Montenegro: Staat 193, Adria-Republik

Montenegro: Staat 193

Schwierige Geburt eines neuen Nationalstaates

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Am Tag nach dem geglückten Unabhängigkeitsreferendum gab es in Montenegro zwei Sorten von Arbeitnehmern, erzählte am vergangenen Montagabend die 29-jährige Gordana, Angestellte der montenegrinischen Telekom: „Die einen erschienen irgendwann am späten Vormittag zur Arbeit, übernächtig und immer noch leicht euphorisch. Die anderen hatten seit Dienstbeginn traurig oder grimmig hinter ihren Schreibtischen gesessen.“

Die Frage, ob sich das kleine Adria-Land mit gerade mal 650.000 Einwohnern und keinen nennenswerten Ressourcen außer einer malerisch schönen Meeresküste aus dem Verbund mit Serbien lösen und ein eigener Staat werden soll, spaltet seit fast zehn Jahren die montenegrinische Bevölkerung. Der Riss geht nicht nur durch Firmen und Institutionen, sondern mitunter durch Clans und Familien. Dennoch: Am Sonntag der vergangenen Woche sprach sich – bei einer Rekordwahlbeteiligung von 86,5 Prozent – eine Mehrheit von 55,5 Prozent der Bürger für die Unabhängigkeit aus. Der 193. Staat der Welt war geboren, die letzte von fünf nichtserbischen Teilrepubliken des alten Jugoslawien ist selbstständig geworden.

Freudenschüsse. Das Ergebnis überschritt haarscharf die von der EU und ihrem „Außenminister“, dem Spanier Javier Solana, gelegte Latte von 55 Prozent. Das gegenüber dem Kleinstaat mächtige Brüssel hatte sie zur Bedingung dafür gemacht, dass ein mehrheitliches Ja ein Ja zur Unabhängigkeit bleiben darf. Knapp 2100 Stimmen für die Souveränität ersparten den Beteiligten einschließlich der EU unabsehbare Komplikationen. Hätten nur 54,9 Prozent mit Ja gestimmt, wäre das Votum wegen des knappen Verfehlens dieses auch international einzigartigen Quorums formell gescheitert. Die Stimme eines Unionisten hätte dann mehr gezählt als die eines Souveränisten.

Doch dazu kam es glücklicherweise nicht. Noch in der Referendumsnacht gaben sich die Unabhängigkeitsbefürworter ihrer Freude hin. Durch die Hauptstadt Podgorica rasten Autos, deren Insassen die alte montenegrinische Fahne mit dem Doppeladler schwenkten. Vor dem Regierungssitz versammelten sich 2000 Menschen, die in seltsamem Neo-Europäisch „Eviva Montenegro!“ riefen – in der eigenen Sprache heißt das Land Crna Gora (Schwarzer Berg). In der ehemaligen königlichen Hauptstadt Cetinje wurde viel in die Luft geschossen. Ein zahnloser Greis in historischer Tracht feuerte abwechselnd aus drei Pistolen. „Die hat einst meinem Großvater gehört“, krächzte er, „die ist von meinem Vater, und die ist meine.“

„Wir haben die Unabhängigkeit gewonnen, und wir werden sie nicht mehr aus der Hand geben“, erklärte der montenegrinische Ministerpräsident Milo Djukanovic. Seit 1991 steht er faktisch an der Spitze der Republik, seit 1997, als er sich mit seinem politischen Ziehvater Slobodan in Belgrad überwarf, betreibt er das Projekt Unabhängigkeit. Anders als Kroatien und Slowenien verfügte das Adria-Land schon einmal über Eigenstaatlichkeit. Die Osmanen, die sich nach dem Fall von Byzanz über den ganzen Balkan ausbreiteten, vermochten die widerständischen, christlich-orthodoxen Slawen in den Bergen und Tälern des heutigen Montenegro nie ganz zu unterjochen. Ab dem 18. Jahrhundert behaupteten sich dort die Fürstbischöfe der Njegos-Dynastie und bewahrten das, was die Serben heute als die Kontinuität ihrer Kultur betrachten. Nach dem Berliner Kongress 1878 wurde das Königreich Montenegro international anerkannt.

