noch schlafen. Schlafen. Schlafen.

Vergessen, dass sie eine Hure war, gefangen in einem Kosmos von Gewalt, Erniedrigung und Ausbeutung, unfähig, aus dem Bordell, in das sie verkauft worden war, wegzulaufen. Als sie es schaffte, besaß sie nichts als ihre Kleider am Leib und einen letzten Rest Lebenswillen. Es ist ihre Geschichte – und doch ist sie nicht einzigartig. Eine von vielen, die nie in einen Gerichtsakt eingingen, weil sie nicht in den üblichen juristischen Raster passte und die Frau, die sie erlebt hat, froh war, mit dem Leben davongekommen zu sein. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Tanja und merkt, wie eigenartig das klingt. „Ich meine, ich habe überlebt.“

Später, am Ende ihrer Erzählung angekommen, wird sie sagen: „Ich bin versklavt worden. Das ist schlimmer als der Tod.“

Mitte Jänner passierte ein Bericht zum Thema Menschenhandel das EU-Parlament. Laut Experten läutet er eine neue Epoche im Kampf gegen moderne Formen der Sklaverei ein: Die achtziger Jahre waren im Zeichen der Bewusstseinsbildung gestanden, in den neunziger Jahren wurde gesammelt, ausgewertet und analysiert, erste Gesetze traten in Kraft. Nun, 2006, schlage die Stunde der Umsetzung. „Genug geredet“, befindet SPÖ-Europaabgeordnete Christa Prets, Berichterstatterin zum Thema Frauenhandel: „Jetzt müssen wir Taten setzen, alle gemeinsam.“

Ihre Agenda strotzt vor Plänen und Forderungen: Eine EU-Kampagne gegen Frauenhandel muss her; ein internationaler Anti-Traffic-Tag soll die Massen sensibilisieren; in den Herkunftsländern müsse über die dunklen Seiten des goldenen Westens geredet werden; Hilfsorganisationen brauchen Mittel für Präventionsprojekte und Rehabilitierung von Zwangsprostitutierten; es müsse mehr Razzien und grenzüberschreitende Ermittlungen gegen die Hintermänner geben sowie eine schonungslose Verfolgung von Schleppern, Zwischenhändlern und Zuhältern; außerdem Zeugenschutz, Rechtsbeistand, psychologische Betreuung und ein Aufenthaltsrecht für die Opfer von Frauenhandel.

Transitland. Das heimische Frauenministerium hatte sich für die EU-Ratspräsidentschaft eigentlich das Schwerpunktthema Menschenhandel auserkoren, ist dann aber auf „Migration und strukturelle Gewalt“ umgeschwenkt. „Dabei hätten gerade wir allen Grund, uns mit Zwangsprostitution zu befassen“, so Prets. Denn das Land, obzwar klein, spiele im kriminellen Handel mit Sexsklavinnen eine bedeutsame Rolle: als Transitland ebenso wie als Zielland.

In den vergangenen zwei Jahren analysierte die von der EU finanzierte Plattform WEST (Women East Smuggling Trafficking) heimische Gerichtsakten und befand, dass im Jahr vermutlich annähernd 5000 Frauen durch Kärnten Richtung Süden geschleust werden. Österreich sei eine „Drehscheibe“ des Menschenhandels, so WEST-Projektleiterin Christiana Weidel. Dennoch gebe es hierzulande kaum Experten für die Verfolgung der Täter und Betreuung der Opfer: „Der Wissensstand ist erschreckend.“ Bei der Übernahme einschlägiger EU-Beschlüsse und -Richtlinien war Österreich Musterschüler, bei der Umsetzung in die Praxis hapere es: „Viele Opfer leiden in Hinterzimmern und in Privatwohnungen, weil Polizisten ihre Zwangslage nicht erkennen, Ärzte sich nichts denken, eine Behörde nicht nachfragt.“

Große Lücken gibt es beim Abschiebeschutz. Frauen, die gegen ihre Peiniger aussagen, erhalten einen Aufenthaltstitel. Doch nach dem Verfahren müssen sie oft das Land verlassen. Besonders dramatisch wirkt sich der mangelnde Rechtsbeistand aus. Während Bordellbetreiber sich versierte Strafverteidiger leisten können, müssen ihre Opfer um einen Termin bei einem Pflichtverteidiger kämpfen. In Wien kümmert sich eine einzige Opferschutzeinrichtung um die in der Regel schwer traumatisierten Zwangsprostituierten.

An allen Ecken und Enden fehlt es an Schulungen. Die in Wien ansässige internationale Nichtregierungsorganisation Icmpd vermittelt Justizangehörigen am Balkan Kenntnisse in der Bekämpfung des Frauenhandels. In Österreich werden die Trainer nicht gebucht. Dabei würden Schulungen für Sozialarbeiter, Exekutivangehörige, Richter und Staatsanwälte hierzulande dringend gebraucht. „Je mehr Bescheid wissen, umso schwieriger wird es für Ausbeuter“, sagt WEST-Projektleiterin Weidel.

