Migration: Zuwan-derbares Österreich

Migration: Zuwanderbares Österreich

Die Politik schwindelt sich um das Thema herum

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Wie kann man den Menschen klar machen, dass es zur Zuwanderung keine bequeme Alternative gibt? Als der Bevölkerungsexperte Gustav Lebhart über diese Frage nachdachte, kam ihm die Idee zu einem ungewöhnlichen Experiment: Man müsste nur jedem Österreicher eine Postkarte mit zwei schlichten Sätzen ins Haus schicken. Einen davon dürften die Empfänger ankreuzen: Ja, ich will bis 75 arbeiten. Ja, ich bin für Zuwanderung. „Entweder – oder“, sagt Lebhart: „Da muss man sich schon entscheiden.“

Für den Demografen ist das Leben kein Multiple-Choice-Test. In der Politik gelten andere Gesetze. Deshalb kann ein Land, in dem die Gruppe der 60-Jährigen immer größer und die Schar der Kinder immer kleiner wird, jahrzehntelang daran festhalten, kein Einwanderungsland zu sein. Migrationsexperte August Gächter stößt dieser Widerspruch auf: „Die Politik hat es verabsäumt, den Menschen zu erklären, dass wir Zuwanderung brauchen“, klagt er. Dabei hätte man nicht viel mehr tun müssen, „als das nur oft genug zu betonen“. Und bei dieser Gelegenheit hätte man auch gleich eine zweite Tatsache publik machen können: „Zuwanderung passiert.“

Fremdenfeindlich. Noch schwindelt sich die Politik um das Thema herum. Spätestens im nächsten Wahlkampf wird es nicht mehr von der Agenda zu fegen sein. Politikbeobachter gehen davon aus, dass die Nationalratswahlen in einem Jahr im Zeichen des Kampfes um abtrünnige FPÖ-Wähler stehen werden. Wien hat es vorgezeigt. Ihre fremdenfeindliche Kampagne brachte der FPÖ 15 Prozent der Wählerstimmen. Ganz neu ist die Rhetorik freilich nicht: Schon seit Jahren kreist die vom Innenministerium wesentlich bestimmte, innenpolitische Debatte um Asylmissbrauch, rigidere Grenzkontrollen, gesetzliche Verschärfungen und besseren Datenabgleich in Zeiten der Terrorbekämpfung. Wenn das Thema Zuwanderung auf die Agenda kommt, dann in negativem Zusammenhang.

Die Signale sind eindeutig:

Gebraucht werden Menschen, die im Land arbeiten und wieder gehen. Erst vergangene Woche erklärte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, die Zuwanderung verschärfe die Probleme am Arbeitsmarkt. Wer bleiben will, muss sich den österreichischen Pass verdienen. Das strich ÖVP-Klubobmann Wilhelm Molterer vor zwei Wochen heraus, als er in der ORF-Sendung „Offen gesagt“ die geplante Verschärfung des Staatsbürgerschaftsgesetzes als Errungenschaft der ÖVP reklamierte.

Vom Nutzen der Zuwanderung für eine alternde Gesellschaft, für eine im globalen Innovationswettbewerb stehende Volkswirtschaft, für die heimischen Betriebe – darüber wird kaum gesprochen. Auch in den Parteiprogrammen findet sich dazu wenig. Die Regierung setzt auf Kriminalitätsbekämpfung und Arbeitskräfte, die maximal ein Jahr lang im Land bleiben dürfen. FPÖ-Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache nützte die „fürchterlichen Bilder aus den französischen Ghetto-Vorstädten“, wo sich die Migrantenjugend und Polizeikräfte nächtelang regelrechte Straßenkämpfe lieferten, um gar eine „Minuszuwanderung“ zu fordern.

Die Opposition tüftelt indes an Modellen, die sich an Einwanderungsländern wie Kanada ein Beispiel nehmen. Doch bisher ist in der Öffentlichkeit davon wenig zu spüren. Sonja Wehsely, im Kompetenzteam der SPÖ für das Thema zuständig, hat immerhin die Eckpfeiler eingeschlagen: Einrichtung eines Staatssekretariats für Integrationsangelegenheiten; eine Verfassungsänderung, die Zuwanderern die Teilnahme an Kommunalwahlen ermöglicht; Harmonisierung von Aufenthalt und Beschäftigung; Abschaffung der Quote für Familienzusammenführung; Einschränkung des Saisoniermodells und Einrichtung eines Gremiums nach dem Vorbild der deutschen Süßmuth-Kommission.