Ob die Montenegriner ein eigenes Volk oder einfach Serben sind, die serbische Wörter mit kroatischem Zungenschlag aussprechen, war schon damals umstritten. Nach dem Ersten Weltkrieg, aus dem Serbien gestärkt hervorgegangen war, wurde Montenegro dem neu geschaffenen südslawischen Königreich einverleibt. Beim damaligen Referendum waren die „Grünen“, die Befürworter einer Unabhängigkeit, gegenüber den „Weißen“, den Unionisten, unterlegen. Die Bezeichnung stammt von der Farbe der jeweiligen Stimmzettel.

Glücksritter. Im kommunistischen Jugoslawien Titos erhielt Montenegro den Status einer vollberechtigten Teilrepublik. Den Montenegrinern passte das dermaßen, dass sie Anfang der neuziger Jahre, als sich alle anderen Landesteile zum Teil in blutigen Kriegen und Aufständen abzuspalten begannen, freiwillig in der restjugoslawischen Föderation verblieben, obwohl diese nur noch aus Serbien und Montenegro bestand. Montenegrinische Soldaten und Offiziere beteiligten sich an der Beschießung des kroatischen Adria-Juwels Dubrovnik und an den serbischen Kriegszügen und Massakern im Osten des benachbarten Bosnien-Herzegowina.

Djukanovic, der 1991 an seinem 29. Geburtstag erstmals Republikspremier geworden war, hatte bis dahin die Politik von Milosevic unterstützt. Die internationalen Wirtschaftssanktionen trafen logischerweise Montenegro ebenso wie Serbien. Milosevic gab seinen Statthaltern in Podgorica freie Hand, unter Nutzung der Küste sowie der Nähe zu Italien ein gigantisches Schmuggelkartell aufzuziehen. Zigaretten im Wert von hunderten Millionen Dollar wurden aus den USA zollfrei nach Montenegro importiert, dort „zwischengelagert“ und dann mit Schnellbooten über die Meeresstraße von Otranto nach Italien geschmuggelt. Kriminalität und Schwarzwirtschaft blühten, Montenegro wurde zum Eldorado der Glücksritter und Kriegsgewinnler. Italienische und deutsche Staatsanwaltschaften ermittelten gegen Djukanovic, an die 70 Morde sollen auf das Konto der Verteilungskämpfe der dem Schmuggelsumpf entsprungenen Mafiosi gegangen sein.

Die Wende. Djukanovic und sein Clan mögen sich in dieser Zeit maßlos bereichert haben, doch seine staatspolitischen Ziele verlor der fast zwei Meter messende ehemalige Basketball-Spieler nicht aus den Augen. Als er sich am Vorabend des Kosovo-Krieges mit Milosevic zerkrachte, weil dieser das „alte politische Denken“ nicht abzuschütteln vermochte, war Djukanovic plötzlich der Liebling der internationalen Gemeinschaft. Tatsächlich war Montenegro politisch anders geworden: Während im autoritären Politikverständnis von Milosevic für Minderheiten, die sich nicht bedingungslos unterordneten, kein Platz war, verstand es Djukanovic, die sieben Prozent Albaner und 14 Prozent slawischen Moslems (Bosniaken) in sein Staatswesen zu integrieren. Als während des Kosovo-Krieges 1999 zehntausende Albaner nach Montenegro flüchteten, kam es zu keinen Problemen. In derselben Zeit genossen demokratische Oppositionelle des Milosevic-Regimes wie Vuk Draskovic oder der spätere, 2003 in Belgrad ermordete Ministerpräsident Zoran Djindjic bei Djukanovic Schutz und Asyl. Das unter Djukanovic gewendete Montenegro war nie ein nationalistisches Projekt, sondern der Entwurf eines Bürgerstaates in Opposition zum großserbischen Wahn.

