Mohammeds Flucht aus Ägypten

Mohammed ElBaradeis Flucht aus Ägypten

Ägypten. Hexenjagd gegen Mohammed ElBaradei

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Von Gerald Drißner/Kairo und Martin Staudinger

Wann genau der Moment kam, in dem ihm endgültig klar wurde, dass er dem Wahnsinn nichts entgegenzusetzen hatte, will Mohammed ElBaradei nicht sagen – es ist aber gut möglich, dass es am Abend des 9. Juli war.
An diesem Dienstag im vergangenen Sommer warf sich Tawfik Okasha, Starmoderator des TV-Senders Al-Faraeen, zur besten Sendezeit vor der Kamera in Pose und richtete eine bange Frage an die Nation: „Oh, ägyptisches Volk, wer ist der Vertreter der Amerikaner, der EU, der weltweiten Freimaurer, mit Sitz in Ägypten? Der Mann, der den Irak zerstört hat, als er bei den Vereinten Nationen war und im Auftrag der Freimaurer das Öl holen sollte?“

Es brauchte nicht viel, um die Antwort zu erraten: „Es ist Professor Doktor ElBaradei“, donnerte der Fernsehmann.

Nur wenige Stunden zuvor war ElBaradei zum Vizepräsidenten der Republik Ägypten designiert worden: als Angehöriger einer Übergangsregierung, die das Militär nach der Entmachtung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi eingesetzt hatte.

Und nur wenige Wochen später gab ElBaradei seinen Rücktritt bekannt, um Ägypten gleich darauf geradezu fluchtartig zu verlassen: Von der Armeeführung fühlte er sich als Feigenblatt missbraucht, das einer neuen Militärdiktatur Legitimität verleihen sollte – und von den Islamisten als Inkarnation des westlich-liberalen Bösen zum Abschuss freigegeben.
Der Mann, der zu Beginn des Arabischen Frühlings als demokratischer Hoffnungsträger aus dem Ausland nach Ägypten zurückgekehrt war (siehe Infobox am Ende), ist zum Gejagten geworden, zur Hassfigur, zur Projektionsfläche für aberwitzige Verschwörungstheorien – und kann sich des Lebens in seiner Heimat nicht mehr sicher sein.
Mohammed ElBaradei möchte sich derzeit nicht persönlich dazu äußern. profil hat die Geschichte seiner Vertreibung daher in Gesprächen mit Bekannten und Weggefährten rekonstruiert.
Eigentlich beginnt sie bereits Monate vor seiner Rückkehr in die Heimat: Und zwar in Wien. Im November 2009 endete bei der Atomenergiebehörde IAEO die Ära von Generaldirektor ElBaradei – nach zwölf Jahren und drei Amtszeiten, deren Höhepunkt die Verleihung des Friedensnobelpreises gewesen war.

Naive Hoffnung
Während in Ägypten die Macht von Hosni Mubarak noch ungebrochen schien, wurde ElBaradei von Freunden gedrängt, sich in seiner Heimat politisch zu betätigen. Der damals 68-Jährige zeigte sich durchaus interessiert. Bedingung: Konkrete Chancen, das System zu reformieren, das komplett auf den Machterhalt des greisen Langzeitherrschers Mubarak ausgerichtet war.

Vielleicht war die Hoffnung darauf von vornherein naiv. Aber zu diesem Zeitpunkt durfte ElBaradei noch auf die Kraft seiner internationalen Reputation vertrauen. Obwohl – oder weil – er den größten Teil seines Lebens im Ausland verbracht hatte, hielt man in Ägypten große Stücke auf ihn.

Hatten die Zeitungen anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises im Herbst 2005 nicht begeisterte Reportagen aus dem Kairoer Stadtteil El-Dokki gebracht, wo ElBaradei aufgewachsen war? In einer davon kam seine Mutter Aida mit einem schönen, patriotischen Satz zu Wort: „Mohammed ist nicht nur mein Sohn. Er ist der Sohn Ägyptens“, erklärte die alte Dame erkennbar gerührt.
Doch das war lange, bevor ElBaradeis politische Ambitionen ruchbar wurden. Kaum hatte er sich Anfang 2010 als potenzieller Herausforderer von Hosni Mubarak zu erkennen gegeben, da änderte sich der Tonfall radikal: ElBaradei rufe zum Putsch auf, warfen ihm Regierungsblätter nunmehr vor.