Doppelspiel. Das Modell der Grünen ist in Arbeit und soll noch im November präsentiert werden. Laut Migrationssprecherin Terezija Stoisits wird es ein „größerer Wurf“, der sich klar vom schwarz-blauen Weg absetzt: „Die Regierung betreibt ein Doppelspiel: Rhetorisch setzt sie auf Nullzuwanderung, auf der anderen Seite setzt sie mit ihrem Saisoniermodell die Gastarbeiterpolitik der sechziger und siebziger Jahre fort.“ Der grüne Standpunkt laute: Österreich sei, wie alle westlichen Staaten, auf Zuwanderung angewiesen. Nicht nur aus demografischen, auch aus wirtschaftlichen Gründen. Stoisits: „Wir müssen anfangen, Zuwanderung zu gestalten.“

Der Spielraum ist beschränkt. Vor 40 Jahren, als die Wirtschaft boomte, warb Österreich um jugoslawische und türkische Arbeitskräfte. Ein Jahr lang sollten sie Straßenbahnschienen verlegen, Hemdkrägen im Akkord nähen, Alte pflegen und danach in ihre Heimat zurückgehen. Doch die schöne Rotationsidee funktionierte in der Praxis nicht. Was ihre Erfinder nicht bedacht hatten: Menschen verlieben sich, schließen Freundschaften, schlagen Wurzeln. Die Gastarbeiter ließen sich nieder, suchten um Staatsbürgerschaft an und holten ihre Angehörigen nach.

Ein Viertel der Wiener Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Ein typisches Mietshaus etwa im zweiten Wiener Gemeindebezirk sieht so aus: Das Hausmeisterehepaar stammt aus Serbien, im ersten Stock wohnt ein Ägypter, im Stock darüber eine chinesische Familie, daneben ein russisches Pärchen und im Dachgeschoss ein deutscher Journalist.

Jede Zuwanderung zieht Zuwanderung nach sich. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Inzwischen wird der legale Zuzug durch ein Quotensystem beschränkt. Die Festlegung der jeweiligen Kontingente wurde zum fixen Bestandteil des innenpolitischen Showgeschäfts. Mit den realen Dimensionen haben die Zahlen wenig zu tun. Das Gros der künftigen Neobürger kommt über Familienzusammenführungen außerhalb der Quote ins Land. Dazu gesellen sich jedes Jahr rund 2000 Menschen, die in Österreich Asyl finden, und eine unbekannte Zahl von Menschen, die sich illegal über die Grenze schlagen (siehe Kasten Seite 20).

Laut EU-Grünbuch schrumpft die europäische Erwerbsbevölkerung in den Jahren 2010 bis 2030 um 20 Millionen. Europa braucht „Kinder oder Inder“, wie es ein in Deutschland kursierender Spruch politisch nicht ganz korrekt auf die Formel brachte.

Weiß, gebildet. So weit ist der Befund unstrittig. Die Frage, welche Zuwanderung wir brauchen, ist schon nicht mehr so eindeutig zu beantworten. „Wir können sagen, welche wir wollen“, erklärt Migrationsexperte Gächter, „aber ich bezweifle, dass die, die wir wollen, auch die sind, die wir brauchen.“ Weiß, gebildet und nach einer Generation nur mehr aufgrund des Familiennamens von den Einheimischen zu unterscheiden, so sehe der Lieblingszuwanderer der Österreicher aus: „So jemanden hat man gern als Nachbarn, so jemanden akzeptiert man auch als Partner für die Kinder.“

Am Arbeitsmarkt gebraucht würden laut Gächter aber auch unqualifizierte Hilfskräfte: Ukrainer, die den Bauern bei der Ernte helfen, Slowaken und Kroaten im Tourismus. Sie kommen derzeit über die Saisonierregelung. Doch das Modell hat einen eingebauten Denkfehler, kritisiert AK-Migrationsexperte Josef Wallner: „Jede Form der temporären Zuwanderung führt irgendwann zu einer illegalen Aufhältigkeit.“ Das zeige die Geschichte der Gastarbeiter – in Österreich und anderswo.