Der Sturz von Milosevic im Oktober 2000 brachte Serbien zwar die Demokratie, doch konnte sich der Großteil der neuen politischen Elite nicht aus seiner nationalistischen Befangenheit lösen. Besonders nach der Ermordung des reformwilligen Djindjic, der 2001 Milosevic praktisch in Eigenregie an das Haager Tribunal ausgeliefert hatte, wo dieser im vergangenen März vor dem Abschluss seines Monsterprozesses starb, gewannen unter dem nationalistischen Premier Vojislav Kostunica restaurative Tendenzen die Oberhand. EU-Außenminister Javier Solana und mit ihm die Union beharrten aber weiter auf der unreflektierten Losung eines „demokratischen Montenegro in einem demokratischen Jugoslawien“. 2002 hielt Solana Montenegro aus Sorge um die Stabilität auf dem Südbalkan von einem Unabhängigkeitsreferendum ab. 2003 wurde die ungeliebte Union Serbien-Montenegro gegründet, mit einer Laufzeit von drei Jahren, nach der erstmals ein Referendum möglich sein würde. Funktioniert hatte sie nie wirklich. Montenegro hatte bereits 1999 die D-Mark (später den Euro) eingeführt, verfügte seit Langem über eigene Polizei und Grenzschutz und über eine eigene Gerichtsbarkeit. Bei Privatisierung und Wirtschaftsgesetzgebung ist Montenegro Serbien gut ein paar Jahre voraus. Es ging allein um die Wahrung der Fassade eines Rests von gemeinsamer Staatlichkeit. „Solania“ nannten Spötter dieses Gebilde nach seinem Schöpfer.

Doch selbst die wenigen gemeinsamen Zuständigkeiten behinderten Montenegro bis zuletzt. Im April hatte die EU die Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen – die Vorstufe zum Kandidatenstatus – abgebrochen, weil Serbien den vom Haager Tribunal gesuchten Ex-General Ratko Mladic noch immer nicht ausgeliefert hatte. Die Verhandlungen führte Brüssel bislang mit der Union, weswegen sich Montenegro völlig zu Unrecht wegen Mladic bestraft sah. Dieses Hindernis ist nun beseitigt. „Die europäische Perspektive steht Montenegro offen“, erklärte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn vergangene Woche. „So wie sie Serbien offen steht, sobald es seine Verpflichtungen gegenüber dem Haager Tribunal erfüllt.“ Die montenegrinische Europaministerin Gordana Djurovic freut sich auf die Wiederaufnahme der Verhandlungen, denen sie nun als Vertreterin eines souveränen Landes beiwohnen wird. „Wir klopfen nicht aggressiv an die Tür der EU“, versuchte sie am letzten Dienstag im profil-Gespräch die Befürchtungen erweiterungsmüder europäischer Regierungen und Bürger zu zerstreuen. „Wir wissen, wo wir stehen, und machen keinen Druck, uns morgen oder übermorgen aufzunehmen.“ Ihrem Land gehe es „um die Qualität des Integrationsprozesses, nicht um Fristen und Zeitpunkte“.

Trennung. Zunächst ist aber eine saubere Scheidung von Serbien vonnöten. Viel hängt von Belgrad ab. Der serbische Präsident Boris Tadic erklärte vergangene Woche, das Ergebnis des montenegrinischen Referendums sei zu akzeptieren. Kostunica, der zuvor die Unionisten offen unterstützt hatte, hüllte sich vorerst in Schweigen. Der serbische Arbeitsminister Slobodan Lalovic polterte, dass Montenegriner künftig „wie Ausländer“ zu behandeln seien. Schon im Vorfeld des Urnengangs hatte die Drohung im Raum gestanden, dass es für die Montenegriner mit Gratisstudienplätzen an serbischen Universitäten und Gratisversorgung in serbischen Krankenhäusern bald vorbei sein könnte. Montenegro hingegen garantiert allen Serben, die Ferienhäuser und -wohnungen an der Küste besitzen, ihre unumschränkten Eigentumsrechte.

