'Milde Horden' beim Fußball

Der Fan, das unbekannte Wesen

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Die Aktion war generalstabsmäßig vorbereitet, brach blitzschnell los und sorgte für unbeschreibliche Verwüstungen. Die Fans hatten sich vor Spielbeginn beim Stadion eingefunden und waren ohne weiteres Geplänkel aufeinander losgegangen. An Ausrüstung mangelte es ihnen nicht: Schlagstöcke, Steine, Messer und Äxte kamen zum Einsatz, Molotowcocktails wurden geworfen. Ein erschütterter Notarzt berichtete Journalisten später von der unglaublichen Brutalität des Krawalls: „Die Menschen waren mit Blut übergossen. Überall hatten sie Messerstiche.“ Nur durch massiven Tränengaseinsatz konnte die Polizei das Inferno beenden. Ein 25-jähriger Fan erlag noch am selben Tag seinen schweren Kopfverletzungen.

Der Vorfall trug sich vor einem knappen Jahr in der Athener Vorstadt Paiania zu. Er zeigt zweierlei. Erstens: Es gibt ihn noch, den „erlebnisorientierten“ Fan, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht und Hemmschwellen nur vom Hörensagen kennt. Zweitens: Als Anlass zum gemeinschaftlichen Aggressionsabbau braucht der moderne Hooligan kein Fußballmatch. Die beschriebenen Ausschreitungen fanden vor dem Cupfinale der griechischen Frauen-Volleyball-Liga statt. Rund einen Monat vor Beginn der Fußball-EM in Österreich und der Schweiz steigt die Angst vor enthemmten Hooligans, denen außer Bier, Schnaps und der guten alten Faustwatsche nicht viel heilig ist. Die Realität wird anders aussehen, denn so wie der Fußball sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Grund auf verändert hat und vom sportlichen Spektakel zu einem globalen Entertainment-­Business wurde, so hat auch die Fankultur einen Wandel erlebt. Die fachgerechte Zerlegung ganzer Stadtteile ist nicht mehr die oberste Priorität des gemeinen Fußballfans. Der klassische Hooligan britischer Prägung – dumpf, betrunken, aggressiv – tummelt sich zwar weiterhin in seinen angestammten Biotopen (sprich Pubs), als Leitfigur im Stadion hat er aber ausgedient. Abgesehen davon: Zur EURO, dieser verweichlichten Kommerzveranstaltung, brächte ihn wohl nicht einmal die Aussicht auf eine legendäre Schlägerei.

Die Sicherheitsvorkehrungen sind trotzdem enorm. Mehr als zweieinhalb Millionen Fußballfans erwarten die Veranstalter allein in Österreich zur EURO 2008. Rund 26.000 Polizeibeamte sollen für Sicherheit sorgen, unterstützt von 900 Kollegen aus Deutschland und 4000 privaten Sicherheitsleuten. Im Bedarfsfall werden die Grenzen innerhalb des Schengenraums dichtgemacht, amtsbekannte Hooligans können mit Reiseverboten belegt oder präventiv aufs Kommissariat geladen werden. Mit rund 70 Festnahmen pro Spieltag rechnen die Behörden. Um Platz für allfällig arretierte Rowdys zu schaffen, werden die Polizeianhaltezentren in Wien, Salzburg, Innsbruck und Klagenfurt zur EM geräumt und die Insassen (vor allem Schub- und Verwaltungsstrafhäftlinge) quer durch Österreich in die übrigen Anhaltezentren transportiert. Selbst der Wiener Bürgermeister widmet sich mit vollem Körpereinsatz dem Kampf gegen die Fußballgewalt. Vor zwei Wochen erklärte Michael Häupl seine entsprechenden Ambitionen: „All jenen, die meinen, sie müss­ten dieses Fest nutzen, um Randale zu machen, sage ich: Nicht alle Dicken sind gemütlich.“

„Problemfans“. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird aber gar kein Grund für handfeste bürgermeis­terliche Interventionen bestehen. „Nach unseren bisherigen Erkenntnissen können wir davon ausgehen, dass kaum Problemfans zur EM anreisen werden“, meint Peter Jedelsky, oberster Fanpolizist in der Bundespolizeidirektion Wien. Er kann das so bestimmt sagen, weil „Problemfans“ (also einschlägig amtsbekannte und vorbestrafte Fans) europaweit in so genannten Hooligandateien registriert und von szenekundigen Beamten genau beobachtet werden. Die österreichische Hooligandatei umfasst derzeit 82 Personen. Nach dem neuen Sicherheitspolizeigesetz können diese, falls die Behörden Unheil wittern, vor potenziell gefährlichen Matches aufs Kommissariat geladen und so lange „über die Rechtslage belehrt“ werden, bis die unmittelbare Gefahr vorüber ist.
Die Datei gewährt einen ersten Einblick in die gewaltbereite Fußballszene Österreichs: Der durchschnittliche Hooligan ist zwischen 18 und 35 Jahre alt, mehrfach vorbestraft und gesellschaftlich durchaus integriert. Jedelsky: „Akademiker haben wir zwar keine dabei, aber es handelt sich nicht notwendigerweise um Sozialfälle. Auf der Liste stehen auch Studenten, Angestellte und Schüler.“

