Nach der blutigen Attacke auf die Gaza-Hilfsflottille ist Israel isolierter denn je

Nahost. Paradoxerweise könnte ­genau das zu einer Wende führen

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Die Besatzung und die Mitreisenden waren fest entschlossen, sich nicht aufhalten zu lassen: Das Schiff sollte die Blockade einfach durchbrechen. Sie waren überzeugt, dass es ihr Recht und ihre Pflicht sei, in Palästina anzulegen. Noch in internationalen Gewässern wurde das Boot aufgebracht. Im Widerstand gegen die Angreifer ließen einige der Passagiere ihr Leben. Das ist nicht die Geschichte der „Mavi Marmara“, jenes Kutters in der Hilfsflottille, die vorvergangenen Sonntag auf dem Weg nach Gaza war, um Hilfsgüter für die darbenden Palästinenser zu bringen, und von der israelischen Armee blutig geentert wurde. Die Story erzählt ein Ereignis, das zum Gründungsmythos des israelischen Staates wurde. Es war 1947, als das Flüchtlingsschiff „Exodus“ jüdische Migranten trotz der von der britischen Mandatsmacht verhängten Seeblockade in das „gelobte Land“ bringen sollte.

„Wie kurz ist doch das historische Gedächtnis des israelischen Ministerpräsidenten, des Verteidigungsministers, des Stabschefs und des Marinekommandeurs, dass sie sich an die Geschichte der ,Exodus‘ nicht erinnern!“, ätzt der israelische Militärexperte Yossi Melman. Wie konnte ihnen die Symbolik entgehen?

Damals wie heute ging es nicht allein um ein vordergründiges Ziel – da die Flüchtlinge in eine neue Heimat zu führen, dort den 1,5 Millionen Bewohnern von Gaza Lebensmittel und Medizin zu bringen. Diese Aktionen waren und sind auch klar politisch motiviert: Man will die Aufmerksamkeit der Welt erregen und einen Sieg im Kampf um die internationale Sympathie davontragen.

Den Juden gelang das 1947. Und 2010 haben die Freunde der Palästinenser erreicht, dass, zwei Jahre nach dem Gaza-Krieg, die Blockadepolitik Israels gegen diesen von der radikal-islamischen Hamas beherrschten Küstenlandstrich wieder ganz oben auf der Agenda der internationalen Politik steht. Die ganze Welt fordert ein Ende der Gaza-Absperrung. Und Israel ist nach der Piratenaktion gegen die Hilfsflotte, bei der mindestens zehn Menschen ums Leben kamen (auf der „Exodus“ waren es drei gewesen), isoliert wie noch nie.

Was läuft da schief in der israelischen Außenpolitik?
Die Experten sind sich inzwischen einig: Die Militäraktionen der vergangenen Jahre waren allesamt ein Fiasko. Jerusalem verlor nicht nur sukzessive die Sympathie der internationalen Staatengemeinschaft. Die Ziele der Waffengänge wurden auch regelmäßig ­verfehlt. Zuerst der Libanon-Feldzug 2006: Israel vermochte die Hisbollah nicht zu zerschlagen, im Gegenteil – sie ging politisch gestärkt aus der militärischen Konfronta­tion hervor. Zwei Jahre später der Angriff auf Gaza, der weltweit als zutiefst unangemessen brutal verurteilt wurde. Wieder stand Israel als Aggressor da, und der Feind konnte sich freuen: Die Herrschaft der ­Hamas in Gaza war gefestigt. Und wenn in der jüngsten Zeit der Frust der Gaza-Bevölkerung über das immer unerträglicher werdende Leben den Hamas-Granden zu schaffen machte – nach der israelischen Attacke zur See kann sich die Führung der radikal-islamischen Organisation zurücklehnen und dabei zusehen, wie Israels Gaza-Politik vernichtet wird. Sie ist „kontraproduktiv, falsch und bestraft unschuldige Zivilisten“, sagte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in ungewöhnlich deutlichen Worten. „Diese Blockade muss endlich aufgegeben werden“, polterte der britische Premier David Cameron in Richtung Jerusalem. „Es muss einen ungehinderten Zugang von Hilfsgütern nach Gaza geben“, befand auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle. So klar und vor allem so geschlossen hat Europa bisher nie Kritik an Israel geübt.

