Mythos „Peanuts“: Kleine Leute

Mythos: Peanuts total - kleine Leute

Die erfolgreichste Comic-Serie aller Zeiten

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Es ist der 2. Oktober 1950. In sieben US-amerikanischen Tageszeitungen erscheint erstmals ein Comic-Strip aus der Feder des 27-jährigen Cartoonisten Charles „Sparky“ Schulz: vier minimalistische Zeichnungen mit kleinen Kindern als Protagonisten – in der Hauptrolle: Charlie Brown, der schon am ersten Tag als Verlierer abgestempelt wird.

Neben den populären Serien über Action- und Superhelden, welche die „Funny Pages“ dieser Zeit dominieren, fällt Schulz mit seinem neuen Stil völlig aus dem Rahmen. Seine Figuren und Zeichnungen wirken spröde und verletzlich. Trotzdem schaffen Charlie Brown, der Hund Snoopy, das Klaviergenie Schröder, die notorische Kratzbürste Lucy und der auf seine Schmusedecke fixierte Linus bald, was noch keinem Helden aus einem Comic-Strip gelungen ist: Sie erobern die Welt.

„Ich habe diese Geschichten richtig verschlungen“, sagt profil-Zeichner Ruud Klein, „und mich dabei immer mit Snoopy identifiziert, der in der Sonne auf dem Dach der Hundehütte liegt.“ Auch der langjährige profil-Karikaturist Gerhard Haderer gesteht: „Ich bin ein Fan. Mich fasziniert die extreme Reduktion, mit der Charles M. Schulz seine Figuren gezeichnet hat. Das hat zeitlose Klasse.“

Eine Klasse, die es nun neu zu entdecken gibt: Dieser Tage erscheint „The Complete Peanuts“ (Fantagraphics Books), ein 360 Seiten starkes Buch mit solidem Hardcover, in dem die Strips aus den Jahren 1950 bis 1952 gesammelt sind. Es ist der erste Band von insgesamt 25, die im Halbjahresrhythmus in den kommenden zwölfeinhalb Jahren erscheinen werden. Erstmals werden darin sämtliche 18.000 „Peanuts“-Strips (mehr als 72.000 einzelne Panels), die Schulz bis zu seinem Tod im Jänner 2000 gezeichnet hat, vereint und in chronologischer Reihenfolge abgedruckt.

Vier Jahre nach dem Tod von Charles M. Schulz setzt Fantagraphics damit dem großen Cartoonisten ein Denkmal. „Mehr als die Hälfte der frühen ,Peanuts‘-Strips wurden seit ihrer erstmaligen Veröffentlichung vor fünf Jahrzehnten nie wieder nachgedruckt“, erklärt Co-Herausgeber Gary Groth, der sechs Jahre an der Umsetzung des Projekts gearbeitet hat. Und Jean Schulz, die Witwe des „Peanuts“-Schöpfers, meint: „Ich bin glücklich. Die wenigsten, die sich für die ,Peanuts‘ interessieren, haben diese Strips jemals gesehen“ (siehe Interview).

Charles „Sparky“ Schulz selbst war von der Idee, die Strips neu und umfassend aufzulegen, zunächst nicht sonderlich begeistert. Als ihm Groth während eines Interviews im Jahr 1998 den Vorschlag machte, die „Peanuts“ in Buchform herauszugeben, meinte er nur: „Ach, warum sollte jemand dieses alte Zeugs lesen wollen? Ich würde es jedenfalls nicht!“

Dabei sind gerade die Zeichnungen der ersten Jahre besonders spannend. Hier kann man nachvollziehen, wie Schulz seine Charaktere entwickelt und sie allmählich in ihre Rollen hineinwachsen lässt. Snoopy ist ein verspieltes Hündchen, noch ganz ohne seine ausufernden Fantasien. Die Hauptfigur vieler Strips ist anfangs Shermy, der später kaum mehr vorkommen wird, die anderen Charaktere, die zu Beginn übrigens noch wesentlich jünger sind, werden nach und nach, oft noch als Babys, in die Serie eingeführt.

So taucht Schröder etwa im Mai 1951 auf, im September sitzt er erstmals an einem Klavier. Linus debütiert im September 1952, als Baby und noch ohne seine berühmte Schmusedecke, die er knapp zwei Jahre später, am 1. Juni 1954, erstmals in den Händen hält.

