Neuropa

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Der „Economist“ wählte vergangene Woche den triumphierenden Titel „The Europe that died“. Das britische Intellektuellen-Blatt konnte dem Einigungsprozess schon bisher kaum mehr abgewinnen als der gemeinsamen Währung (und die würde man in der Londoner Redaktion wohl lieber in einer Anbindung des Pfund an die indische Rupie sehen als in einem Beitritt zur Europäischen Währungsunion). So ist man im arroganten United Kingdom nun ausgerechnet den selbstherrlichen Franzosen dankbar, dass sie Europa mit dem Nein zur EU-Verfassung in Turbulenzen gestürzt haben.

Auch die Bundesrepublik zeigt sich von den Ereignissen erschüttert. Die selbstzweifelnden Deutschen reagierten freilich mit intellektueller Schlagseite: Der „Stern“ macht per Titelgeschichte („Haben wir uns am Euro verschluckt?“) den Abschied von der Mark für die schlechte wirtschaftliche Situation verantwortlich. Der Chefredakteur schreibt: „Anscheinend hatten die Bürger da ein besseres Gespür als viele Experten.“ Denn mittlerweile zeige sich, „dass die Aufgabe der D-Mark kein Segen für Deutschland war“. Der deutsche Finanzminister und der Bundesbankpräsident hätten bereits das Ende des Euro beraten, so der „Stern“.
Mitte vergangener Woche soll der Euro durch das eigenwillige „Stern“-Gerücht tatsächlich unter Druck gekommen sein. Da hilft’s wenig anzumerken, dass der Währungsverbund das Exportland Deutschland eher vor Schlimmerem bewahrt hat, als an der Arbeitslosigkeit und anderen Folgen der DDR-Sanierung Schuld zu tragen.

Wofür also haben die europäischen Bürger „ein besseres Gespür“? War die Willensbekundung der Franzosen und der Niederländer eine rationale Entscheidung?

Wenn „rationale Entscheidung“ bedeutet, dass jemand die Fürs und die Widers abwägt, um zu einer ausgewogenen Meinung zu kommen, dann war sie es sicher nicht. Eine nicht repräsentative Umfrage in meinem nicht repräsentativen Bekanntenkreis – durchgeführt in der vergangenen Woche – hat ergeben, dass niemand auch nur einen einzigen Punkt aus der neuen Verfassung nennen konnte. Kein besonders wertvoller Hinweis darauf, dass dieselben Befragten bei einem Referendum eine „rationale“ Entscheidung treffen könnten. (Ich hatte mir übrigens auch erlaubt zu behaupten, dass ich diese Woche bei einem Istanbul-Aufenthalt mit „Premierminister Öcalan“ zu Abend essen würde. Es wird Premier Erdogan an diesem Freitag wenig freuen zu hören, dass diese Behauptung nur ein einziges Mal auf schüchternen Widerspruch traf. So viel zur „rationalen“ Auseinandersetzung der Europäer mit den Problemen eines Beitritts der Türkei zur EU.)

Aber ich gehe gerne noch einen Schritt weiter. Einigermaßen fassungslos habe ich einen Gastkommentar von Nationalratspräsident Andreas Khol in der jüngsten Ausgabe von „Format“ gelesen. Khol schreibt dort: „Volle Mitentscheidung des Europäischen Parlaments bei europäischen Gesetzen, europäische Bürgerinitiative, einklagbarer Grundrechtskatalog und Beitritt zur Menschenrechtskonvention, Finanzierung und Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge werden als Kompetenz der einzelnen Staaten (Anm.: in der EU-Verfassung) verankert, verstärkte Mitwirkung der nationalen Parlamente insbesondere im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip sind hier als Beispiele zu erwähnen.“

Meine Fassungslosigkeit bezog sich darauf, dass ich selbst nur einen einzigen der aufgezählten Punkte spontan als Teil der neuen Verfassung hätte nennen können. (Und dieser eine Punkt – die „volle Mitentscheidung des Europäischen Parlaments“ – ist so irreführend, wie es die skurrile Koppelung des Adjektivs „voll“ mit dem Substantiv „Mitentscheidung“ erwarten lässt.)

Nein, die Europäer wollen nicht rational über ihr Europa entscheiden.

Die widerspenstige Stimmung der EU-Bürger scheint vielmehr von zwei Dingen getragen zu sein: einerseits von der Wirkung bürokratisch verklausulierter und technokratisch präsentierter Halbwahrheiten wie jene eben zitierte von Andreas Khol. Derartiges bestärkt die Europäer nicht, ihre ökonomischen Ängste zu vergessen und sich auf eine weitere Reise in unvermessenes Terrain zu begeben.
Andererseits ist es ja möglich, dass die Europäer mit dem gerade Erreichten zufrieden sind. Und dieses Erreichte sind die gewaltigsten politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die sich ein Mensch für Friedenszeiten überhaupt vorstellen kann: die Abschaffung des eigenen Geldes zugunsten des Euro und die Verschmelzung mit Osteuropa, mit dem früheren „Reich des Bösen“.

Ob das nun wirklich ein „The Europe that died“ ist, darf man durchaus bezweifeln. Vielleicht ist der Stopp des Einigungsprozesses doch eher ein Beweis für diesen Einigungsprozess.