Eine Wahlkampfreise in das trostlose Nildelta, die ElBaradei im April 2010 unternahm, geriet in der Berichterstattung zum Desaster. Der Mann habe sein Arabisch verlernt und sei ein miserabler Redner, urteilte „Al-Ahram“, die auflagenstärkste Zeitung des Landes. Für seine internationale Karriere wurde er nicht mehr gelobt, sondern vielmehr verdammt: Nach 30 Jahren in Europa und den USA verstehe er Ägypten nicht mehr, mäkelte „Al-Ahram“ weiter und knallte postwendend ein Foto auf die Titelseite, das
ElBaradei gemeinsam mit der US-Botschafterin zeigte.
Die Botschaft war klar: „Er ist Amerikas Mann in Ägypten“, analysierte der Politologe Amr Haschem Rabia. Gleichzeitig erhob die Zeitung „Al-Gomhuria“ den Vorwurf, ElBaradei besuche für seine Kampagne „Moscheen und Kirchen, die ihm 30 Jahre lang egal waren“.
Ein Handlanger des US-Imperialismus also. Und ein gottloser Opportunist.
Aber das war erst der Anfang. Im September 2010 erstellten Unbekannte eine Facebook-Seite unter dem Titel „Geheimnisse der Familie ElBaradei“. Dort lud eine Frau, die sich als Freundin seiner Tochter Laila ausgab, 33 Fotos hoch.

Sie zeigen Laila in Situationen, die vielen muslimischen Ägyptern befremdlich erscheinen mussten: Wie sie in einem weißen Badeanzug mit schwarzen Pünktchen am Strand spaziert. Wie sie mit einem Hund spielt. Und schließlich, wie sie und ihr Vater an einem Tisch mit Gläsern sitzen, in denen Alkohol sein könnte. Und da war noch ein „Geheimnis der Familie ElBaradei“, das die Öffentlichkeit erfahren sollte: Dass die Muslimin Laila einen Christen geheiratet und sich als Agnostikerin bekannt habe.
Die staatliche Zeitung „Al-Akhbar“ nahm das Thema dankbar auf, druckte die Fotos ab und gab dem Artikel eine Schlagzeile, der keinen Zweifel über seine Intentionen ließ: „Soll ihr Vater unser Land regieren?“
Umgehend meldete sich die Muslimbruderschaft, deren Führer damals mehrheitlich im Gefängnis saßen, zu Wort: „Die konservative ägyptische Gesellschaft wird nicht tolerieren, dass ElBaradei mit diesem schändlichen Verhalten an die Macht kommt.“ Im Moment sei jedoch „die Demokratie wichtiger als der Bikini von ElBaradeis Tochter“.

Dennoch: Das Gerede um diesen Badeanzug führte dazu, dass der international erfahrene Politiker ElBaradei nach und nach in einen Sog von Verschwörungstheorien, den sogenannten „Muamarat“, gezogen wurde – und der kann am Nil mächtiger sein als jede Logik und Vernunft.
Das bekam ElBaradei zu spüren, als er im Jänner 2011 nach Ägypten zurückkehrte, um sich den gerade ausgebrochenen Protesten gegen Hosni Mubarak anzuschließen.

„Übrigens, hier spricht man Arabisch!“
Mohammed Gharib, Reporter der unabhängigen Zeitung „Al-Masry Al-Youm“, war am Flughafen, als der Nobelpreisträger aus Wien einflog. In der Ankunftshalle warteten bereits dutzende ägyptische und internationale Journalisten: „Er sah die Ausländer, ging auf ihre Kameras zu und hat einfach nur noch Englisch geredet“, erinnert sich Mohammed Gharib. „Du bist in Ägypten, und übrigens, hier spricht man Arabisch!“, soll ein einheimischer Reporter daraufhin gebrüllt haben.

