Münchhausen hatte Recht

Münchhausen hatte Recht: Ohne Lügen würde die Gesellschaft zerbrechen

Psychologie. Ohne Lügen würde die Gesellschaft zerbrechen

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Haben Sie sich heute schon die Hände gewaschen?“, fragt Cal Lightman den Hot-Dog-Verkäufer vor seinem Büro, als er gerade die Wurst in das Weißbrot stopft. „Ja sicher“, antwortet dieser und kratzt sich verlegen am Hals. „Sie lügen“, enttarnt der lebende Lügendetektor, der vom FBI, von der Staatsanwaltschaft und der Polizei zur Dechiffrierung von Lügen anhand von körpersprachlichen und mimischen Signalen engagiert wird, den Verkäufer. Und setzt noch eine Frage drauf: „Waren Sie heute schon auf der Toilette?“ Der Angesprochene verneint und fasst sich dabei an die Nase: Das Berühren von Hals oder Nase gehören zum gestischen Grundinventar eines Lügners. Daraufhin brüllt Lightman, dargestellt von dem auf Exzentriker und Freaks spezialisierten Tim Roth, quer über den Platz: „Kommt her, Leute, hier gibt es frische Fäkalien.“ In der US-Serie „Lie to Me“, die jeden Mittwoch auf Vox ausgestrahlt wird, zeigt Lightman, wie er durch die Entschlüsselung von „micro expressions“, oft auf eine Zehntelsekunde beschränkte Gesichtsregungen, die Wahrheit unter den verbalen Lügen- und Täuschungsmanövern seiner Gesprächspartner extrahiert.

Die Serie basiert auf den Erkenntnissen des US-Psychologieprofessors Paul Ekman, der kürzlich vom Magazin „Time“ als einer der 100 einflussreichsten Menschen weltweit klassifiziert wurde und sich seit 40 Jahren der Erforschung der nonverbalen Kommunikation und ihrer Auswirkungen beim Lügen widmet.

Der heute 75-jährige Autor zahlreicher Bücher über das Lügen erklärt, dass er in den vergangenen 15 Jahren 15.000 Menschen auf ihre Fähigkeit, Lügen zu entschlüsseln, getestet hat – mit einem vernichtenden Ergebnis: „Bei unseren Versuchspersonen waren alle Professionen dabei – CIA-Beamte, Richter, Anwälte, also Menschen, die täglich mit Lügnern konfrontiert sind. Und trotzdem konnte nicht einmal ein Prozent der Getesteten die nonverbalen Signale entschlüsseln.“ Mit Training könne man zwar lernen, seine Intuitionsantennen zu sensibilisieren, allerdings beschränke sich diese Verbesserung nur auf das berufliche Feld. Selbst erfahrene Drogenfahnder seien trotz Dechiffrierungsübungen nicht in der Lage gewesen, ihre Ehefrauen eines gut getarnten Seitensprungs zu überführen.

Lächeln, so Lügen-Forschungspionier Ekman, komme generell häufig zum Einsatz, um die wahren Emotionen zu verbergen, und ist ein entsprechend beliebtes Manöver, um von der Wahrheit abzulenken. Dass nur ein winziger Bruchteil der Menschheit das Talent zum Lügendetektor besitzt, sichert jedoch das Überleben der Gesellschaft. Denn ohne Lügen würde sie zerbrechen und die ohnehin schon so hohe Scheidungs- und Arbeitslosenrate weiter eskalieren. „Kriege und die totale Anarchie drohen“, so Ekman.

Die Anthropologen sind sich einig.
Der Mensch lügt, seit es ihn gibt. Lügen wirken wie ein soziales Gleitmittel; sie erleichtern und vereinfachen das Überleben in der Gemeinschaft. Selbst Primaten beherrschen rudimentäre Formen der Lüge beziehungsweise deren vorsprachliche Form – die taktische Täuschung. Betrügerisch veranlagte Languren-Affen etwa lenken ihre Artgenossen durch Warn- und Alarmrufe ab, um sich die alleinige Verfügung über eine Fressbeute zu sichern; bei Savannenpavianen in Kenia wurde beobachtet, wie sie andere Affen aus ihrem Rudel durch ausgefeilte Ablenkungsmanöver in die Irre und damit weg von der gemeinsamen Beute führen. Krähen und Dohlen pflegen ihre Artgenossen mit falschen Warnrufen in die Flucht zu schlagen, um sich allein über das Aas hermachen zu können.

