Nepal: Zwischen Mao und Rambo

Nepal zwischen Mao und Rambo: Ein Jahr nach den ersten freien Wahlen

Ein Jahr nach den ersten freien Wahlen

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Von David Kriegleder, Nepal

Ein lautes Trompeten beendet die Nacht. Es ist vier Uhr Früh, noch dunkel, doch der Dunst des Dschungels liegt bereits wie eine schwere Decke über der bewaldeten Hügelkette. Hastig eilen junge Männer und Frauen aus ihren Holzbaracken. Körperpflege an einem kleinen Bach, das Frühstück aus der Konservendose. Es könnte ein Pfadfinderlager sein, wären da nicht der viele Stacheldraht und die Narben, die Geschichten vom Krieg erzählen. „Guten Morgen, bitte erschrecken Sie nicht“, stellt sich ein junger Mann namens Dewan in gebrochenem Englisch vor. Er zeigt auf seine linke Gesichtshälfte, sie ist entstellt. „Das war eine Brandgranate.“ Eine Sonnenbrille bedeckt seine Augen, eine schwarze Real-Madrid-Kappe sein Haupt. Dewan ist einer von 3000 maoistischen Soldaten, die im „Cantonment 4“, einem nahe der indischen Grenze liegenden Militärlager, untergebracht sind. Sieben solcher „Cantonments“ sind über Nepal verstreut.

Während der Anführer der Maoisten, Pushpa Kamal Dahal – besser bekannt unter dem Kampfnamen „Prachanda“ –, seit August als neuer Premierminister in der Hauptstadt Kathmandu sitzt, befinden sich die 20.000 Soldaten seiner maoistischen Volksarmee (PLA) nach wie vor im Dschungel. Von hier aus haben sie über ein Jahrzehnt lang gegen die Monarchie gekämpft und König Gyanendra schließlich zum Abdanken gezwungen. Von hier aus warten sie darauf, in die nepalesische Nationalarmee integriert zu werden. So will es das Waffenstillstandsabkommen von 2006. Damit wäre die Transformation der Maoisten von einer Guerilla-Armee zur regierenden Partei des Landes abgeschlossen und ein neues Kapitel in der Geschichte des krisengeschüttelten Staates aufgeschlagen.

„Die Integration unserer Kämpfer in die Nationalarmee steckt voller emotionaler und psychologischer Schwierigkeiten“, sagt Kommandant Pasang, der Oberbefehlshaber der PLA. „Wir haben ja bis vor drei Jahren noch aufeinander geschossen. Aber solange es zwei Armeen in Nepal gibt, werden nie Stabilität und Frieden einkehren.“ Langsam stolziert er durch das Lager und schüttelt Hände. Im Hintergrund weht eine rote Fahne, auf der Hammer und Sichel abgebildet sind. Von den maoistischen Soldaten wird Pasang wie ein Heiliger verehrt, seine Waghalsigkeit während des Bürgerkriegs brachte ihm den Spitznamen „Rambo“ ein.

Die meisten maoistischen Soldaten stammen aus den verarmten Kasten der nepalesischen Landbevölkerung und sind keine 25 Jahre alt. Während sie auf die Integration warten, holen sie Schulbildung nach und halten sich mit Sport in Form. Ihre verrosteten AK-47-Gewehre haben sie gegen Federballschläger und Fußbälle eingetauscht. Vorerst zumindest. Denn nur 100 Meter neben den Schlafquartieren der Soldaten befindet sich ein eingezäunter Bereich mit zwei weißen Metallcontainern. Darin schlummert das Kriegsgerät der Maoisten – observiert von acht internationalen Waffeninspektoren der UN. Den einzigen Schlüssel zu den Containern trägt der maoistische Lagerkommandant an einer Kette um den Hals. Das soll garantieren, dass die Truppen der PLA jederzeit Zugriff zu ihren Waffen haben, sollten sie – wie sie sagen – „verraten“ werden.

„Wenn es nach uns geht, wollen wir keinen einzigen Tag mehr kämpfen“, versichert der klein gewachsene Mann mit dem scharfen Blick und dem Kampfnamen „Madan“. Er hockt im Schneidersitz in seiner Kommandohütte, auf deren Dach der Monsunregen trommelt. „Sollte die Integration jedoch scheitern, werden wir sofort unsere Waffen holen und den Volksaufstand fortsetzen.“

Versprechen. Trotz solcher Drohungen erhielten die Maoisten bei den ersten freien Parlamentswahlen im April 2008 überraschend die Mehrheit der Stimmen. Die Bewohner Nepals wollten endlich Frieden und einen Ausweg aus der Armut. Im Wahlkampf versprachen die Maoisten massive soziale Umwälzungen und eine radikale Land­reform. Das Kastensystem Nepals solle endlich aus dem Alltag verschwinden, Frauenrechte gestärkt und das komplizierte ethnische Mosaik des Landes unter einer neuen „solidarischen Verfassung“ geeint werden.

