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Musikerin Marjorie Eliot lädt jeden Sonntag in Harlem zur Jazz-Session

Jazz. Eine alte Musikerin lädt jeden Sonntag in Harlem zur offenen Jazz-Session

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Von Florian Wörgötter, New York

Es ist eng geworden im Haus mit der Adresse 555 Edgecombe Avenue, Höhe 160. Straße, der Harlem River ist nur einen Steinwurf entfernt. Alle Plastikstühle und Holzklappsessel in Apartment 3F sind besetzt. Einer der anwesenden Musiker balanciert seine Posaune über die auf dem Parkett kauernden Spätankömmlinge, vorbei am Wandpiano und dem Kontrabass, zum einzig noch freien Fleck im Wohnzimmer: der "Bühne". Jeden Sonntag seit nunmehr 20 Jahren gelingt es der New Yorkerin Marjorie Eliot, ihren kargen Salon in einen vollen Konzertsaal zu verwandeln. Die Nachbarn holen die Polizei nur noch dann, wenn sie am Wochenende keinen ohrenbetäubenden Jazz mehr hören.

Die beschwingte Sonntagsmatinee im Norden Manhattans hat sich über die Jahre hinweg vom Geheimtipp unter Jazzfans zum Touristenmagneten entwickelt. Sogar Reiseführer empfehlen Marjorie Eliot und ihren "Parlor Jazz" inzwischen schon. Sie würde ohnehin spielen, meint die schätzungsweise 80-jährige Klavierlehrerin, die über ihr wahres Alter nicht spricht und in ihrer Freizeit auch ehrenamtlich in Altenheimen auftritt. Nun musiziert sie eben vor rund 60 Freunden, Nachbarn und zufällig Hereingeschneiten, vor New Yorkern und Touristen aller Hautfarben und jeden Alters. Auch Österreicher seien nicht das erste Mal im Publikum, sagt sie lächelnd.

Die zierliche alte Dame trägt ihr krauses Haar heute hochgesteckt, dazu eine selbst genähte Tunika und ein breites Grinsen, das den Verdacht, hier etwa doch fehl am Platz zu sein, schnell zerstreut. "Warum kommt ihr nicht herein? Es ist doch offen!",bittet Marjorie persönlich die schüchternen Gäste in die Wohnung. Noch mehrmals wird sich der schwirrende Türglockenton in die Jam Session mischen und das Publikum seine Beine einziehen müssen.

„I'm old fashioned!”
Musikalisch unterstützt wird Marjorie Eliot von einem Ensemble aus befreundeten Jazzern und improvisationslustigen Gastmusikern auf der Durchreise. Um 16 Uhr greift die Hausherrin in die Tasten ihres Pianinos, intoniert eine Komposition von George Gershwin. Der weiße Komponist hatte einst ein wichtiges antirassistisches Zeichen gesetzt, indem er es 1935 nur Schwarzen erlaubte, seine Oper "Porgy and Bess" aufzuführen. Daheim bei Frau Eliot wird Gershwin von Schwarzen und Weißen gemeinsam gespielt und gehört. Marjories Sohn Rudel Drears singt dazu das Mantra der Stunde, das Bekenntnis zu einem altmodischen Lebensstil: "I'm old fashioned! That's how I want to be - as long as you agree, to stay old fashioned with me." Die nostalgischen Balladen entführen in ein New York der Zwischenkriegszeit, in die Goldene Ära des Jazz, als dieser der Musikindustrie noch ihren Rhythmus vorgab und die Massen Nordamerikas zum Swing tanzten; als schwarze Musiker, weil ihnen nur wenige Auftrittsmöglichkeiten vorbehalten waren, auf privaten "Rent-Parties" miteinander jammten und die Gastgeber mit dem Getränkeverkauf ihr Mietbudget aufbesserten.

Auch das Beaux-Art-Gebäude, in dem Marjorie zur sonntäglichen Session einlädt, schrieb bereits Jazzgeschichte. Duke Ellington bewohnte es in den 1940er-Jahren als einer der ersten Schwarzen. Count Basie ging dort ein und aus, der Platz davor wurde folgerichtig nach ihm benannt. Und Sonny Rollins lernte hier, sein Saxofon zu spielen. Marjories Wohnungswände sind mit nostalgischen Bildern dieser Geschichte gepflastert: Konzertflyer des Jazz-Pioniers Charlie Parker und Bilder von Martin Luther Kings politisch mitreißenden Auftritten hängen dort neben gerahmten Erinnerungsfotos des Ehemanns und der beiden Söhne der Hausherrin. Den drei Verstorbenen zu Ehren veranstaltete Marjorie Eliot 1993 das erste Sonntagskonzert, aber auch, um nicht mehr allein sein zu müssen.

Nach einer guten Stunde Livemusik beleuchten nur mehr die blauen Kunstlicht-Girlanden die Wohnzimmerbühne, und Marjorie verschwindet in der Küche. Als sich die Musiker in ein wildes Spiel freier Improvisation stürzen und ordentlich Staub aufwirbeln, kehrt Marjorie zurück - mit Apfelsaft und Süßigkeiten für die Gäste. Einmal mehr erwachen Kindheitserinnerungen an einen Sonntagnachmittag in Großmutters Stube.

Musikalische Intimität
Für all das verlangt Marjorie nur eine freiwillige Spende. Jazztouristen erleben hier eine Alternative zur sprichwörtlichen Massenabfertigung in den legendären Clubs in Downtown Manhattan. Im "Birdland" oder dem "Blue Note" etwa verlangen die Betreiber saftige Eintrittspreise und Mindestkonsum in der Höhe des Kaufpreises eines Hauptgerichts. Da die Musiker in den berühmten New Yorker Clubs meist zweimal hintereinander auftreten, sind die Tische gelegentlich schon vor dem Dessert zu räumen.

Marjorie Eliot und ihre Musiker versprühen weder jenen durchgestylten Hochglanz noch À-la-carte-Routine. Sie schenken ihrem Publikum musikalische Intimität, persönliche Nähe und vor allen Dingen: Vertrauen. Wenn auch das Ambiente hier mit einer kräftigen Dosis Kitsch versüßt erscheint, so verleiht die spürbare Nostalgie doch ein Gefühl dafür, Jazz genau dort zu erleben, wo diese Musik vor vielen Dekaden entscheidende Schritte nach vorn gemacht hat. Und wen der Rhythmus von New Yorks Straßen einmal erfasst hat, der wird die Auszeit in Apartment 3F ebenso wenig vergessen wie den Geschmack der klebrigen Müsliriegel, die von der Zeremonienmeisterin zwischendurch ausgegeben werden.