Bislang werden ihre Methoden immer dreister. Vor zwei Jahren legten sich Polizisten hinter dem Westbahnhof auf die Lauer. Wochenlang observierten sie nach einem Tipp aus dem Rotlichtmilieu ein als Café getarntes Etablissement, bevor sie dort eine Razzia vornahmen. Die Beamten fanden 25 Rumäninnen und Bulgarinnen, viele von ihnen noch minderjährig und Angehörige von Minderheiten. Sie waren ihren Familien für den Wert eines Einkaufswagens voller Lebensmittel abgekauft worden, angeblich, um es als Babysitter bei wohlhabenden türkischen Familien besser zu haben. Tatsächlich mussten sie als Sexsklavinnen von früh bis abends zu Diensten sein. Der letzte Kunde einer Schicht durfte „sein“ Mädchen nach Hause mitnehmen und musste es am nächsten Tag wieder abliefern. Die Polizei brachte die befreiten Mädchen zum Ambulatorium für Geschlechtskrankheiten der Stadt Wien. Die leitende Sozialarbeiterin Elisabeth Maier zeigt sich noch heute erschüttert: „Jedes einzelne war massiv krank.“

Kindersitz. Seit zwölf Jahren arbeitet Maier als Streetworkerin in der Rotlichtszene. Wenn sie ihre Nachtschichten absolviert, halten immer Autos neben ihr an, deren Fahrer das Fenster herunterlassen, weil sie die Streetworkerin für eine Hure halten. Dann reicht ihnen Maier eine Aufklärungsbroschüre hinein. Meist sind es ganz durchschnittliche Männer, nicht selten im Minivan mit Kindersitz und Hundekörbchen im Fond sowie einem Foto der Familie im „Komm gut heim“-Bilderrahmen auf dem Armaturenbrett.

Denken sie daran, dass ihre Gespielinnen nicht immer freiwillig Sex für Geld geben, dass sie von dem Lohn vielleicht nie etwas sehen? Es gibt Anzeichen für Zwangsprostitution, sagt die Journalistin Inge Bell, die an dem Buch „Verkauft, versklavt, zum Sex gezwungen“ – erschienen 2005 im Kösel Verlag – mitgearbeitet hat. Die Freier müssten diese nur deuten (siehe Interview).

Tanja hat in ihrer Zeit als Prostituierte keinen getroffen, für den sie mehr war als ein käufliches Objekt. Keiner interessierte sich jemals dafür, dass sie davon träumte, Archäologin zu werden, weil sie fand, man könne die Zukunft am besten verstehen, wenn man die Vergangenheit ausgrabe.

1989, als die alte Tschechoslowakei zu existieren aufhörte und gleichzeitig ihre Mutter starb, riss es das Mädchen aus der Verankerung. Auf der Straße feierten die Schulkollegen den Sieg der Demokratie. Sie aber fand in der Freiheit keinen Halt: Die alte Ordnung existierte nicht mehr, eine neue hatte sich noch nicht herausgebildet. Es gab kein Jugendamt, das sich um sie gekümmert hätte, keine Behörde, die ihr Sozialhilfe ausbezahlt hätte, niemanden, der ihr geholfen hätte, mit dem Tod der Mutter fertig zu werden.

Damals dachte sie, sie schaffe das alleine. Heute weiß sie, wie verwundbar sie war. Sie war nicht gerüstet für das Chaos, das nach dem Kommunismus ausgebrochen war. Halbweltgrößen zogen in abgelegenen Villen am Waldesrand unlizenzierte Kasinos auf, das sich rasch etablierende Rotlichtmilieu war auf der Pirsch nach Frischfleisch. Sie begann als Barfrau und wurde an ein Bordell nach Österreich verkauft, wo sie in der ersten Nacht zehn Männer über sich ergehen lassen musste: „Dreckige, ungebildete Bauern.“ Was bis dahin heil in ihr geblieben war, zerbrach in dieser Nacht.

Irgendwann konnte sie flüchten. Sie nahm ein Taxi in eine größere Stadt und klingelte an der Tür eines Nobelpuffs.
Freiwillig.

Über dieses Wort könnte Tanja lange philosophieren. Wenn sie wollte. Doch sie will sich nicht dazu äußern, warum Frauen ihren Körper verkaufen. Was immer die Gründe seien, „wenigstens das Geld sollte ihnen gehören“. Tanja hat viel geredet, Erinnerungen zurückgeholt, die sie lieber für immer gelöscht hätte. Das Gespräch hat sie erschöpft, und sie ist unsicher, ob ihre Geschichte einen Sinn ergibt. „Verstehen Sie, was mir passiert ist?“, fragt sie zum Abschluss. „Ich bin versklavt worden. Das ist schlimmer als der Tod.“

Von Edith Meinhart