Entscheidend ist dabei, welche Staatsform die Maoisten für die Zukunft des Landes vorsehen. Viele Beobachter zweifeln nämlich daran, ob die Partei wirklich hinter der im Mai 2008 ausgerufenen parlamentarischen Republik steht. Nach einer gewonnenen Wahl lässt es sich schließlich leicht Lobeshymnen auf die Demokratie singen. „Wir müssen uns kritisch mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen“, sagt C. P. Gajurel, einer der Chefideologen der Partei. „Wir haben den Zusammenbruch des Kommunismus in Europa gesehen, und wir erleben gerade, was das bourgeois-kapitalistische System aus der Welt gemacht hat. Keines dieser beiden Systeme kann überleben. Wir wollen einen Staat, in dem sich ein demokratisches Mehrparteiensystem und verschiedene kommunistische Strömungen zu einem ‚neuen nepalesischen Weg‘ verbinden.“ Dieser so ­genannte „Prachanda-Weg“ solle die kommunistische Idee ins 21. Jahrhundert weiterführen. Um seiner Vision Nachdruck zu verleihen, deutet der 60-Jährige auf eine Reihe an der Wand hängender Porträts. Sie zeigen kommunistische Ikonen wie Marx, Lenin, Stalin, Mao Zedong und daneben Premier Prachanda. Sein Gesicht strahlt auf einer Fotocollage über dem Gipfel des Mount Everest.

Prachanda gilt als Pragmatiker, gab jedoch in den ersten Monaten seiner Amtszeit widersprüchliche Aussagen von sich. Vor laufenden Kameras schwört er, die ausgerufene Mehrparteiendemokratie nicht antasten zu wollen, nur um am nächsten Tag wieder mit einer kommunistischen Volksrepublik nach dem Beispiel Chinas oder Vietnams zu liebäugeln. „Die Maoisten sind in eine radikale und eine gemäßigte Fraktion gespalten“, sagt Kunda Dixit, Chefredakteur der „Nepali Times“. „Ich hoffe, dass sich die gemäßigten Kräfte durchsetzen. Sie haben eine klare Vision für das Land und sind bereit, mit anderen Parteien zusammenzuarbeiten.“

Unklar. Die Unklarheit über die gewünschte Staatsform der Maoisten und die ausufernde Korruption haben viele ausländische Unternehmer bis jetzt davon abgehalten, die für Nepals Wirtschaft so dringend notwendigen Investitionen zu tätigen. Regelmäßige Straßenschlachten zwischen militanten Jugendorganisationen und Gewerkschaften der verschiedenen Parteien verstärken dieses Klima der Unsicherheit. Das Gelingen der nepalesischen Republik wird auch maßgeblich von seinen zwei aufstrebenden Nachbarstaaten abhängen. Nepal muss versuchen, den wirtschaftlichen Boom Indiens und Chinas für sich zu nutzen, und könnte dabei auf sein riesiges Wasserkraftpotenzial bauen.

Sollte sich die Lage tatsächlich stabilisieren, können die Maoisten auch auf ein Wachstum des Tourismussektors hoffen. „Wir wollen ein schönes und vor allem billiges Urlaubsziel für die weltweit ausgebeutete Arbeiterklasse sein“, sagt C. P. Gajurel im gewohnt kommunistischen Jargon. Dafür müsste sich das Land weiter öffnen, ein Umstand, den nicht alle Mitglieder der Partei begrüßen. „Viele Genossen haben Angst, dass dadurch imperialistische Agenten der CIA unser Land infiltrieren könnten. Ich sage: Sollen sie nur kommen, wir sind ein selbstbewusstes Land!“

Dieses Selbstbewusstsein spiegelt sich auch bei den jungen Maoisten im „Cantonment 4“ wider. Auf einer kleinen Lichtung etwas außerhalb des Lagers absolvieren sie ihr abendliches Taekwondo-Nahkampftraining. Auf jede Fußtrittbewegung erfolgt ein martialischer Schrei – eine Geste der Entschlossenheit und des Triumphs. „Es ist wichtig, dass die Welt erfährt, was hier in Nepal geschieht. Wir sind keine Terroristen, sondern Kämpfer für die Unterdrückten und Armen. Und wir haben gesiegt!“, sagt eine Soldatin mit rotem Stirnband. Als die Sonne hinter der hügeligen Landschaft verschwindet, versammeln sich einige Soldaten um ein kleines Lagerfeuer. Begleitet vom Insektengezirpe des Dschungels, singen die jungen Maoisten Lieder von Revolution und gefallenen Kameraden. Im Flackern des Feuers wirken ihre Gesichter noch älter und ausgezehrter als während des Tages. Kriegsmüde, aber voller Hoffnung blicken sie in eine ungewisse Zukunft – und mit ihnen 30 Millionen Nepalesen.