Naturgefahren: Lawinen-Rutschbahn

Parallelen zum Katastro-phenwinter von Galtür

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Die „Ö3-Wecker“-Moderatoren meldeten das wachsende Schneechaos im 10-Minuten-Takt. Am Donnerstag der Vorwoche ging in vielen Alpenregionen nach heftigen Schneefällen gar nichts mehr. Wie schon im Februar waren viele Straßen unpassierbar, Orte wie Lech und Zürs am Arlberg, Saalbach, Eisenerz sowie Hallstatt und Obertraun waren – teils neuerlich – von der Außenwelt abgeschnitten. Selbst in Wien, das am Donnerstagmorgen nur ein leichtes Schneenieseln abbekommen hatte, war der nicht enden wollende Winter neuerlich Tagesgespräch.

Die Lawinenwarndienste hatten Hochbetrieb. Am Donnerstag, 7.30 Uhr, meldete der Salzburger Lawinenwarndienst nahezu für das gesamte Bundesland Lawinenwarnstufe 4 auf der fünfteiligen Skala: „Die Lawinengefahr ist durch die hohe Abgangsbereitschaft der mächtigen Neuschneeschicht in den meisten Gebieten groß. Die Schneedecke ist an den meisten Steilhängen nur schwach verfestigt.“ Nach Neuschneezuwächsen von bis zu 50 Zentimetern meldete am Donnerstag auch der Tiroler Lawinenwarndienst: „Neuschnee und stürmische Winde sorgen für kritische Lawinensituation: teilweise große Lawinengefahr!“

Am Sonntag vergangener Woche konnten Bergretter im Bereich der Rotschrofenspitze in den Lechtaler Alpen drei bayrische Alpinisten, einer davon Bergführer des Deutschen Alpenvereins, nur noch tot aus einem Lawinenkegel bergen. Und am Montag der Vorwoche bargen Bergrettungsmänner unter schwierigsten und wegen weiterer Lawinenabgänge äußerst gefährlichen Bedingungen einen von vier Eiskletterern tot aus einer Lawine im Gemeindegebiet Bad Goisern, Oberösterreich. Ein zweiter Mann blieb verschollen.

Bis Freitag der Vorwoche registrierten die Lawinendienste im aktuellen Winter insgesamt 32 Lawinentote im Bundesgebiet, das sind viermal so viel wie im gesamten Vorjahrswinter (acht Todesopfer), der allerdings, gemessen am langjährigen Schnitt, eine positive Ausnahme war. Die Lawinentoten der extrem opferreichen Jahre 1951 und 1954 nicht eingerechnet, liegt der österreichische Schnitt bei 26 Lawinenopfern pro Wintersaison. Aber selbst bei Einrechnung der Opfer von 1951 und 1954 in die Statistik liegt der Mittelwert 30 unter der bisherigen Opferbilanz des aktuellen Winters.

Parallelen zu Galtür. Zwei Hauptursachen sind laut Peter Höller, Lawinenforscher am Innsbrucker Bundesforschungszentrum für Wald (BFW), dem vormaligen Institut für Lawinenforschung, für diese unerfreuliche Saisonzwischenbilanz ausschlaggebend: erstens der schneearme Frühwinter und der damit verbundene schwache Schneeuntergrund; zweitens die außergewöhnlichen starken Schneefälle der vergangenen Wochen. Enorme Schneemassen liegen also gemäß diesem Befund auf einem Untergrund, der das Abrutschen der Schneemassen begünstigt. Experte Höller erblickt in diesen Punkten Parallelen zum Winter 1999, in dem es zur Lawinenkatastrophe von Galtür (insgesamt 38 Tote) gekommen war.

