Missbrauch. 'Das Messer am Hals'

Die Leiden eines Opfers, dem niemand glaubte

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Nun hat es ihre Schwester erwischt. Die kleine Hanna. Sieben Jahre ist sie alt. Sie war über Nacht bei ihrem Vater geblieben, der nach der Scheidung in eine andere Wohnung gezogen war. Als er das Mädchen zur Mutter zurückbrachte, wirkte es verstört. „Komisch“, sagten die Erwachsenen. Es sprach nicht, niemand durfte es berühren. Am linken Bein war ein bisschen Blut. Im Krankenhaus sahen die Ärzte, dass Hanna „unten ganz aufgerissen“ war. Eva P. sagt, „das Schwein“ habe das Mädchen „ziemlich zugerichtet“.

Vergewaltigt. Eva kann das Wort nicht aussprechen. Sie sitzt auf der Couch, drückt einen Pols­ter vor den Bauch und wirkt sehr müde. Als ihr Vater sie zum ersten Mal vergewaltigte, war sie auch erst sieben. Danach ging es weiter. Alle zwei Wochen. Neun Jahre lang. Erst an einem Tag im August hörte er damit auf. Kurz darauf hatte sie Geburtstag; es war ihr 16. Ihre kleine Schwester ist jetzt bei einer Pflegefamilie. Ihre „richtigen Eltern“ dürfen sie nicht mehr sehen. Vor Kurzem hat Eva mit Hanna telefoniert. Sie habe Sehnsucht nach ihrem Papa: „Sie ist ja erst sieben.“ Eva, die Große, weiß nicht, was sie ihr sagen soll: Sie ist selbst erst 21. Ihre eigenen Narben „da unten“ sind verheilt; doch manchmal quälen sie ihre Gedanken so sehr, als wäre alles erst gestern passiert.
Eva hat lange überlegt, ob sie ihre Geschichte erzählen soll. Sie hasse die Stadt ihrer Kindheit, sagt sie. In dem kleinen Dorf in Salzburg, in das sie vor Kurzem zog, hoffte sie, Ruhe zu finden. Reden führe gefährlich nahe an den Abgrund heran. Sie könnte jederzeit den Halt verlieren, abstürzen. Doch schweigen könne sie auch nicht mehr. Sie will, dass „endlich etwas passiert“.

Auszucker. Seit Eva denken kann, muss­ten sich alle nach dem Vater richten. „Wenn er etwas nicht gekriegt hat, ist er ausgezuckt.“ Und dann kriegte er es. Eva kommt 1986 auf die Welt. Sie hat von Geburt an einen Gehörschaden. Später wird ihr Opa erzählen, der Vater habe die Mutter in den Bauch getreten, als diese schwanger war. Immer wieder kommt die Polizei ins Haus. Eva wird herumgeschubst zwischen Eltern und Großeltern. Im Kindergarten fallen ihre blauen Flecken auf. Ihr Vater drischt sie wegen jeder Kleinigkeit. Zum Beispiel, wenn sie etwas nicht versteht. Erst mit drei Jahren besorgen ihr die Eltern ein Hörgerät. Weil keiner mit dem Mädchen redet, bleibt es sprachlich zurück. Mit sieben gibt das Jugendamt es zu einer Pflegefamilie. Als es in seinem neuen Zuhause ankommt, kocht gerade ein Himbeersaft am Herd. Nie wird es den Geruch vergessen. Das Mädchen hat vor allem Angst: vor Tieren, Gebäuden, Menschen und vor der Finsternis.

Der Vater holt seine Tochter alle zwei Wochen ab. Eva ist komisch; auf Männer, die ihr zu nahe kommen, haut sie hin. Niemand fragt nach; sie erzählt nichts. Das hat sie ihrem Vater versprochen, als er ihr wieder einmal das Messer an den Hals gehalten hat. Als sie 13 ist, reißt sie aus. Daraufhin bringt sie das Jugendamt in einer Wohngruppe unter. Mit 16 wird sie schwanger. Der Vater findet einen Arzt. Eva beobachtet, wie er dem Herrn Doktor einen Umschlag zusteckt. Die beiden Männer regeln die Sache. Der Arzt stellt ihr keine einzige Frage. Sie bekommt keinen Befund, keine Rechnung. Hätte nicht später einmal ein Gynäkologe Eva auf die Abtreibung angesprochen, sie hätte Zweifel, ob sie nicht nur schlimm geträumt hat.

In der Wohngemeinschaft weiß niemand, was die junge Frau durchmacht. Eines Tages schneidet sie sich mit der Rasierklinge die Pulsadern auf. Sie wird in die Psychiatrie eingeliefert, wo ihre Narben im Unterleib auffallen. Spuren der Vergewaltigungen. Jahrelang hatte der Vater ihr gedroht. Jetzt ändert er sein Verhalten. Sie dürfe zurück zu ihm, säuselt er. Sie müsse nur einen Falschen bezichtigen. Als Eva in einer größeren Runde – neben ihrem Arzt sind auch ihre Eltern anwesend – den Vergewaltiger nennen soll, gerät sie unter Druck: Den Vater verraten, damit er ins Gefängnis kommt?

Sie zeigt auf den neuen Mann ihrer Mutter. Ihren Stiefvater. Danach ruft sie den Sozialarbeiter beim Jugendamt an. Sie fleht, er möge ihr helfen, die Anzeige rückgängig zu machen. Dieses Mal hilft die Behörde, die sonst nie so genau nachgeforscht hat. Das Mädchen muss nach Wien fahren, wo es verschiedenen Therapeuten vorgeführt wird. Den wahren Täter verrät sie nicht, obwohl alle auf sie einreden. Sie schweigt. Doch sie schlägt um sich, läuft weg. Ab und zu macht sie Andeutungen. „Aber es hat eh keiner hingehört“, sagt sie. Nur der Vater. Wie oft hat er ihr gesagt, er habe sie lieb. „Ich liebe dich“, musste sie dann zu ihm sagen. Oft hatte er ihr dabei ein Messer an den Hals gesetzt. Danach vergewaltigte er sie. Am Ende werde alles gut, wenn sie nur nichts Falsches mache, versprach er.

