Nahost: „Hamas hat die Mehrheit“

Nahost: „Hamas hat Mehrheit“

Mark LeVine über die palästinensische Politik

Drucken

Schriftgröße

profil: Wird nach Arafats Tod Chaos in den palästinensischen Gebieten ausbrechen?
LeVine: Die Lage dort zeichnet sich bereits seit drei Jahren durch wachsende Anarchie aus, bedingt durch Gewalt, Besatzung und den Mangel an politischer Bewegung. Nicht nur Arafat, auch die Autonomie-Regierung ist zunehmend irrelevant geworden. Übrig geblieben ist die Hamas, inzwischen stärkste politische Kraft, um ihren Platz einzunehmen.
profil: Mahmoud Abbas, die Nummer zwei der PLO, und Premier Achmed Kureia versuchen zumindest den Deckel draufzuhalten. Und die Islamisten von der Hamas zeigen sich eher an einer kollektiven Führung interessiert.
LeVine: Meine Umfrage vom April in Westbank und Gaza ergab, dass die Hamas erstmals die Fatah überholt hat, die infolge von Korruption und anderem Versagen eine Menge Respekt eingebüßt hat. Die Islamisten sind smart genug, eine Zeit lang zuzusehen, wie die Fatah sich selbst erledigt. Für viele Palästinenser verkörpern sie die einzige nicht angepasste und nicht korrumpierte Bewegung.
profil: Der eigentliche Machtkampf um das Erbe Arafats wird sich aber in der PLO-Mehrheitsfraktion Fatah abspielen?
LeVine: Es besteht die Möglichkeit, schätzungsweise zu vierzig Prozent, dass innerhalb der Fatah ein Richtungsstreit mit Gewalt ausgetragen wird. Ich halte die Hamas in diesem Punkt für taktisch umsichtiger als die Fatah. Richtig ist zwar, dass sie nach der Liquidierung ihrer Elite keine bekannten Namen aufzubieten hat. Falls Wahlen ausgerufen werden, was nach Ableben des Präsidenten laut einem palästinensischen Gesetz zu geschehen hat, ist jedoch damit zu rechnen, dass sich eine neue politische Führung herauskristallisiert. Sehr interessant wird sein, ob ein Bewerber, der sich mit der Hamas verbündet, die Präsidentschaft gewinnt. Solange in Israel Ariel Sharon regiert, wird die Neigung groß sein, ihm einen palästinensischen Hardliner entgegenzusetzen.
profil: Werden die Palästinenser ihren künftigen Führer nicht immer auch an Arafat messen?
LeVine: Nicht unbedingt. Die Menschen in Westbank und Gaza widert die alte säkulare Führung an, in der einer korrupter als der andere ist. Man hat das toleriert, solange man dachte, sie würde etwas erreichen. Aber sie hat nichts als Elend produziert. Der politische Prozess ist bedeutungslos geworden. Heute geht es für die meisten Palästinenser nur ums tägliche Überleben. Deshalb glaube ich nicht, dass sie auf große Führer hoffen – wer wäre denn da auch? Es gibt keinen, der in Arafats Schuhe passt. Das ist in gewisser Weise so unmöglich, wie Nelson Mandela zu ersetzen.
profil: Naht mit dem Tod Arafats das Ende der alten PLO-Garde?
LeVine: Die alte Garde und ihre Protegés haben die Kontrolle über die Finanzen – hunderte Millionen an Dollars. Aber sie besitzen keine Legitimität. Eine aufstrebende Gruppe lokaler Aktivisten fordert ihren Platz, aber hat kein Geld. Man wird sich daher arrangieren müssen. Mag sein, dass es eine Übergangsphase gibt, in der die alte Garde an der Oberfläche die Macht behält, während darunter der Einfluss der Basis wächst. Abbas und Kureia sind beide nicht mehr die Jüngsten. Ihre Kraft reicht für kaum mehr als fünf Jahre.
profil: Wäre Arafats Tod eine Chance für einen Aufbruch?
LeVine: Viele in der Generation unter dreißig Jahren sind gebildet, haben studiert und zwei Intifadas, zwei Aufstandsbewegungen, durchgemacht. Sie kennen die israelische Gesellschaft und die Dynamik der Besatzung. Sie werden mit den politischen Entscheidungen jahrzehntelang leben müssen und deshalb ihren Anspruch behaupten.
profil: Im Sinne des Friedensprozesses?
LeVine: Beim Osloer Abkommen sind die Palästinenser reingefallen wie bei einem schlechten Gebrauchtwagenkauf. Ich glaube nicht, dass sie noch erwarten, Israel wolle wirklich mit ihnen Frieden schließen. Doch die meisten haben auch realisiert, dass militanter Widerstand nicht funktioniert. Vor allem unter den Jüngeren hat ein Nachdenken über den Kurs begonnen: Setzen wir auf eine 2-Staaten-Lösung oder langfristig auf die demografische Entwicklung und damit auf einen binationalen Staat. Arafat hat eine breite Debatte darüber verhindert. Wenn er nicht mehr ist, wird dieser bislang nur in Think Tanks geführte Diskurs wichtiger werden. Nur, das ist nichts, was Israel oder die USA hören wollen.