Kinder entdecken die Macht der Lüge in der Regel erst im Alter von vier Jahren. Sollten sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr noch immer ausschließlich bei der Wahrheit bleiben, ist entwicklungspsychologisch sogar Grund zur Besorgnis gegeben. Denn die Fähigkeit zu lügen ist an die Entwicklung der Intelligenz gekoppelt und ein wichtiger Schritt zur kognitiven Reifung. Je intelligenter Kleinkinder sind, desto früher finden sie an der Verfälschung der Wahrheit Gefallen. Als vordergründige Motivation gilt die Straffreiheit; doch der tiefere Grund für kindlichen Trickbetrug ist für Eltern ein weit schmerzhafterer.

Soziale Kompetenz.
Lügen ist ein Schritt aus der Symbiose mit den Eltern und eröffnet ein neues Territorium der Freiheit und Unabhängigkeit. Entwicklungspsychologen raten, bis zum sechsten Lebensjahr Kinder ungestraft mit der Wahrheit experimentieren zu lassen, damit sie soziale Kompetenz erwerben, ihr Selbstwertgefühl steigern und ihre Fantasiefähigkeit zur Entfaltung bringen können. Ab dem sechsten Lebensjahr sollte man zwischen Schwindeleien und schwerwiegenden Lügen, bei denen andere zu Schaden kommen, moralisch differenzieren. Es ist nicht immer ganz einfach für die nachweislich verlogenen Bezugspersonen, dabei eine moralische Demarkationslinie zu ziehen. Denn die Eltern unterweisen Kinder von klein auf in der Kunst des Lügens. Vom Osterhasen und Christkind bis zum schwarzen Mann, der kommt, wenn man das Licht nicht wie ausgemacht abdreht, sind Lügen ein integrativer Bestandteil der Erziehung. Ist es also ratsam, Kindern von vornherein zu erklären, dass die Ostereier aus dem Supermarkt stammen, um in Folge keinen Glaubwürdigkeitsverlust hinnehmen zu müssen? In einem von Pädagogen erstellten Eltern-Knigge der deutschen „Zeit“ wird dieser Form der Wahrheitsfindung eine klare Absage erteilt: „Kindern schlüssigen Unsinn zu erzählen, ist eine wunderbare Vorbereitung auf das spätere Leben, eine Vorschule des skeptischen Denkens und der Aufklärung. Wer eines Tages in seinem Bettchen aufwacht und feststellt, dass er von seinen wichtigsten Vertrauten jahrelang systematisch angelogen wurde, wird sich nie wieder so leicht etwas vormachen lassen.“

Der einzige Menschenschlag, der des Lügens nicht fähig ist, sind Autisten, deren größtes Defizit im Unvermögen liegt, sozial zu interagieren und zu kommunizieren.

Der österreichische Soziologe Peter Stiegnitz gilt als der Begründer der „Mentiologie“, der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Lüge. Eine Gesellschaft ohne Lügen ist für ihn nicht vorstellbar: „Alle Menschen lügen; Lügen sind unser tägliches Schmiermittel. In einer Gesellschaft, wo man sich ständig die Wahrheit ins Gesicht schleudert, werden sehr bald auch andere Dinge geschleudert werden.“

Der deutsche Journalist Jürgen Schmiederer erfuhr diese Wahrheit im schmerzhaften Selbstversuch, indem er 40 Tage lang Ehrlichkeit und nichts als Ehrlichkeit zu seiner Kommunikationsstrategie erhob – mit dem Resultat, dass ihm seine Frau mit Scheidung drohte, er häufig auf der Couch schlafen musste, sein Freund ihn schlug, weil er dessen Freundin erzählt hatte, dass dieser auch mit anderen Frauen schlief, und dass er es sich mit nahezu allen Kollegen verscherzte. Die Erfahrungen des Experiments schrieb er in dem Buch „Du sollst nicht lügen – Von einem, der auszog, um ehrlich zu sein“ nieder. Das Fazit des Experiments: „An siebzig Prozent der Tage habe ich mich wesentlich besser gefühlt als mit Lügen. Wenn ein Kollege fragte:, Kannst du mir helfen?‘, habe ich ehrlich gesagt:, Nein, keine Lust.‘ Das hatte durchaus etwas Befreiendes, den Leuten einmal die Meinung zu geigen.“