Eines Tages schaut ein Erzieher Eva in die Augen und sagt: „Willst du mir nicht etwas erzählen?“ Sie hat Vertrauen zu ihm, und zum ersten Mal in ihrem Leben spürt sie so etwas wie „Rückhalt“. Das Mädchen setzt sich auf den Boden und redet. Sie schaut ihr Gegenüber nicht an. Einmal steht der Erzieher auf und telefoniert. Als sie fertig ist, bricht sie zusammen. Es ist, als hätte sie all ihre Kraft gebraucht, um sich die Geschichte herauszureißen. Danach wird sie von Angst und Scham überwältigt. Sie will weg. Am Gang stellt sich ihr ein Jugendlicher in den Weg. Sie schlägt ihn nieder und rennt in eine Gruppe von Rettungsleuten, die draußen warten. Sie spritzen dem Mädchen ein Beruhigungsmittel.

Als sie die Augen wieder aufschlägt, liegt sie in einem Bett in der Psychiatrie. Die Gesichter der Leute in den weißen Kitteln nimmt sie nur schemenhaft wahr. Die Eltern kommen und gehen wieder, auch andere Verwandte. Sie redet mit niemandem. Nicht einmal mit Max, ihrem Pflegebruder, den sie vor Jahren bekommen hat, damit sie nicht so allein ist. Zwei Wochen lang geht das so: Sie schweigt, ­isst, hört laute Techno-Musik. Die Pfleger sind nervlich bald am Ende; doch ihr Arzt sagt: „Lasst sie, sie braucht das jetzt.“ Es dauert ein halbes Jahr, bis sie entlassen wird. Sie macht Therapien und spielt Karten. Skip-Bo. Es ist ein Spiel, bei dem man schnell sein muss. Sie ist besessen davon. Ständig mischt sie die Karten; jeder, der ihr über den Weg läuft, muss sich auf eine Partie mit ihr hinsetzen: das Personal, andere Patienten, Max. Endlich hat Eva ein Spiel gefunden, bei dem fast immer sie gewinnt. Einmal wirft ihr der Pflegebruder im Zorn einen Stapel Karten nach.

Falscher Freund. Könnte sie das Leben draußen doch auch so gut bewältigen. Eva gerät an einen „falschen Freund“, einen Kriminellen, für den sie aus dem Heim abhaut. Er ist gewalttätig und dumm. Nach zwei Monaten klopft sie in ihrer alten Wohngemeinschaft an; sie bekommt eine zweite Chance. Von da an geht es ein biss­chen bergauf. Das Mädchen macht eine Therapie und beginnt eine Lehre. Doch sosehr sie sich bemüht, immer gibt es Streit. Eines Tages sitzt die junge Frau in einem Park vor einem Polizeiwachzimmer. Sie ist mit allen über Kreuz: den Erziehern, ihrem Freund, den Lehrern in der Berufsschule. Aufgewühlt und gequält von Erinnerungen, springt sie plötzlich auf, geht hinein und sagt: „Ich will mit einer Frau reden.“

Im Krankenhaus hatte man ihr gesagt, dass Missbrauchsopfer das Recht haben, mit einer Kriminalbeamtin zu reden. Es ist das einzige Recht, das sie bisher kennen gelernt hat. Darauf pocht sie. Ein Polizist sagt: „Beruhigen Sie sich zuerst einmal.“ Eine halbe Stunde später kommt eine Kollegin. Drei Stunden braucht Eva, um ihre Geschichte zu erzählen. Danach fragt die Polizistin: „Sind Sie okay? Sollen wir Sie ins Krankenhaus bringen?“ Was dann folgt, versteht Eva bis heute nicht. Ihrem Vater gelingt es, sie vor Gericht so unglaubwürdig zu machen, dass er im Zweifel freigesprochen wird. Seine Tochter bricht danach noch einmal zusammen. Bis heute geht sie in Therapie. Sie würde gerne die Fragen in ihrem Kopf ­abstellen: Warum hat das Gericht ihrem Vater geglaubt? Warum hat das Jugendamt nicht früher gehandelt? Warum ist ihre Mutter nie hinter ihr gestanden? Warum hat der Vater sie alle zwei Wochen sehen dürfen, als sie schon bei einer Pflegefamilie war? Warum haben die blauen Flecken im Kindergarten niemanden alarmiert, damals, als der Vater sie „nur“ geschlagen und noch nicht vergewaltigt hat? Warum ist nie etwas passiert?

„Ich kriege nie eine Antwort“, sagt Eva. In dem Heim in der Stadt, aus der sie weggezogen ist, liegt eine schwarze Mappe. Darin sind Briefe vom Jugendamt, die Krankengeschichte aus der Psychiatrie, gynäkologische Befunde. Sie würde sie gerne in aller Ruhe durchlesen. Vielleicht würde sie noch etwas verstehen. Doch der alte Heimleiter ist in Pension, der neue will sie ihr nicht geben. „Es ist eine dicke Mappe“, sagt Eva. Ihr Vater hat eine Arbeit, eine neue Frau, neue Kinder. Vor einigen Wochen rief die Polizei bei Eva P. an, sie solle aufs Wachzimmer kommen.
Nun hat es also ihre Schwester erwischt.

Von Edith Meinhart