King of Comics. Schulz’ Witwe Jean ist es zu verdanken, dass nach über 1400 verschiedenen „Peanuts“-Büchern, von denen weltweit bisher mehr als 350 Millionen Stück verkauft wurden, nun auch das Gesamtwerk aufgelegt wird, einschließlich aller noch nie nachgedruckten Strips. Eine posthume Ehre, die noch keinem Cartoonisten jemals zuteil wurde. „Charles M. Schulz ist aber der König der Cartoonisten“, sagt Herausgeber Groth. „Hätte es keine ,Peanuts‘ gegeben, hätte es auch niemals ,Calvin und Hobbes‘ oder ,Baby Blues‘ gegeben.“

Die „Peanuts“ sind die Stars von rund 30 TV-Specials, vier Kinofilmen, einer Broadway-Produktion („You’re a Good Man, Charlie Brown“) und diversen Theaterstücken. 1969 stellte die NASA ihre Apollo-10-Mission unter die Schirmherrschaft der „Peanuts“, nannte ihr Kommandomodul „Charlie Brown“ und das Mondmodul „Snoopy“. Schulz wurde mit einem Stern am Hollywood Boulevard geehrt, der Louvre in Paris widmete Snoopy eine Ausstellung. Der französische Kulturminister Jack Lang verlieh dem Cartoonisten den Ordre des Arts et des Lettres. Von Schulz kreierte Phrasen wie „Good grief!“, „Sweet Babboo!“ oder „Security Blanket“ sind in die amerikanische Alltagssprache eingegangen.

Schulz selbst wurde mit seinen Figuren zum Multimillionär, trotzdem blieb er sein Leben lang bescheiden. Er war ein Einzelgänger. Sein Reich war sein Arbeitszimmer, ein kärglich eingerichtetes Büro mit einem alten Sessel, einem Schreibtisch, einem Globus und einer Lincoln-Statue. Hierher kam er morgens um neun, aß einen Muffin, trank einen Styroporbecher voll Kaffee und feilte bis fünf Uhr Nachmittag an seinen Strips. 50 Jahre lang durchbrach er diese Routine nur ungern – bis er im Dezember 1999 schließlich, nach einem Schlaganfall und vom Darmkrebs gezeichnet, den Zeichenstift für immer beiseite legte. Sein Vorrat an vorgezeichneten Strips reichte noch bis zum 13. Februar 2000. In der Nacht, bevor sein allerletzter „Peanuts“-Strip erschien, starb Schulz in seinem Haus in Santa Rosa, Kalifornien.

Nie hatte er zugelassen, dass ihm jemand bei der Arbeit zur Hand ging, nicht einmal, um Skizzen anzufertigen. Und ebenso erfolgreich hatte er sich dagegen gewehrt, dass die „Peanuts“ nach seinem Tod von einem anderen Zeichner weitergeführt würden. „Für mich ist das auch eine kleine menschliche Tragödie“, sagt Gerhard Haderer. „Ein Mann erfindet Figuren, die so populär werden, dass er nie wieder aufhören kann, sie zu zeichnen.“

Charles M. Schulz wusste jedoch, wie viel er seinen Figuren verdankte. Nach dem Kriegsdienst in der US-Army hatte er fünf Jahre lang relativ erfolglos versucht, seine Zeichnungen in lokalen Blättern unterzubringen. 1950 war er schließlich froh, seine Strips an das United Feature Syndicate verkaufen zu können, auch wenn United den Titel der Serie gleich zu „Peanuts“ umänderte – einem Namen, den Schulz nie ausstehen konnte. „Ich sehe keinen Grund, warum man es nicht einfach ,Snoopy‘ oder ,Charlie Brown und Snoopy‘ hätte nennen können“, klagte Schulz noch über 40 Jahre später in einem seiner seltenen Interviews. „Für einen Comic-Strip ist der Titel eigentlich ziemlich bedeutungslos – außer man hat einen schlechten Titel wie ,Peanuts‘, was überhaupt nichts bedeutet.“

Die 90 Dollar, die er anfangs monatlich für seine Strips erhielt, waren ihm aber wichtiger, als über den Titel zu streiten, und so begann er, in dem von United vorgegebenen Format – vier platzsparende Panels – seine Miniatur-Geschichten zu erzählen.