Es besteht kaum ein Zweifel darüber, dass Israels Attacke gegen die Hilfsflottille vorvergangenes Wochenende gegen internationales Seerecht verstieß, zumal die Aktion auf internationalen Gewässern durchgeführt wurde. „Das war Piraterie, das war Mord“, klagt etwa der schwedische Schriftsteller Henning Mankell, einer der prominentesten Aktivisten an Bord der Flottille. Israel kontert mit Videoaufnahmen, Fotos von an Bord gefundenen Messern und Eisenstangen, mit Interviews von verzweifelten Soldaten, die von einem „Lynchmob“ sprechen. Im eigenen Land mag das Erfolge zeitigen, im Ausland aber nicht. Wie nach dem Libanon-Krieg und der Gaza-Offensive hat Israel einmal mehr eine PR-Schlacht verloren. Denn wie immer sich auch die Passagiere auf der „Mavi Marmara“ gegenüber den israelischen Elitesoldaten verhalten haben mögen (das muss erst geklärt werden): Waren sie nicht jedenfalls im Recht, sich gegen die vermummten Angreifer zu wehren, die sich von Hubschraubern wie in „Rambo“-Filmen abgeseilt hatten?

Untragbar. Dass die arabische Öffentlichkeit sich empört und entrüstet zeigt, war zu erwarten. Die Ägypter fühlten sich jedenfalls gezwungen, ihre Grenzen zum Gaza-Streifen, die sie im Gleichklang mit der israelischen Blockade dichtgemacht hatten, zeitweise zu öffnen. Eine veritable Verschiebung in der nahöstlichen Tektonik bedeutet es jedoch, dass Israel im Begriff ist, sich die Türkei, seinen einzigen Freund in der islamischen Welt, zum erbitterten Feind zu ­machen. „Schüsse auf die Menschlichkeit“ titelte die liberale Tageszeitung „Radikal“, „Staatsterror“ die rechtsgerichtete Tageszeitung „Türkiye“, und: „Lasst sie bereuen!“, heißt es in einer Überschrift der Zeitung „Taraf“ am Tag nach dem israelischen Seegefecht, dessen Todesopfer offenbar mehrheitlich Türken waren. Auf den Straßen Istanbuls und Ankaras macht sich die Wut breit. Die Regierung in Ankara verlangt eine Entschuldigung Jerusalems. Dort ist man aber uneinsichtig: Wofür sollen wir uns entschuldigen?, fragt forsch Premier Benjamin Netanjahu. Die traditionell guten türkisch-israelischen Beziehungen sind auf einem historischen Tiefpunkt angelangt.

Das ist auch ein Dilemma der US-Politik, die sowohl Israels Schutzmacht ist als auch in Ankara einen wichtigen Bündnispartner in der Region sieht. Die Dreiecksbeziehung USA-Türkei-Israel, die bereits in den vergangenen Jahren nicht mehr so recht stabil wirkte, scheint nun endgültig zu zerbrechen.

Noch hält sich die US-Regierung bei der Verurteilung Israels zurück. Im Sicherheitsrat hat man nichts unversucht gelassen, die Reaktion auf die Aktion gegen den Hilfskonvoi zu entschärfen. Dennoch: Erstmals spricht US-Außenministerin Hillary Clinton von „untragbaren“ Zuständen in dem von Israel abgeriegelten Gaza-Streifen.

Und seit der provokativen Ankündigung von neuen Siedlungsbauten in Ostjerusalem während des Israel-Besuchs von US-Vizepräsident Joe Biden im März dieses Jahres ist das Verhältnis Washington-Jerusalem bereits schwer belastet.

Noch steht die politische Klasse in den USA fest hinter dem Judenstaat. Aber selbst da gerät einiges ins Wanken. „Unter den Demokraten im Kongress gibt es mittlerweile echte Meinungsverschiedenheiten mit Israel. So etwas gab es seit Jahrzehnten nicht mehr“, sagt Dan Senor, ein langjähriges Mitglied des außenpolitischen Think Tanks Council of Foreign Relations. Meir Dagan, der Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad, brachte kürzlich auf den Punkt, was immer mehr Leute im politischen Establishment der USA denken: „Israel war früher ein Aktivposten in der amerikanischen ­Außenpolitik, jetzt wird Israel immer mehr zu einem Handicap, zu einer Bürde für ­Washington.“