In der Schweiz etwa hatte sich der Saisonier in den sechziger Jahren zum Normalfall des ausländischen Beschäftigten entwickelt. In den Boomjahren waren bis zu 50 Prozent aller Bauarbeiter befristet angeheuerte Italiener, Jugoslawen und in den neunziger Jahren vermehrt Portugiesen. Nach jeder Saison mussten die Arbeiter für drei Monate außer Landes. Die Familie nachzuholen war ihnen verboten. Der Effekt: Die illegale Zuwanderung nahm zu. Laut Gewerkschaften lebten vor einigen Jahren 150.000 bis 300.000 „sans papiers“ (Papierlose) in der Schweiz. Das Bundesamt für Ausländerfragen schätzte ihre Zahl auf 100.000. Im Jahr 2002 schuf die Schweiz das Saisoniermodell wieder ab.

Darko Miloradovic, 23, ist das Kind eines typischen jugoslawischen Gastarbeiters. Der Vater, ein gelernter Mechaniker, war Ende der siebziger Jahre nach Österreich gekommen. Zwei Jahre wollte er bleiben, Geld verdienen und dann nach Serbien zurückgehen. „Was aus diesem Plan geworden ist, sieht man an mir“, sagt Darko, nach Eigendefinition ein „Waldviertler Serbe in Wien“. Integration ist für ihn kein Thema für Erörterungen, sondern gelebter Alltag. Darkos Schwester studiert, er arbeitet im Marketing und hatte nie Probleme, einen Job zu finden. „Keiner sieht mir an, dass ich halber Serbe bin“, sagt Darko. Die Leute fragen erst nach, „wenn ich meinen Namen sage“.

In seiner Freizeit versucht Darko als Mitglied des Vereins Jedinstvo (Einheit) mit Theateraufführungen, Podiumsdiskussionen und traditioneller Bohnensuppe Serben und Österreicher einander näher zu bringen. Vor den Gastarbeitern seiner Elterngeneration stimmt er bei solchen Gelegenheiten das Loblied auf die Bildung an: „Vor allem Migranten aus ländlichen Gebieten waren immer skeptisch. Allmählich beginnen sie, Bildung als Investition in die Zukunft ihrer Kinder zu sehen.“

Fahrstuhleffekt. Damit die Hilfsarbeiter von früher aufsteigen können, müssen neue nachkommen, die diese Tätigkeiten übernehmen, sagt Migrationsexperte Gächter. Dieser „Fahrstuhleffekt durch unterschichtende Zuwanderung“, wie die Wissenschaft das Modell in den siebziger Jahren beschrieb, ist unter Experten allerdings umstritten. Der Wiener Universitätsprofessor Heinz Fassmann meint, es möge auf den österreichischen Arbeiter gepasst haben: „Der ist zum Vorarbeiter aufgestiegen, als er zwei türkische Hilfsarbeiter an die Seite gestellt bekam. Für den türkischen Arbeiter stimmt es nicht mehr.“ AK-Experte Josef Wallner teilt die Kritik: „Die Unternehmen versuchen, die Löhne zu drücken, ohne dass diejenigen, die rausfliegen, auch aufsteigen.“ Seit dem Jahr 2000 stieg die Arbeitslosigkeit bei ausländischen Beschäftigten stärker als die bei inländischen.