Aus dem Leben. In der Figur des Charlie Brown arbeitete Schulz seine eigene Kindheit auf und schickte ihn durch dieselben Höllen, die er selbst hatte erleiden müssen. Der Möchtegern-Football- und -Baseball-Star Charlie Brown ist sportlich eine Niete und wird von den anderen Kindern, besonders von Mädchen, tyrannisiert – Erfahrungen, die Schulz selbst sehr gut kannte. „Sparky Schulz war ein schüchternes Kind, zu schmächtig, um Football zu spielen, zu klein für Basketball“, schreibt Garrison Keillor in der Einleitung zum ersten Band der „Complete Peanuts“. „Er scheitert an allem, will mit Mädchen sprechen, aber weiß nicht, wie, wird von Lehrern und anderen Tyrannen gepeinigt.“ Schulz erzählte einst: „Wir haben als Kinder immer Football gespielt. Und jedes Mal, wenn es zum Kickoff kam, wurde der Ball im Moment des Ankicks weggezogen.“ Der gute alte Charlie Brown musste dasselbe durchmachen. In den 50 Jahren „Peanuts“ ist er sicher hundert Mal zum Kickoff angetreten, und ebenso oft hat ihm Lucy den Ball weggezogen.

Dieses autobiografische Element, eine in der Comic-Geschichte bis dahin nicht gekannte Authentizität und die konsequent kindliche Erzählperspektive trugen Schulz und seinen „Peanuts“ Weltruhm ein. Severin Heinisch, künstlerischer Leiter des Karikaturmuseums in Krems: „Als Schulz begonnen hat, eigene Erfahrungen in Comic-Form zu verpacken, hat er den Durchbruch geschafft.“ Damit, so Heinisch, habe Schulz viele nach ihm kommende Zeichner, etwa Robert Crumb oder Art Spiegelman, der den Holocaust in Comic-Form aufgearbeitet hat, beeinflusst.

Der Typus des Antihelden, den Charlie Brown repräsentiert und dessen Leben von alltäglichen Niederlagen gezeichnet ist, war durch Donald Duck zwar schon vorweggenommen worden, Schulz legte seine Figuren aber noch wesentlich reduzierter an. Heinisch: „Die ,Peanuts‘ sind ein Meilenstein in der Comic-Geschichte. Schulz hat auf jede Art von Aktionismus verzichtet und sich auf die Nuancen konzentriert. Seine Figuren haben mehr Tiefe, und die Dialoge haben eine noch viel stärkere Bedeutung als bei Carl Barks.“

Phänomen. In den USA schaffte Schulz damit schier Unglaubliches. Zu seinen besten Zeiten erschienen die „Peanuts“ in rund 2500 Zeitungen. Andreas Platthaus, Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt über klassische nordamerikanische Comic-Strips doziert, meint: „Die ,Peanuts‘ sind ein Phänomen. Die Leser-Bindung lag in den USA bei rund 75 Prozent. Es gibt wahrscheinlich kein einziges Thema, das es in 75 Prozent aller Zeitungen schafft – immerhin gehören da auch sämtliche Regional- und Landwirtschaftsblätter dazu.“

In Europa, wo die Kultur der täglichen Comic-Strips in den Tageszeitungen wesentlich weniger verbreitet ist, waren die Strips selbst weit weniger bekannt. Trotzdem brachten es die „Peanuts“ auch hier zu großer Popularität, vor allem als TV- und Filmhelden und aufgrund ihrer Verbreitung durch Merchandising- und Lizenzprodukte. „Jeder kennt Snoopy. Wer aber unter 20 ist, hat wohl kaum einmal die Originalstrips gesehen“, sagt Friedrich Trieblnig vom Comic Forum in Wien. Eine Tatsache, die auch Jean Schulz bedauert: „Ich bin daher froh, dass es diese neuen Bücher gibt. Damit wird das Augenmerk wieder mehr auf Charles’ Arbeit und die Strips gelenkt. Und das ist gut so, denn die ,Peanuts‘ waren, wofür er gelebt hat.“