Dann kam die Revolution, Mubarak wurde gestürzt – aber auch danach ließen die Angriffe auf ElBaradei nicht nach. Immer wieder musste er den Lebensstil seiner Tochter, die mit einem Investmentbanker verheiratet ist und in London lebt, rechtfertigen. Selbst in der TV-Talkshow von Jusri Foda, einem der liberalsten Journalisten Ägyptens, kam das Thema aufs Tapet. Natürlich habe Laila gemäß den islamischen Vorschriften geheiratet, beteuerte ElBaradei. In der ägyptischen Botschaft in Wien sei das gewesen. Und natürlich sei ihr Ehemann vor der Hochzeit zum Islam übergetreten.
Vielleicht hatte ElBaradei tatsächlich zu viel Zeit außerhalb des Landes verbracht, um die Tragweite der Gerüchte richtig einzuschätzen. In dem Ägypten, das er nun vorfand, waren die Freitagspredigten aus den Moscheen gelegentlich sogar als Live-Übertragung in Fastfood-Restaurants zu hören – und selbst Waschräume wurden über Lautsprecher mit Koransuren beschallt.

Im März dieses Jahres wurden im Nildelta zwei Ägypter von einem improvisierten Scharia-Gericht gelyncht. ElBaradei brachte daraufhin seine Erschütterung öffentlich zum Ausdruck. Im Juni schleifte ein Mob in der Nähe von Kairo vier Schiiten durch die Straßen und ermordete sie schließlich bestialisch. Der Nobelpreisträger twitterte als Reaktion darauf, das sei „ein abscheuliches Ergebnis der religiösen Intoleranz“.
Im Westen kam das gut an. In Ägypten machte es ihn noch mehr verdächtig. Das war etwa zu spüren, als er in einer Talkshow des Senders CBC mit Fragen von Zusehern konfrontiert wurde.

Was es denn mit seiner „Beziehung zur Organisation von George Soros, dem Juden“ auf sich habe, lautete eine davon. Soros ist ein gebürtiger Ungar jüdischer Herkunft, der nach Amerika auswanderte und heute ein milliardenschwerer Spekulant und Investor ist. ElBaradei wirkte irritiert und genervt, der Moderator hakte nach: „Das Thema beunruhigt viele Ägypter!“ ElBaradei räumte seine ehemalige Mitgliedschaft bei der „International Crisis Group“ ein, die auch von Soros finanziell unterstützt wird – und wies fast verzweifelt darauf hin, dass „da auch Leute aus der Türkei dabei sind“.
Es war einer von vielen Versuchen, die Realitäten zurechtzurücken, und er blieb natürlich erfolglos. Denn die radikalislamischen Salafisten, mit fast 30 Prozent in der Wählergunst eine veritable Volkspartei, machten auf ihrem TV-Sender Al-Nas daraus zunächst eine Verbindung zu den Freimaurern – und später gar zu einem angeblichen jüdischen Geheimbund mit Kontakten zu Satanisten.

Erst Mubarak, dann der Militärrat, anschließend die Muslimbrüder: Egal, wer gerade an der Macht war, die Hexenjagd gegen ElBaradei ging ununterbrochen weiter.

Warum eigentlich? „Unter Mubarak, weil ElBaradei für freie, faire Wahlen eintrat und als aussichtsreicher Kandidat angesehen wurde“, sagt ein Weggefährte des Friedensnobelpreisträgers. „Unter dem Militärrat, weil er von der Armee verlangte, sich für ihr Vorgehen in die Verantwortung nehmen zu lassen und Transparenz zu zeigen. Und unter den Muslimbrüdern, wegen seiner liberalen, säkularen Einstellung.“
Mittlerweile ist das Internet voll von kruden Videos und Interviews, die beweisen sollen, dass ElBaradei einen teuflischen Auftrag gehabt habe: Ägypten zu zerstören.

Wer bei YouTube auf Arabisch nach den Begriffen „ElBaradei“ und „Spion“ sucht, bekommt mehr als 2300 Treffer. Einige der mit bizarren Anschuldigungen gespickten Filme wurden über eine halbe Million Mal abgerufen. Ihr fragwürdiger Erfolg hat maßgeblich dazu beigetragen, dass viele Ägypter überzeugt sind, ElBaradei sei wahlweise Jude, Atheist, Freimaurer, CIA-Agent oder gar Schiit – also Mitglied jener muslimischen Glaubensgemeinschaft, die im sunnitischen Ägypten tief verhasst ist.
Umso überraschender kam es, dass nach dem Militärputsch gegen Präsident Mohammed Mursi im Juli ausgerechnet ElBaradei zum Vizepräsidenten ernannt wurde. Die Generäle hätten damit von Anfang an das Ziel verfolgt, ihre neue Gewaltherrschaft durch ein international anerkanntes Aushängeschild zu legitimieren, ist man sich in der Umgebung des Friedensnobelpreisträgers sicher.

