Pille gegen den Schrecken

Neurologie: Pille gegen den Schrecken

Ethiker warnen vor dem Missbrauchspotenzial

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Die Anwaltsgehilfin Kathleen S. aus Boston leidet an einer „posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS). Nach einer Vergewaltigung durch einen Drogensüchtigen wurde sie monatelang von Albträumen und Schlafstörungen gepeinigt. Die 34-Jährige ist eine von 40 Personen, die sich bereit erklärten, an einer Studie für einen Wirkstoff teilzunehmen, der solche Traumata gezielt beheben soll: Propranolol.

Der Psychiater Roger Pitman von der Harvard University sucht seit Jahren nach einem Mittel, traumatisierten Menschen zu helfen. Geschätzte acht Prozent der US-Bevölkerung, das sind 20 Millionen Menschen, leiden irgendwann in ihrem Leben an einer solchen Störung. Es genügt ein bloßes Geräusch, eine Farbe – und das Trauma ist wieder da, kann schreckhafte Erinnerungen, Albdrücken, Schlaflosigkeit und Depressionen auslösen.

Jetzt erscheint es erstmals möglich, solche Traumata gänzlich zu vermeiden, einfach indem man durch entsprechende Wirkstoffe verhindert, dass sie sich tief ins Gedächtnis eingraben. Pitmans 40 Testpersonen, die nach traumatischen Erlebnissen in der Notaufnahme des General Hospital Boston rekrutiert wurden, erhielten rund drei Wochen lang täglich eine blaue Pille. Eine Hälfte der Probanden bekam Pillen mit dem Wirkstoff Propranolol, der die Wirkung des Stresshormons Adrenalin abschwächt, die andere Hälfte ein Placebo ohne Wirkstoff. Monate später bat Pitman die Probanden, sich eine Tonbandaufnahme mit einem kurzen Bericht anzuhören, den sie selbst über ihr traumatisches Erlebnis verfasst hatten. Dabei wurden an Schläfe, Wange und Armen der Testpersonen Elektroden befestigt, um klassische Stressindikatoren wie Herzschlag, Schweißbildung und Muskelzuckungen zu messen.

Kathleen S. und 19 weitere Probanden zeigten sich bei dem Test gelassen und dachten kaum an den schrecklichen Vorfall. Sie hatten tatsächlich den Wirkstoff erhalten. Doch bei rund der Hälfte der Placebo-Gruppe zeigten sich Stresssymptome. „Es scheint, als würde Propranolol helfen“, sagt Pitman. Inzwischen hat eine weitere Studie in Frankreich Pitmans Ergebnisse bestätigt. Pitman selbst bereitet für den Sommer eine weitere Untersuchung mit 128 Testpersonen vor.

Zentrale Rolle der Emotionen. Die Forschung Pitmans und anderer Wissenschafter enthüllt, welche zentrale Rolle Emotionen beim Erinnern spielen. Angst und Erschrecken brennen Ereignisse ins Gedächtnis ein. „Wenn sich ein Steinzeitmensch plötzlich einem Krokodil gegenübersah, half ihm die Angst, Reißaus zu nehmen“, illustriert Pitman gerne den Sachverhalt. „Gleichzeitig zementiert sie die Erinnerung für das nächste Mal im Gedächtnis – damit man nicht wieder unversehens über das Untier stolpert.“ Diese evolutionäre Erbschaft erklärt auch, warum die meisten Menschen heute noch wissen, wo sie den 11. September 2001 verbrachten. Der Mehrzahl fiele es jedoch schwer, aus dem Gedächtnis abzurufen, wo sie sich etwa am 29. August 2001 aufhielten.

Was sich dabei im Gehirn abspielt, haben vor allem die Forschungen Eric Kandels aufgedeckt (siehe Interview). Dauerhafte Erinnerungen entstehen in zwei Schritten. Zunächst kommen Erlebnisse ins Kurzzeitgedächtnis, ehe ein Auswahlmechanismus jene herauspickt, die ins Langzeitgedächtnis abgelegt werden sollen. Die Archivierung geschieht mithilfe von Eiweißstoffen, welche die Neuronenverbindungen stärken – die Erinnerung prägt sich so dem Gehirn nahezu buchstäblich ein.

Doch diese Erinnerungen werden auch emotional bewertet. Schlüsselinstanz dafür ist die so genannte Amygdala, die blitzschnell auf sinnliche Wahrnehmungen reagiert. Wer beispielsweise auf einem Waldweg ein längliches Objekt sieht, schreckt im ersten Augenblick zusammen, denn es könnte sich um eine Schlange handeln – eine Reaktion, die unser stammesgeschichtliches Erbe spiegelt. Der Körper aktiviert augenblicklich sein Alarmsystem: Das Herz rast, Schweiß bricht aus, die Lungen nehmen mehr Sauerstoff auf, die Pupillen weiten sich, die Nebennierenrinde stößt Adrenalin aus – man ist bereit für Angriff oder Flucht.
Nur einen Augenblick später kann das Gehirn Entwarnung geben, sobald der so genannte Hippocampus, die Schaltzentrale des Gedächtnisnetzwerkes, den Gegenstand als Stock identifiziert. Angenommen jedoch, eine Person wird Zeuge eines Mordes: Dann bestätigt der Hippocampus den ersten Schrecken und verstärkt durch seine Meldung die Angstreaktion. Bewertet der Hippocampus so ein Erlebnis als alarmierend, drückt ihm die Amygdala mithilfe des Stresshormons Adrenalin ihren emotionalen Stempel auf, ehe es im Gedächtnis abgelegt wird. Völlig ungerührt kann sich ein Mensch deshalb später kaum eines solchen Vorfalls erinnern – es sei denn, man unterdrückt den Adrenalin-Ausstoß vorher pharmakologisch durch ein Mittel wie Propranolol. Dabei wird die Verbindung zwischen Erinnerung und Emotion geschwächt, und die Erinnerung ist emotional weniger drastisch eingefärbt.