Nachdem im vergangenen November und Dezember wenig Schnee gefallen war, kam es Mitte Dezember zu einer Hochdruckwetterlage mit tiefen Temperaturen im Gebirge, insbesondere zur Nachtzeit. Unter der verhältnismäßig schwachen Schneedecke hatte es am Boden um die null Grad, während es an der Oberfläche der Schneeschicht zu starken Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht kam. Daraus resultierte in der Schneedecke ein Prozess, den die Lawinenexperten als „aufbauende Metamorphose“ bezeichnen.

Wenn es zu starken Temperaturunterschieden zwischen dem Untergrund und der Oberfläche der Schneedecke kommt, dann steigt die etwas wärmere Luft vom Boden durch die Poren der Schneeschicht höher, bis sie an den Gefrierpunkt gelangt (von oben gesehen ist es der Taupunkt). An der Gefrierschicht angelangt, kristallisiert der von unten aufsteigende Dampf sofort aus und bildet aus den reichlich ausgezweigten Schneekristallen feste Körner, zulasten der unmittelbar darunterliegenden Schicht. Die wachsenden Schneekörner bilden allmählich eine eigene Schicht ohne Bindung, den so genannten Schwimmschnee. „Wenn man die Schneedecke aufschaufelt, rieselt der Schwimmschnee heraus wie Reis oder Kristallzucker“, sagt Höller.

Dieser Prozess der Schwimmschneebildung dauerte in den meisten Alpenregionen bis in den Jänner an. Erst dann setzten allmählich stärkere Schneefälle ein, besonders im Verlauf des Februars. Erreichten die Neuschneemengen in Kärnten und Osttirol nur 75 Prozent des Normalwerts – Lienz kam gar nur auf 14 Prozent –, so wurden in den nördlichen Kalkalpen von Lofer bis Windischgarsten Schneemengen von mehr als 200 Prozent des Normalwerts gemessen, ebenso lokal im Umland von Wien (im Galtür-Jahr 1999 betrug der Schneezuwachs regional bis zu 275 Prozent des Normalwerts). Einige Messstellen verzeichneten neue Februarmaxima bei der Summe der Neuschneemengen, so etwa Bischofshofen mit 122 Zentimetern (zuvor 112 Zentimeter im Jahr 1999), Radstadt mit 169 Zentimetern (zuvor 128 Zentimeter im Jahr 1988) und Aigen im Ennstal mit 89 Zentimetern (zuvor 72 Zentimeter im Jahr 1983). Im Osten Österreichs fielen in Lunz am See allein im Februar 207 Zentimeter Neuschnee.

Wenn zu den beschriebenen Bedingungen – Ausbildung einer Schwimmschneeschichte plus starke Schneefälle – noch zwei weitere hinzukommen, nämlich starke Winde und eine Hangneigung von mehr als 30 Grad, dann steigt die Gefahr eines Lawinenabgangs erheblich an. Denn der Wind verursacht Schneeverfrachtungen, welche dazu führen können, dass die Dicke der Schneedecke lokal auf das Doppelte oder Dreifache anwächst. Durch die angesammelte Schneemenge steigt örtlich das Gewicht der Schneedecke massiv an – und damit der Druck, den diese auf den Untergrund ausübt. In Verbindung mit der Hangneigung genügt dann oft ein kleiner Anstoß, um eine Lawine auszulösen.

In Nordlagen sind all diese Effekte stärker ausgeprägt als in Südlagen, weil es in Zonen der Abschattung und tieferer Temperaturen leichter zur Bildung von Schwimmschnee kommt. In Südlagen bewirkt die Sonnenbestrahlung, vor allem im Frühjahr, mitunter den gegenteiligen Effekt: Das von der Oberfläche absinkende Schmelzwasser friert in der Nacht und führt so zu einer Verfestigung der Schneedecke, die zumindest bis in die späten Vormittagsstunden anhält.