Die Befürworter der Unabhängigkeit scheinen mögliche Widrigkeiten in Kauf zu nehmen. Der Schauspieler Zeljko Radunovic, dessen Tochter Ana in Belgrad Politologie studiert, betont: „Ich unterstütze sie weiter, so lange es in meinen Möglichkeiten steht.“ Für ihn ist es wichtiger, „wieder ein eigenes Land zu haben“. Vor 1990 sei dies eben das alte Jugoslawien gewesen. „Aber welchen Sinn macht es, in einem halben oder einem Viertel-Jugoslawien zu verbleiben, wenn sich die anderen verabschiedet haben?“

Die rund 30 Prozent montenegrinischen Bürger, die sich als Serben bezeichnen, fürchten hingegen wirtschaftliche Schwierigkeiten auf sich zukommen. „Montenegro ist klein“, meint die Pensionistin Mika Vujosevic beim morgendlichen Einkauf auf dem Bauernmarkt von Podgorica. „Die Produkte, die zum Großteil aus Serbien kommen, werden teurer werden.“ Der Gerichtsreporter Komen Radevic orakelt: „Dieses Land ist arm, hat eine hohe Arbeitslosigkeit und hängt von ausländischer Hilfe ab. Wie soll das gut gehen?“ Wirtschaftsexperten teilen diesen Pessimismus allerdings nicht.

Die große Zeit der Schmuggler und Kriminellen ist in Montenegro vorbei. Dennoch bestimmen nach wie vor informelle Netze, die sich in der turbulenten Transformation herausgebildet haben, ebenso wie Protektion und Korruption weite Teile des Lebensalltags. Die regierende Demokratische Partei des Sozialismus (DPS) trägt immer noch die Züge der alles durchdringenden Staatspartei. Wer in der kleinen Republik nicht „dazugehört“, hat viel geringere Chancen, einen akzeptablen Job zu ergattern oder im Geschäftsleben zu reüssieren. Vor allem junge Leute sind von dem „System Djukanovic“ enttäuscht. Dennoch haben sie bewusst für die Unabhängigkeit gestimmt. „Bislang konnten sich die Herrschenden auf die ungelöste Statusfrage ausreden“, erklärt der 25-jährige Sportjournalist Ivan Radovic. „Damit ist es jetzt vorbei. Jetzt müssen sie dafür geradestehen, was sie tun oder unterlassen.“

Zukunft. Und was wäre auch die Alternative gewesen? „Die Unionisten wollen ja nicht nur einfach den Staatenbund bewahren“, meint der Schriftsteller und Publizist Andrej Nikolaidis. „Sie wollen wiederherstellen, was uns Hyperinflation, Sanktionen, Kriege und NATO-Bomben beschert hat.“ Der 32-jährige Jungautor, der sich selbst ganz unbescheiden „zwischen Thomas Bernhard und Thomas Pynchon angesiedelt“ sieht, brachte im angesehenen kroatischen Durieux Verlag seinen Roman „Mimesis“ heraus. Darin geht es um die komplexe Verschränkung von Völkern und Völkerschaften im ehemaligen Jugoslawien, wobei er auf die Geschichte seiner eigenen, griechischstämmigen Familie zurückgreift. Auf der Terrasse des Künstlercafés „Karver“ genießt Nikolaidis mit Freunden und Schriftstellerkollegen den lauen Abend danach.

An die hundert Drohbriefe und Hass-Mails habe er bekommen, weil er in Kolumnen der Wochenzeitung „Monitor“ seine Argumente für die Unabhängigkeit dargelegt hatte. Zwischendurch blickt er immer wieder auf die Uhr. Er ist als scharfzüngiger Kommentator gefragt, einen Auftritt im Fernsehen hat er noch zu absolvieren. „Jetzt besteht zumindest Hoffnung auf eine bessere Zukunft“, bringt er es für sich auf den Punkt. „Vorher bestand nicht einmal die.“

Von Gregor Mayer, Podgorica