Diese Beobachtung half Pitman vorerst wenig. Schließlich konnte er Menschen das Mittel nicht gut vor einem unvorhersehbaren Unfall oder Verbrechen verabreichen. Aber, so überlegte der Psychiater, womöglich verfestigen sich traumatische Erinnerungen erst im Gedächtnis, wenn man sie in den Folgetagen vor dem inneren Auge wiederholt durchlebt. Damit würde sich ein Zeitfenster eröffnen, um mit einem Mittel eingreifen zu können. Laut Pitmans Schätzung würde eine Woche ausreichen, um einer Versuchsperson das Medikament zu verabreichen. So kam es zu seiner Studie.

Für Menschen, die bereits am posttraumatischen Belastungssyndrom leiden, kommt die Pille gegen den Schrecken jedoch zu spät – das Grauen hat sich bereits tief in ihr Gehirn eingebrannt. Pitman begegnet solchen Fällen jeden Tag, vor allem bei Vietnam-Veteranen, die noch heute unter den Jahrzehnte zurückliegenden Erlebnissen leiden. Einige halluzinieren, andere fürchten sich panisch vor Menschen, vor der Bewegung von Autos oder vor unübersichtlichem Gelände. Die Forschungen des Pitman-Mitarbeiters Mohammed Milad konzentrieren sich deshalb auf die Frage, wie es dem Gehirn auch nach verstörenden Erlebnissen gelingen kann, das PTBS in den Griff zu bekommen, wobei es nicht darum gehen kann, das Furchtbare zu vergessen, sondern die Angst davor loszuwerden.

Milad hatte bereits vor zwei Jahren gemeinsam mit Gregory Quirk an der Ponce School of Medicine in Puerto Rico demonstriert, wie Ratten lernen, Angst zu überwinden. Zu diesem Zweck wurden die Tiere einem Experiment unterzogen, bei dem ein dem PTBS vergleichbarer Zustand erzeugt wird. Einem Signalton folgt dabei stets ein Elektroschock. Nach einiger Zeit ängstigt die Tiere bereits der Ton allein, ähnlich einem Menschen, der in Panik verfällt, wenn er durch ein Geräusch an ein schreckliches Erlebnis erinnert wird.

Als die Forscher weiteren Tönen keinen Elektroschock mehr folgen ließen, stellten sie fest, dass bei jenen Ratten, die ihre Angst am schnellsten überwanden, ein Bereich des Gehirns besonders aktiv war: nämlich jenes Areal im Vorderhirn, in dem Neuropsychologen die höherstufigen Kontrollinstanzen tierischen Bewusstseins lokalisieren. Bei Ratten mit schweren Traumata hingegen registrierten die Wissenschafter in dieser Region nur geringe Aktivität. Reizten sie das Areal hingegen mit Elektroden, überwanden auch diese Ratten ihre Angst schneller. „Die Angst verschwindet nicht einfach“, erläutert Milad das Experiment: „Man bringt sie unter Kontrolle.“ Jetzt will er diesen Mechanismus bei Menschen nachweisen und dabei testen, ob sich Menschen mit PTBS von ihren Traumata befreien lassen, wenn ihr Vorderhirn mit Medikamenten stimuliert wird.

Warnende Stimmen. Die Vermeidung von Traumata würde vielen Menschen das Leben deutlich erleichtern. Pitman hofft daher, dass der Wirkstoff Propranolol – vorausgesetzt, er hält, was die ersten Studien versprechen – dazu einen entscheidenden Beitrag leisten könnte. Doch es gibt auch warnende Stimmen. Vor allem Ethiker zeigen sich von Pitmans Experimenten beunruhigt, weil die Möglichkeit, Menschen bei der prophylaktischen Verhinderung von Traumata zu helfen, auch ein Gefahrenpotenzial birgt: So könnten etwa Soldaten zu skrupellosen Mördern werden, wenn sie vor Einsätzen ein Mittel schlucken, das Gefühle wie Reue oder Scham von vornherein unterdrückt.

Auch Leon Kass, Bioethik-Berater des US-Präsidenten George W. Bush, warnte in einem im Vorjahr erstellten Bericht mit dem Titel „Jenseits der Therapie“ vor möglichem Missbrauch. Das medikamentöse Erinnerungsmanagement, meint Kass, würde die Gesellschaft fundamental verändern: „Wer einen Mord beobachtet, sollte dies als schrecklich in Erinnerung behalten; wer etwas Abscheuliches tut, sollte seelisch darunter leiden.“ Nach Kass’ Ansicht gibt es eine „Pflicht zum Erinnern“ – nur wer Schreckliches emotional erlebe, entwickle Mitgefühl für andere in prekären Situationen. Und selbst Menschen, die blanken Horror wie den Holocaust erlebt hätten, erfüllten für die Gemeinschaft als authentische Zeitzeugen eine wichtige Aufgabe.

Pitman lässt solche Einwände nicht gelten: „Es ist deplatziert zu fordern, man solle das Leiden einzelner Individuen nur für den Nutzen der Gemeinschaft konservieren. Ich sehe tagaus, tagein Menschen, die von PTBS gepeinigt sind. Ich kann nichts Schlechtes daran finden, ihnen zu helfen“, sagt er und eilt zu einem Meeting, um das nächste Propranolol-Experiment zu besprechen. „Diesmal erhöhen wir wohl die Dosis etwas“, sagt er. Traumapatientin Kathleen S., die es wissen muss, pflichtet ihm bei: „Ich wünschte, ich hätte bereits damals so ein Mittel geschluckt.“