Faustregeln. All diese Parameter hat der Schweizer Bergführer, erfahrene Lawinenexperte und Buchautor Werner Munter, Berater des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in Davos, nach einer „rabenschwarzen Serie von Lawinenunglücken“ in Faustregeln für die Praxis gegossen, die dem Skifahrer und Tourengeher dabei helfen sollen, die Gefahr richtig einzuschätzen und das Risiko zu reduzieren. Nach Analyse der Unfälle kam Munter zu dem Schluss, dass die meisten Lawinenunglücke auf unverspurten Nordhängen mit einer Neigung von etwa 40 Grad passieren, „das ist extrem steil“. Hingegen seien Hänge unter 30 Grad, wo man zum Aufstieg keine Spitzkehren benötige, weit gehend ungefährlich, erläutert Munter.

Wer bei erhöhter Lawinengefahr Nord-hänge und Hänge von mehr als 30 Grad Neigung meide, verringere sein Risiko auf 25 Prozent, sagt Munter. Diese in der Schweiz seit Mitte der neunziger Jahre propagierten Faustregeln werden Jungalpinisten von der bundesweit aktiven Organisation „Jugend und Sport“ eingebläut. „Bis Mitte der neunziger Jahre hatten wir jährlich im Schnitt 17 Lawinentote“, berichtet Munter, „seit wir dieses Programm machen, kommen wir im Schnitt auf nur noch neun Tote.“

Optimale Ausrüstung. Wissenschaftlich arbeitende Lawinenexperten zeigen sich gegenüber dieser Darstellung eher skeptisch. Erstens weil schon wiederholt Menschen auch im ebenen Gelände von Lawinenausläufern getötet wurden und zweitens weil die saisonale Opferzahl auch von anderen Parametern, wie etwa der Genesis der vorhandenen Schneedecke, abhängt. Einig sind sich Praktiker und Wissenschafter darin, dass sich das Risiko durch optimale Ausrüstung wie Lawinenpiepser, Lawinenairbag, Lawinensonden und Schaufel (Metallschaufel, nicht Plastikschaufel, die leicht bricht) reduzieren lässt – vorausgesetzt, der betreffende Alpinist ist in der Handhabung entsprechend geschult.

Der Lawinenairbag wird mittels einer an einer Reißleine angebrachten Schlaufe ausgelöst. Dabei werden zwei Ballonflügel aus einer Druckpatrone mit 150 Liter Luft gefüllt. Die Ballonflügel bewirken, dass man an der Oberfläche der Lawine bleibt. Das funktioniert in den meisten Fällen – sofern man noch dazu kommt oder dazu imstande ist, die Reißleine tatsächlich zu betätigen. Auch die Handhabung des Lawinenpiepsers ist für viele Alpinisten ein Problem. Nach Erkenntnissen des Innsbrucker Lawinen- und Bergrettungsexperten Walter Würtl haben nur 56 Prozent der Tourengeher und Tiefschneeskifahrer einen Lawinenpiepser eingesteckt. Und nur jeder Sechste davon vermag sein Gerät auch als Suchinstrument zu verwenden.

Der Piepser lässt sich nämlich wahlweise auf Sende- oder Suchfunktion einstellen. Die Handhabung ist aber keineswegs einfach, weil beim Suchen ein Punkt angepeilt werden muss, von dem die Signale ausgehen. Und wenn die Signale von mehreren Verschütteten ausgehen, wird die Sache kompliziert. Nach Würtls Erkenntnissen ist nur jeder 145. Piepserl-Nutzer dazu imstande, mehrere Verschüttete mithilfe des Instruments zu orten. Wenn Personen von einer Lawine verschüttet sind, ist aber höchste Eile geboten. Denn die Überlebenschance sinkt nach etwa einer Viertelstunde rapide (siehe Grafik). Und wer tiefer als einen Meter verschüttet ist, hat in der Regel geringe Chancen. Zumeist ist der Schnee festgepresst wie Beton, sodass es kaum noch möglich ist, den Brustkorb zum Atmen zu bewegen. Und oft sterben lebend geborgene Opfer später an Sauerstoffmangel und Unterkühlung.

Von Robert Buchacher