Auch jene 22 Männer, die sich am Montag vergangener Woche im Grazer Bezirksgericht Ost wegen schwerer Körperverletzung und Sachbeschädigung im Umfeld des Regionalligamatches vom 9. Juni 2007 zwischen Blau-Weiß Linz und den Sturm Amateuren verantworten muss­ten, verbindet weder eine triste Kindheit noch die soziale Verelendung. Unter den Angeklagten fanden sich ein Zahntechniker, ein Krankenpfleger, ein Student und der Geschäftsführer eines Fassadenbauunternehmens. Gemeinsam dürfte ihnen freilich eine gewisse Uneinsichtigkeit sein: Trotz etlicher Beweisfotos plädierten die Angeklagten unter Angabe kreativer Ausreden („Ich wollte ihm nur aufhelfen“) auf unschuldig. Ein Umstand hat sich in den vergangenen Jahren nämlich nicht geändert: Die staatlichen Autoritäten zählen nicht gerade zum engeren Freundeskreis des organisierten Fußballfans. „All Cops Are Bastards“, lautet die international anerkannte Erkenntnis zur Behördenfrage.

Als oberstes Feindbild hat die Polizei allerdings ausgedient. Wesentlich ernster nehmen organisierte Fußballfans heute den Kampf „gegen den modernen Fußball“ – und meinen damit jenes tausendfach vermarktete Spektakel, das alte Fan- und Vereinstraditionen (Stehtribünen, Spielzeiten, im Extremfall sogar den Vereinsnamen) bereitwillig dem schnellen Reibach opfert. Dass bei der EURO kaum echte Problemfans erwartet werden, hängt auch mit deren Verachtung für das Turnier zusammen, das doch ohnehin nur für Familien und „Picknickfans“ ausgerichtet werde, die sich bloß zu Großereignissen für Fußball interessierten und dabei vor allem durch seltsame Hutkreationen und Gesichtsbemalungen auffällig würden.

„Picknickfans“. Trotzdem wird es auch bei der EURO unweigerlich zu Ausschreitungen kommen. „Alles können wir nicht verhindern“, räumt der Fanpolizist Peter Jedelsky ein. Denn auch der „Picknickfan“ ist – unter entsprechendem Alkohol- und Testosteroneinfluss – durchaus zu Gewaltexzessen fähig. Selbst die vermeintlich so friedliche „Deutschland-Party“ bei der WM 2006 verlief nicht immer ganz reibungslos. Nach dem Vorrundenspiel zwischen Deutschland und Polen kam es in Dortmund zu heftigen Krawallen mit 429 Festnahmen. Medial war davon allerdings nicht viel mitzubekommen. Veranstalter und Behörden hatten wohlweislich schon vorab angeregt, dass Presse und Fernsehen allfällige Ausschreitungen doch bitte eher nachrangig behandeln mögen. Philipp Köster, Chefredakteur des Berliner Fußballmagazins „11 Freunde“: „Es fand schon vor dem Turnier eine intensive Medienarbeit zur Frage statt, wie dieses Fußballfest denn zu deuten sein werde. Und tatsächlich herrschte ein stillschweigender Konsens, dass man sich dieses Fest nicht kaputt machen lassen werde.“ Auch vor der EURO in Österreich versucht man sich an einer ähnlich „offensiven Medienarbeit“, wie der Sicherheitsbeauftragte des Innenministeriums, Günther Marek, erläutert.

Doch selbst den „echten“, haupt­sächlich am Vereinsfußball interessierten Fan betrifft die ­EURO: Die massiven Sicherheitsbestimmungen im Rahmen der Turniervorbereitung schwappen längst auch in den Liga-Alltag hinüber. In den heimischen Fanklubs befürchtet man englische Verhältnisse – und diesmal ist das kein Ehrenzeichen: Die Stadien im Mutterland des Fußballs (und der Hooligankultur) gleichen heute Hochsicherheitsanlagen. Nach den Katastrophen von Hillsborough (wo am 15. April 1989 96 Liverpool-Fans im Stehplatzsektor erdrückt wurden) und im Brüsseler Heysel-Stadion (wo beim Europapokalfinale 1985 zwischen Liverpool und Juventus 39 Menschen von einer einstürzenden Mauer erschlagen wurden) wurden die alten Stehplatztribünen durch moderne Sitzplatz­arenen ersetzt. Der Mehrwert für die Behörden: Die neuen Arenen sind – auch dank umfassender Videoüberwachung – kinderleicht zu kontrollieren. „Inzwischen ist es in manchen Stadien schon so weit, dass man Schwierigkeiten bekommt, wenn man bloß aus seinem Sitz aufsteht“, berichtet Peter Klinglmüller, als ÖFB-Pressesprecher eines Hooligan-Apologismus durchaus unverdächtig.