Der Fahrstuhl klemmt, solange das Bildungsniveau der zweiten und dritten Zuwanderergenerationen nicht steigt. Laut Volkszählung hatten Anfang der neunziger Jahre fünf Sechstel der türkischen und jugoslawischen Zuwanderer nur Pflichtschulabschluss. Gächter: „Das Niveau der Migrantenkinder ist inzwischen gestiegen, aber es liegt noch immer hinter dem der österreichischen Kinder zurück.“ Experten fordern seit Langem, in die Bildung der im Land lebenden Zuwanderer zu investieren. AK-Migrationsfachmann Wallner: „Wenn wir die zweite und dritte Generation links liegen lassen, vernichten wir Potenzial. Das können wir uns nicht leisten.“

Integration, ein beliebtes Vokabel in Sonntagsreden, wird dringender denn je. Laut einer im Auftrag von profil vom Meinungsforschungsinstitut market durchgeführten Umfrage ist die Ansicht der Österreicher über die Qualität der bisherigen Anstrengungen geteilt: 38 Prozent finden, Zuwanderer seien „eher gut“ in die österreichische Gesellschaft integriert. Genauso viele sind aber der Ansicht, Zuwanderer seien „eher schlecht“ in sie eingegliedert.

Die gesellschaftliche Entwicklung stehe und falle mit dem Thema Integration, sagt Erich Schwärzler, Sicherheitslandesrat (ÖVP) in Vorarlberg. Das Bundesland hat nach Wien die zweithöchste Migrantenquote. In den sechziger Jahren holten die florierenden Metall- und Textilbetriebe scharenweise Gastarbeiter ins Ländle. Als die Wirtschaft einbrach, war das für die erste Generation „die reinste Katastrophe“, sagt Attila Dincer, Gründer der Türkischen Plattform in Vorarlberg, in der über 40 Migrantenvereine zusammengeschlossen sind. Ihre Kinder taten sich beim sozialen Aufstieg schwer. Erst seit einigen Jahren kümmert sich Vorarlberg aktiv um die jüngeren Migranten. Eva Grabherr, Geschäftsführerin von „Okay. Zusammenleben“, einer vom Land finanzierten Projektstelle für Zuwanderung und Integration: „Es gibt eine ethnische Unterschicht, die sich vererbt. Dagegen müssen wir etwas tun.“

Anerkennung. Das Rezept: Bildung. Bildung. Bildung. Aber das allein reicht nicht. Grabherr: „Die Menschen brauchen eine Perspektive, Zukunft und Anerkennung.“ Ihnen das Wahlrecht zu verweigern oder Hürden auf dem Weg zur Staatsbürgerschaft einzubauen sei das falsche Signal.

Lange Zeit kam das Gros der Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und der Türkei. Anfang der neunziger Jahre erweiterte sich der Kreis der Herkunftsländer. Gächter: „Österreich wurde Teil einer weltweiten Migration. Das hat Folgen für die Integrationspolitik.“ Die neuen Österreicher der Zukunft bleiben sichtbar, auch nachdem sie in die Mittelschicht aufgestiegen sind. In den höheren Schulen tauchen immer mehr chinesische, indische, afrikanische Gesichter auf.

Die urbanen Zentren spiegeln die Zuwanderertrends wirklichkeitsgetreu wider. So beobachtet Migrationsforscher Gächter seit Jahren die indische Community in Wien. Viele Inder haben Anfang der achtziger Jahre als Zeitungsverkäufer begonnen. Viele schafften mittlerweile einen passablen Aufstieg, wurden Textilienhändler, Restaurantbesitzer oder betreiben DVD-Shops, welche die Landsleute mit den neuesten Bollywood-Produktionen versorgen. Interessantes Detail am Rande: Als die Inder vor Jahrzehnten das Zeitungsgeschäft für sich entdeckten, verdrängten sie die in der Kolportage dominierenden Ägypter. Gächter: „Diese wurden Pizzaköche und machten später einen eigenen Laden auf.“

Der Chefökonom der Industriellenvereinigung, Christian Helmenstein, ist zwar kein Anhänger der Gächter’schen Verdrängungstheorie mit nachfolgendem Aufstieg: „Wir brauchen in Österreich vor allem hochqualifizierte Zuwanderung.“ Der Produktivitätsfortschritt werde auch in Zukunft viele Jobs in den Niedriglohnbranchen kosten. Jede neue Zuwanderung in diesem Bereich ginge zulasten der im Land befindlichen Zuwanderer. Doch in einem sind sich Helmenstein und Gächter mit dem Bevölkerungsexperten Lebhart einig: „An einer gesteuerten und kontrollierten Zuwanderung führt kein Weg vorbei.“

Von Edith Meinhart
Mitarbeit: Kaspar Fink, Martina Lettner