Menschliche Verkehrsunfälle

Titelgeschichte. Die psychiatrisierte Gesellschaft: Zwischen überdiagnostizierten Störungen und Versorgungslücken

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Plötzlich packten ihn Weinkrämpfe. In seinem Landsitz in Gardone konnte er keine Mahlzeiten mehr im Kreise seiner Gäste einnehmen und musste in seine Zimmer in den ersten Stock flüchten. Eine Irritation, die André Heller mit dem 1938 verstorbenen Gabriele D’Annunzio verband. Der italienische Schriftsteller, der einst unweit von Hellers Anwesen in seinem Schloss „Il Vittoriale“ residierte, speiste nahezu immer allein, weil ihn der Anblick seiner essenden Besucher in Angstzustände katapultierte. In Christian Seilers Heller-Biografie „Feuerkopf“ schildert der Künstler jene „Verstörung“, die ihn 1997, knapp vor seinem 50. Geburtstag, sieben Jahre lang paralysieren und „neben sich“ leben lassen sollte: „Mich befielen tausenderlei Nöte. Grotesk verzerrte Bilder … Dann das Gefühl einer absoluten Isolation oder eines in sich selbst Versinkens. Eruptive Traurigkeit von noch nie gekanntem Ausmaß, auch radikale Ohnmachtsgefühle und die Auflösung aller bisher gekannten Koordinaten …“

Auflösung, langsames Verlöschen, den Boden verlieren, Fremdsein im vertrauten Gebiet, morgens mit dem Gefühl aufzuwachen, „ein menschlicher Verkehrsunfall zu sein“, wie die 27-jährige, jahrelang depressive deutsche Schriftstellerin Kathrin Weßling in ihrem Buch „Drüberleben“ notiert: Die Zustandsbeschreibungen für ein Leben „neben sich“, die in Gesprächen mit Betroffenen fallen, tragen immer den Unterton von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Kontrollverlust. Seelische Bruchstellen finden sich längst nicht mehr nur in den Lebenswegen feinnerviger Kreativer. Die Künstlerbiografien der vergangenen Jahrhunderte sind voll mit Lebensgeschichten, in denen der Nachweis des funktionierenden Zusammenspiels von psychischen Leiden, Kreativität und Genialität erbracht wurde: Vincent van Gogh, Edvard Munch, Heinrich Heine, Jean-Jacques Rousseau, Virginia Woolf, Samuel Beckett, Ernest Hemingway, Friedrich Nietzsche. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind John Lennon, der sich immer wieder in der Isolation verbarrikadierte, der zeitlebens schwer depressive Yves Saint Laurent, Romy Schneider, Kurt Cobain, der mit 27 Jahren verstorbene australische Schauspieler Heath Ledger („Meine Angst wurde zum Ganztagsjob.“) oder der britische Designer Alexander McQueen, der 2010 freiwillig aus dem Leben schied.

Doch Künstler haben auch das Privileg, gemäß der Freud‘schen Sublimierungstheorie ihre Schmerzen für die eigenen Werke instrumentalisieren zu können. „Ich wollte immer mehr Van Gogh sein, als Cary Grant“, erklärte der inzwischen verstorbene Schauspieler, Fotograf und Maler Dennis Hopper, der jahrelang an Alkohol- und Tablettensucht litt, 2001 in einem profil-Interview. „Nahe am Abgrund werden die Emotionen einfach größer und überwältigender. Mit Alkohol, Drogen, Trauer, Liebe und Hass zwingt man sich in einen Rohzustand, der der Kunst gut tut.“

Doch diese Luxusvariante von Unglück ist für den Normalbürger nur selten zugänglich.

Betrachtet man die aktuellen Statistiken, war die menschliche Seele „noch nie soempfindlich gegen äußere Witterung“, so Johann Wolfgang von Goethe einst, wie heute. Seelische Entgleisungen, Störfälle und Zusammenbrüche, wie immer sie auch psychiatrisch etikettiert sein mögen, breiten sich wie ein Flächenbrand aus.

Lesen Sie die Titelgeschichte von Tina Goebel, Angelika Hager und Sebastian Hofer in der aktuellen Printausgabe oder in der profil-iPad-App.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.