Verlagerung. Die Gewalt verschwand damit allerdings keineswegs aus dem englischen Fußball. Sie verlagerte sich nur: auf die Straße, in die Pubs, in die unteren Ligen. Ähnliches ist auch in Deutschland zu beobachten, wo sich das Aggressionspotenzial nun in der Regional- und Kreisliga entlädt. Fanpolizist Jedelsky plädiert deshalb für ein behutsames Sicherheitskonzept im österreichischen Bundesligafußball: „Ich bin dagegen, in der Bundesliga eine solche Strategie zu fahren. In Deutschland muss heute nicht nur die ers­te, sondern auch die zweite und dritte Liga scharf kontrolliert werden. Der Personalaufwand ist enorm gestiegen.“ Dass gewalttätige Ausschreitungen im österreichischen Fußball heute kaum noch vorkommen, ist freilich nicht nur behördlichem Geschick zu verdanken, sondern hat auch fankulturelle Gründe. Das lange dominante englische Fanwesen und dessen extremer Vertreter, der Hooligan der achtziger Jahre, wurden in Europa in der vergangenen Dekade zusehends von der – italienisch geprägten – Ultra-Bewegung abgelöst. In Österreich wurde diese vor allem von den 1988 gegründeten Rapid-Ultras popularisiert, dem wohl bekanntesten und mit knapp 500 Mitgliedern auch größten Fanklub des Landes. Die Ultra-Bewegung – gegen Ende der sechziger Jahre in italienischen Fankurven entstanden – interessiert sich kaum für die berüchtigte „dritte Halbzeit“. Das Hauptaugenmerk liegt stattdessen auf einer bedingungslosen Identifikation mit dem Verein und der Selbstinszenierung im Stadion. In aufwändigen, wochenlang vorbereiteten Choreografien wird mit Fahnen, Doppelhaltern (einer Art Einmanntransparent), farbigen Zetteln und bengalischen Fackeln die eigene Mannschaft unterstützt, die Klubtradition hochgehalten und eine selbstbestimmte Fankultur zelebriert. „Wir haben es tatsächlich mit einer neuen Art von Jugendkultur zu tun“, erklärt die Wiener Soziologin Sabine Etl, die in den achtziger Jahren Streetwork-Projekte mit Wiener Hooligans durchführte und im Vorjahr eine große Studie zur lokalen Fankultur leitete. „Fußballfans werden gern als monolithischer Block wahrgenommen, als fanatisch, eher dümmlich und gewaltbereit. Tatsächlich haben wir es mit einer vielfältigen, lebendigen Fankultur zu tun. Die Ultras haben eine innovative Form gefunden, ihre Anliegen zu artikulieren. Dass Fußballfans kreativ und intelligent sein können, irritiert leider immer noch viele Beobachter.“

Jugendkultur. Etls Feldforschung in der Wiener Fanszene erschüttert so manches Klischee über den organisierten Fußballfan. „Wir haben es definitiv nicht mit einem Mob erwachsener Säufer zu tun“, erläutert die Soziologin. Tatsächlich sind die organisierten Rapid- und Austria-Fans sehr jung: Die Hälfte ist unter 20 Jahre alt, ein Drittel sogar unter 16 Jahre. Auch der Anteil weiblicher Fans steigt: Insgesamt ist laut Etl ein Viertel der Fankurven von Mädchen und Frauen besetzt; bei der Austria gibt es mit den Forza Viola Girls und den Ladies Austria Wien bereits zwei Frauenfanklubs. Auch das vielfach beschworene Gewaltpotenzial der Fußballfans ist zu differenzieren: Zwar scheuen auch die Ultras keine handfeste Auseinandersetzung, legen es aber nicht grundsätzlich auf Randale an. Auf polizeiliche Interventionen reagiert man allerdings höchst allergisch – und dank der ausgeprägten Solidarität innerhalb der Fangemeinde auch durchaus massiv. Etl: „Das Grundproblem scheint mir, dass die repressiven Strategien, die einst gegen die Hooligans entwickelt wurden, heute auf die Ultras angewendet werden und damit eine clevere, kreative Fankultur kriminalisiert wird.“ Ähnlich argumentiert auch der Fanpolizist Jedelsky: „Die Schuld an Eskalationen liegt natürlich bei den Fans, die etwas Gesetzwidriges machen. Eine gewisse Verursacherrolle kommt aber auch uns zu. Ideal wäre es, wenn die Polizei im Stadion weitgehend unsichtbar bleiben könnte.“
Noch scheitern die Beamten zwar regelmäßig an dieser doch etwas ungewohnten Vorgabe. Aber, wie jeder Fußballfan weiß: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das gilt auch für die EURO. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass erlebnisorientierte griechische Volleyballfans die Fanmeile stürmen, steht ohnehin die WEGA bereit.

Von Sebastian Hofer