Das konnte nicht lange gutgehen. Als die Armee am 14. August die Proteste gegen Mursis Entmachtung mit einem Massaker an hunderten Islamisten niederschlugen, gab ElBaradei seinen Rücktritt bekannt: „Für keinen Tropfen Blut will ich mich vor Gott verantworten“, schrieb er in einem Brief, bevor er das Land verließ.

Gezählte 50 Kommentare in ägyptischen Zeitungen verurteilten ihn in den darauffolgenden Tagen aufs Schärfste. Nunmehr fühlen sich viele von ElBaradeis Landsleuten in ihrer Abneigung bestätigt. Die einen, weil er sich nach Österreich absetzte, als es brenzlig wurde. Und die anderen, weil sie in seiner überstürzten Abreise den Beweis sehen, dass ElBaradei seinen eigentlichen Auftrag erfüllt habe: das Land ins Chaos zu stürzen.
Inzwischen lässt sogar die im April 2012 von ihm gegründete Partei „Dustour“ („Verfassung“) ausrichten, ElBaradei habe nichts mehr mit ihr zu tun.

Am übernächsten Samstag soll sich der frühere Hoffnungsträger vor Gericht verantworten – wegen des Verdachts, durch seinen Rücktritt „das Vertrauen des ägyptischen Volkes verraten“ zu haben. Das Verfahren beunruhige ihn nicht, berichten seine Freunde. Der Vorwurf, sein Land im Stich gelassen zu haben, treffe ihn aber schwer.

Zu Wort meldet er sich persönlich vorerst nur über Twitter. Dort beklagte er sich zuletzt am 29. September über eine „systematische, faschistische Kampagne“ und sprach eine eindringliche Warnung aus: „Gewalt erzeugt nur wieder Gewalt.“

Eine Rückkehr nach Ägypten will ElBaradei vorerst offenbar nicht riskieren. Auch, wenn einige seiner schärfsten Gegner dort inzwischen verstummt sind – die Propagandisten der TV-Station Al-Faraeen zum Beispiel: Die Generäle haben den Kanal wegen regimekritischer Tendenzen Mitte September einfach abgedreht.

Infobox

Hohe Erwartungen, tiefe Enttäuschung
Der bisherige Verlauf des Arabischen Frühlings in seiner Heimat Ägypten war für Mohammed ElBaradei, 71, ein Auf und Ab aus Erfolgen, Rückschlägen, hohen Erwartungen und tiefer Enttäuschung. Als er sich zwei Tage nach Beginn der Straßenproteste gegen Langzeitherrscher Hosni Mubarak am 27. Jänner 2011 den Demonstranten anschloss, machte er sich Hoffnungen darauf, eine allfällig eingesetzte Übergangsregierung zu leiten. Daraus wurde allerdings nichts. Berichte, er habe von der Muslimbruderschaft und vier weiteren Oppositionsgruppen ein Verhandlungsmandat bekommen, erwiesen sich als falsch. Seine Ankündigung vom 7. März 2011, als Präsident zu kandidieren, war etwas voreilig, weil zunächst die Armee für fast eineinhalb Jahr die Macht übernahm. Danach wollte ElBaradei seinerseits nicht mehr antreten.
Im Frühling 2012 gründete ElBaradei die Partei „Dustour“ („Verfassung“). Ihr Ziel war es, die Prinzipien und Errungenschaften der Revolution zu verteidigen – zunächst gegen die Muslimbruderschaft, deren Kandidat Mohammed Mursi nach seiner Wahl zum Präsidenten einen immer autoritäreren Kurs einschlug. Um gegenzusteuern, formte „Dustour“ im November vergangenen Jahres aus mehr als drei Dutzend säkularen Parteien und Gruppen die „Nationale Heilsfront“.

Was damals niemand ahnen konnte: Schon bald sollte ihr Gegner nicht mehr die Muslimbruderschaft sein, sondern die Armee, die im Juli dieses Jahres Präsident Mursi stürzte. ElBaradei wurde in der Folge zum Vizepräsidenten ernannt – ein Amt, das er allerdings nur vier Wochen ausübte, bevor er unter Protest gegen die blutige Niederschlagung von islamistischen Protesten gegen den Militärputsch seinen Rücktritt erklärte und sich vorerst komplett aus der Politik zurückzog.

Foto: Philipp Horak für profil