Und Roger Cohen, der prominente Nahostexperte und Kolumnist der „New York Times“, weiß, dass auch unter den amerikanischen Juden die Stimmung allmählich kippt. „Während die alte Garde noch meint, dass jede Kritik an Israel unakzeptabel sei, gibt es eine wachsende Gruppe innerhalb der jüdischen Gemeinde Amerikas, die der Meinung ist, dass konstruktive Kritik letztlich im Interesse Israels sei“, sagte Cohen zuletzt in einem Interview mit profil. Vor allem unter jungen Juden ist ein Meinungsumschwung erkennbar. Die „New York Review of Books“ berichtete kürzlich, dass die Hochschülerschaft der Brandeis University – einer stark jüdisch geprägten Eliteuni – bereits vor zwei Jahren aus Protest gegen die Regierungspolitik Jerusalems eine Glückwunsch-Resolution zum 60. Jahrestag der Gründung Israels verweigert hatte. Das sei eine symptomatische Entwicklung.

Macho-Kurs.
In den USA hat sich inzwischen mit der Organisation J Street neben der einflussreichen rechten Israel-Lobby ­Aipac eine angriffslustige jüdische Pressure Group etabliert, die klar für eine Verhandlungslösung eintritt, die Politik der israelischen Rechtsregierung von Benjamin Netanjahu kritisiert und nun auch scharf die fatale Aktion vor der Gaza-Küste verurteilt. J Street bekommt immer mehr Zulauf und hat in Europa bereits eine Dependance eröffnet.

Kurz: Israel manövriert sich systematisch ins Abseits. Noch nie stand der Judenstaat so allein da auf der Welt. Selbst die engsten Freunde gehen auf Distanz. Nur in Israel selbst scheint die Bevölkerung noch hinter dem politisch suizidalen Macho-Kurs von Netanjahu und Co zu stehen. Aber könnten die weltweite Kritik am Kurs der Rechts­regierung und die wachsende Unzufriedenheit der jüdischen Diaspora mit der Politik Jerusalems nicht auch in Israel doch noch zur Einsicht führen, dass derzeit etwas grundlegend schiefläuft im Land? Gewiss: Die ­israelische Friedensbewegung war wohl noch nie so schwach, die linke Opposition noch nie so verzagt wie heute. Aber in solchen Umbruchzeiten, vor allem in Zeiten nationaler Erniedrigung, kann die Stimmung schnell umschlagen, vor allem dann, wenn in Amerika ein echter Schwenk in der Nahostpolitik vollzogen würde. Denn die Perspektive, den Schutz der USA zu verlieren, ist für die Israelis das Horrorszenario schlechthin.

Im Grunde ist allen klar, was zu tun wäre: die Blockade von Gaza aufgeben, den Siedlungsbau stoppen und in Verhandlungen treten – wenn es sein muss, auch mit der Hamas. Die Konturen einer zu erarbeitenden 2-Staaten-Lösung sind allgemein ­bekannt: Man geht im Prinzip zu den Grenzen von 1967 zurück. Einige wenige größere jüdische Siedlungen bleiben bei Israel, dafür bekommt der künftige Palästinenserstaat im Austausch anderswo Land. Jerusalem wird in dieser oder jener Form sowohl Hauptstadt der Palästinenser als auch der Israelis, mit besonderen Bestimmungen für die heiligen Stätten. Die konkreten Pläne für solch eine Zukunft liegen seit mehr als einem Jahrzehnt dutzendfach in den Schubladen.

Wir erleben einen Wendepunkt in der Nahostfrage: Israel erscheint spätestens seit vergangener Woche nicht mehr als verlässlicher Partner der internationalen Staatengemeinschaft, es ist zum „rogue state“, zum Schurkenstaat unter den westlichen Demokratien, geworden. Und paradoxerweise könnte das zu einem echten Durchbruch im Nahostdilemma führen.

Ganz so wie 1947: Die Passagiere der „Exo­dus“ wurden damals von Soldaten der britischen Mandatsmacht nach Deutschland gebracht. Vor den Augen der internationalen Presse wurden die Migranten von Bord gezerrt und in ein Internierungslager gesteckt. Die Meinung der Weltöffentlichkeit kippte, man solidarisierte sich mit den Juden, das britische UN-Mandat in Palästina galt als nicht länger tragbar. Ein Jahr später, am 14. Mai 1948, hatten die Juden ihren ersehnten Staat gegründet.

Mitarbeit: Valerie Prassl