Irritation durch Wahrheit.
Erhöbe Schmiederer die ungeschminkte Wahrheit zum dauerhaften Lebenskonzept, würde er jedoch bald im sozialen Abseits landen und nicht, wie der Erfinder der „Radical Honesty“-Bewegung, der US-Gestalttherapeut Brad Blanton, auf seiner Homepage verkündet, „ein glücklicheres und erfüllteres Leben führen“. Denn das zumindest pseudoharmonische gesellschaftliche Miteinander basiert großteils auf Lügen. Das zum zehnten Mal den Nachbarn im Stiegenhaus hingeworfene „Wir müssen uns sehen“ bedeutet in Wahrheit: „Ladet mich bloß nicht ein!“; die schuldbewusste Replik beim Anruf eines absichtlich sehr entfernten Bekannten – „Ich hab so oft an dich gedacht“ – kaschiert die enttäuschte Hoffnung, diesen Menschen doch nicht für immer aus den Augen verloren zu haben. Die am häufigsten geäußerte Lüge, wie eine Studie des deutschen Allensbacher Instituts ergab, ist die Antwort „Danke, gut“ auf die Frage „Wie geht’s?“ 70,7 Prozent der Befragten fühlten sich im Moment ihrer positiven Antwort in Wahrheit „besonders schlecht“. Nur: Die Wahrheit würde nichts als Irritation, Befremdung und Schock als Konsequenzen nach sich ziehen; kaum einer der Belogenen würde ihr ehrlicherweise den Vorzug geben.

Rund 200-mal täglich verfälscht der Durchschnittsmensch die Realität – vor allem zu seinem eigenen Vorteil. Zu dieser Hochrechnung kam der US-Psychologe Robert Feldman, dessen im Sommer erscheinendes Buch den Titel „The Truth about Lying“ (Die Wahrheit über das Lügen) trägt. Bei einem Experiment mit 121 Studenten an der Universität von Massachusetts stellte sich heraus, dass 60 Prozent der Probanden innerhalb einer zehnminütigen Gesprächsdauer zwei- bis dreimal logen – scherzhafte Ausflüchte, Höflichkeitsfloskeln und Übertreibungen eingeschlossen. Weitere Tiefeninterviews brachten ans Licht, dass die am häufigsten belogenen Personen die Mutter der Studenten war, knapp gefolgt vom jeweiligen Beziehungspartner. „Die perfidesten Betrügereien reserviert der Mensch für diejenigen, die in seinem Leben am wichtigsten sind“, sagt die US-Lügenforscherin Bella DePaulo.

Männer und Frauen bleiben einander in der Domäne der Wahrheitsverfälschung nichts schuldig. Zwar lügen Frauen im Durchschnitt laut dem österreichischen Mentiologen Peter Stiegnitz um 20 Prozent weniger, aber sie sind dabei kreativer und fantasiebegabter, was mit ihrem größeren Einfühlungsvermögen zu erklären ist. Auch die Motivationen unterscheiden sich. Während Männer lügen, um ihr Selbstwertgefühl aufzupeppen und vor den Artgenossen im Dauerwettbewerb „Wer hat den Längsten?“ zu punkten, ist der Impetus der Frauen vorrangig, andere nicht zu verletzen und sich selbst das Leben zu erleichtern. Bei Männern wird am häufigsten über die Anzahl der Sexualpartner und Autos geflunkert, Frauen werden vom Münchhausen-Syndrom vorrangig bei Alter, Körpergewicht und bei Orgasmuserlebnissen befallen. Die fünf Top-Lügen auf dem Sektor der Zwischengeschlechtlichkeit erhob jüngst der amerikanische Beziehungscoach BJ Moorer für sein Buch „Love, Lies, Men, Women“. Sie lauten: 1. Ich rufe dich morgen an. – 2. Ich liebe dich. – 3. Ich bin nicht verheiratet. – 4. Keiner versteht mich so wie du. – 5. Ich habe niemanden kennen gelernt.

Die Unwahrheit verbraucht wesentlich mehr Energie als Faktentreue. Gehirnaufnahmen zeigen beim Lügen einen markanten Anstieg der Aktivität im Schläfenbereich. Das Talent zum Lügen steht auch in direktem Zusammenhang mit dem IQ.

Notorische Lügner verfügen in der präfrontalen Großhirnrinde über deutlich mehr weiße, für die Informationsvermittlung zuständige Hirnsubstanz, was die zwingende Voraussetzung für eine Politkarriere zu sein scheint. Der kluge Politiker „muss können simulieren und dissimulieren, und wenn er eine Nothlüge redet, nicht roth werden“. 1714 gab der deutsche Polyhistor, Theologe und Philosoph Christoph August Heumann in seinem Ratgeber „Politischer Philosophus – vernunftmäßige Anweisung zur Klugheit im gemeinen Leben“ grünes Licht zur Unwahrheit. Bewusste Täuschung, List und Wahrheitsverfremdung hatte der Renaissance-Philosoph Niccolò Machiavelli schon zwei Jahrhunderte zuvor in seiner polittechnischen Anleitung „Der Fürst“ als legitime Mittel zum Erhalt der Macht gepriesen. Als mephistophelischer Meister der perfiden Lügenmaschinerie ging der Propagandaminister des Dritten Reichs, Joseph Goebbels, in die Geschichte ein, der bereits 1933 sein Credo formulierte: „Wenn du einmal mit dem Lügen begonnen hast, darfst du nie wieder damit aufhören.“ Und: „Man muss Lügen nur oft genug wiederholen, dass sie geglaubt werden.“

„Lügen sind in der Politik als Teil des Spiels akzeptiert“
, erklärte auch der britische Premier Winston Churchill. „Und das war nie anders und wird nie anders sein.“

Präsidenten-Pinocchio.
Der US-Politologe Eric Alterman trug die Lügen der US-Präsidenten in dem fast 500 Seiten starken Buch „Don’t Lie, Mr. President – It’s a Bad Idea“ zusammen – mit dem Fazit, dass „es außer Jimmy Carter in der gesamten Geschichte der Vereinigten Staaten keinen einzigen Präsidenten gegeben hat, der nicht nachweislich gelogen hat“. Die „Medaille für den brutalsten Pinocchio im Weißen Haus“ erhielt allerdings George W. Bush, der mit seinem Stab allein über die Existenz der irakischen Massenvernichtungswaffen bei 125 öffentlichen Auftritten 237 irreführende Aussagen tätigte. „Bush hat prinzipiell aber nicht mehr gelogen als Lyndon Johnson oder Richard Nixon, aber sein Antrieb war nicht Ideologie, sondern vor allem Fanatismus, Korruption und Gier“, so Alterman. „Das macht ihn zum schlimmsten Präsidenten unserer Geschichte.“

Die Grenzen zum Krankhaften sind bei notorischen Lügnern oft fließend. Denn die „Pseudologie“ oder auch das „Münchhausen-Syndrom“, so der Terminus für Lügen als Lebensform, gilt als Merkmal einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Dem geringen Selbstwertgefühl wird durch „das exzessive Hineinsteigern in eine Wunschwelt“ (so der deutsche Pseudologie-Experte Hans Stoffels) „ein narzisstischer Gewinn“ zugeführt, der zusätzlich die ersehnte Zuwendung anderer Menschen mit sich bringt. Dichter wie Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe und Karl May wandelten ihren persönlichen Drang zur Pseudologie in schriftstellerische Produktivität um. Dem betrügerischen Wall-Street-Jongleur Bernie Madoff verhalf sein Münchhausen-Syndrom zumindest kurzfristig zu 67 Milliarden Dollar, ehe das Schneeballsystem durch die Finanzkrise zum Kollabieren gebracht wurde.

Bleibt die Frage offen, wie eine Gesellschaft, in der Lügen zum „common sense“ ausgerufen wurde und in der sowieso nichts mehr geglaubt wird, weiter funktionieren wird? „Ich habe beim Pokerspielen unlängst wahnsinnig viel Geld gewonnen, indem ich einfach meine Karten angesagt habe“, erzählt der Ehrlichkeitsexperimentierer und Journalist Jürgen Schmiederer: „Niemand glaubte mir. Die beste Tarnung der Welt ist heute anscheinend die Wahrheit.“

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort