New Yorks Ideologie-krieg: Lähmende Leere

New York: Lähmende Leere

Um Ground Zero tobt ein erbitterter Kulturkampf

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Es ist bloß ein großes Loch. Im Alltag ist es ein Ärgernis. Die dezent geschniegelten Broker, die im World Financial Center arbeiten, müssen, wenn sie morgens aus der U-Bahn-Station kommen, über eine behelfsmäßige Stahltreppenkonstruktion steigen, um, am Loch vorbei, in ihre Büros zu kommen. Es wird ein windiger Weg sein, wenn erst einmal der Winter kommt.

Für Touristen ist es etwas ganz Besonderes. In großen Trauben stehen sie bei fast jedem Wetter vor dem Maschendrahtzaun, an dem es außer ein paar Schwarzweißfotos von damals und pathetischen Kalendersprüchen nicht viel zu sehen und zu fotografieren gibt. Wer will, kann sich der Ergriffenheit hingeben. Manche weinen sogar.

Für alle, die in Downtown Manhattan wohnen, ist es eine Insel der Stille. So viel Leere war in dieser Gegend noch selten: eine riesige freie Fläche, auf der es nichts zu kaufen, nichts zu besichtigen, keine Hot Dogs zu essen und auch sonst nichts zu konsumieren gibt. Es wird nicht einmal gearbeitet. Ein paar Bauhütten stehen da, einige Baumaschinen, die Aufgabe der anwesenden Bauarbeiter in leuchtenden Daunenjacken beschränkt sich aufs Warten und Wacheschieben.

Das große Loch, das vor dem 11. September 2001 World Trade Center hieß und heute Ground Zero genannt wird, ist eine heiße urbane Immobilie, das wahrscheinlich teuerste, sicher jedoch berühmteste Baugrundstück der Welt. Mit Pathos durfte noch niemand sparen, der den Ort in seinen Reden erwähnte. Er sei „der Beweis, wie sehr unsere Feinde die Kraft und die Dauerhaftigkeit der Freiheit unterschätzt haben“, sagte Gouverneur George Pataki, als er im Dezember 2002, nachdem man eine Million Tonnen Schutt entsorgt hatte, im Wintergarten des Financial Center die Architektenentwürfe für die Wiederbebauung vorstellte.

Heilung. Es war ein Moment, in dem die Stadt vor Aufregung zu atmen aufhörte. Das Fernsehen übertrug live. Von den Entwürfen für den Masterplan, von Stararchitekten wie Norman Foster oder Daniel Libeskind persönlich vorgestellt, erwarteten sich die New Yorker nichts weniger als die Heilung ihrer Wunde. Libeskind, der den Wettbewerb am Ende gewann, fand für diesen Gemütszustand die richtige Tonlage: „Ich kam als Teenager mit dem Schiff hier an, ein Einwanderer wie Millionen andere. Als Erstes sah ich die Freiheitsstatue und die Skyline von Manhattan. Ich habe niemals vergessen, wofür dieser Anblick steht.“ Er schloss seine Präsentation mit den Worten: „Das Leben wird siegen.“

Die Last, die man dem konkreten Ort mit solchen Sätzen auferlegt, wiegt schwer. Was immer hier gebaut wird – es darf kein Gebäude, sondern muss ein Symbol sein. Der Beweis, dass New York noch am Leben ist. Dass sich al-Qa’ida zu früh gefreut hat. Dass die Demokratie über den Terrorismus siegt und Amerika über seine Feinde.

Doch irgendwie wird das große Loch, so banal, wie es heute daliegt, dieser ihm zugeschriebenen Bedeutung nicht ganz gerecht. Die konkrete Geschichte des Bauprojekts, wie es sich in den vergangenen Jahren darstellte, ist ernüchternd banal. Es ging bisher um viel Geld, um Eitelkeit, um Bequemlichkeit und politischen Populismus. Vielleicht illustriert genau das „die Stärke der Demokratie“, wie sie real existiert – doch so war es wohl nicht gemeint.

Die handelnden Personen sind rasch aufgezählt. Da ist, als wichtigster Player, die Port Authority, die Hafenbehörde, ein biederes, kommunales Amt, das unter anderem die Schiffsfähren, die Flughäfen und einige Pendlerzüge im Großraum der Metropole betreibt. Die Port Authority untersteht den Gouverneuren von New York und New Jersey. Sie besitzt das Grundstück, auf dem das World Trade Center stand, und war, weil in mehreren Stockwerken dort auch ihre Bürozentrale untergebracht war, direkt von den Anschlägen betroffen. Sie will heute vor allem eines: an ihrem Prestigegrundstück weiterhin ordentlich Geld verdienen.

Da ist Larry Silverstein, ein Immobilienmogul, der mit Einkaufszentren in der Provinz einst ein Vermögen machte. Nur wenige Monate vor 9/11 hatte er von der Port Authority die beiden Türme geleast, um einen monatlichen Betrag von zehn Millionen Dollar. Die überweist er heute immer noch, obwohl die Türme nicht mehr stehen. Von seiner Versicherung soll er für den Schadensfall eine ansehnliche Entschädigungssumme erhalten – mit der Auflage allerdings, auf dem Grundstück 920 Millionen Quadratmeter Bürofläche wiederzuerrichten, dasselbe Ausmaß wie vorher. Silverstein will: Bürotürme bauen, und zwar möglichst große, möglichst schnell.

Kleinkrämer. Da ist die Politik in Gestalt zweier Parteifreunde. George Pataki, der 2-Meter-Mann und Gouverneur des Staates New York, bestreitet bereits seine dritte Amtszeit. Als Chef der Hafenbehörde ist er de facto letzte Instanz bei allen Entscheidungen über das Grundstück. Es heißt, Pataki rechne sich für den Rest seiner Karriere noch Chancen auf einen Renommierjob aus, vielleicht sogar auf einem Präsidentschaftsticket. Er will: nirgendwo anecken, es sich mit niemandem verscherzen.

Michael Bloomberg hingegen, ebenfalls Republikaner und Bürgermeister der Stadt, hat sich für das große Loch in seiner Stadt bisher auffallend wenig interessiert. Erst seit seine Lieblingsidee, die Bewerbung für die Olympischen Spiele 2012, scheiterte, hat er sich auf Ground Zero besonnen und die Baustelle im derzeit laufenden Wahlkampf zur Chefsache erklärt (siehe Kasten). Bloomberg will: sich und New York mit einem Prestigeprojekt profilieren; weniger Büros, mehr Kultur und Wohnungen; ein Denkmal zum Herzeigen, das seine Amtszeit überdauert.

Zusätzlich gibt es, wie in Amerika üblich, private Lobbys sonder Zahl: die Hinterbliebenenvereine der Terroropfer, die untereinander hoffnungslos zerstritten sind. Die Gewerkschaft der Feuerwehrleute, jener Menschen also, die kurz vor dem Einsturz noch die Turmtreppen hinaufhasteten und so zu den tragischen Helden von 9/11 wurden. Die Anrainer und Geschäftsleute in Lower Manhattan; die großen Finanzunternehmen, die noch nicht ganz sicher sind, ob sie ihre Firmenzentralen in Downtown oder lieber doch irgendwo anders errichten; sowie die wohltätigen reichen Spendensammler für die geplante Gedenkstätte.

Wirrwarr. Und es gibt das LMDC, die Lower Manhattan Development Cooperation, die all dieses Durcheinander zusammenhalten soll. Die LMDC hat gleich neben dem großen Loch ihre Büroräume bezogen. Sie soll die Wiederbebauung, gemeinsam mit der Revitalisierung des ganzen Stadtteils, planen und ausführen, und zwar im Konsensprinzip mit allen Beteiligten. Ihre Angestellten können aus ihren Fenstern auf ihre Aufgabe hinunterschauen, Tag für Tag, und diese Aufgabe wird, je länger sie schauen, nicht einfacher.

Auch David Stanke hat einen direkten Blick aufs Geschehen – ihm und seiner Frau, einer erfolgreichen Bankerin, gehört ein Loft gleich nebenan, in der Liberty Street. Auf der Fensterfront der Wohnküche, die den imposanten Panoramablick auf das große Loch freigibt, kleben die Halloween-Pickerln seiner Kinder. Stanke hat sich, als Schriftsteller und Anrainer, mit Leib und Seele Ground Zero verschrieben, doch selbst bei ihm kommt einmal der Punkt, an dem die Ermattung siegt. „Irgendwann will man nur noch sagen: Baut endlich was! Egal was!“, sagt er. „Die Streitereien sind nur noch unwürdig. Ehen zerbrechen, weil man eine Wohnung renoviert. Und hier, da draußen, darf jeder mitreden, der will, und wer sich am besten in Pose wirft, gewinnt. Wenn das die Terroristen hören könnten, sie würden glauben, sie hätten gesiegt.“

Das ist eine schriftstellerische Zuspitzung. Doch der ideologische Grundsatzkonflikt, der vor wenigen Wochen eskalierte, erinnerte streckenweise tatsächlich an einen Feldzug, nach dem nur verbrannte Erde bleibt.

Stein des Anstoßes war das Museum, das jahrelang als zentraler Bestandteil der Gedenkstätte geplant war. Es sollte International Freedom Center heißen und den al-Qa’ida-Terror für bildungsbeflissene Touristen in einen historisch-politischen Zusammenhang stellen. Wo, wollte das Museum etwa fragen, wird Freiheit bedroht? Wie entsteht Totalitarismus, und wie kann sich eine Demokratie dagegen wehren? Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung sollte vorkommen, ebenso wie der Stalinismus und Nazi-Deutschland.

„Links“ war diese Idee ebenso wenig wie „radikal“. Eher entspricht sie dem typisch aufklärerischen Didaktikstil, der etwa auch im Washingtoner Holocaust-Museum gepflegt wird. Zu den Sponsoren gehörten zwar stadtbekannte liberale Mäzene wie der Milliardär George Soros oder der Schauspieler Robert De Niro, doch auch prominente Geschäftsleute wie Tom A. Bernstein, der nicht bloß Republikaner, sondern auch ein enger Freund von George W. Bush aus Texas ist.

„Es gibt nur eine einzig mögliche Antwort auf die Tyrannei und den Terror“, erklärt Bernstein die Idee, „und das ist die Bekräftigung jener Werte, die attackiert werden. Der zentrale Wert, um den es hier geht, ist die Freiheit.“ „Es gibt nur einen Weg, unsere Nation zu stärken, und das ist die freie Meinungsäußerung“, sekundierte die „New York Times“.

Doch es half alles nichts, sobald die Reizwörter „Guantanamo“ und „Abu Ghraib“ gefallen waren und der Verdacht der Nestbeschmutzung im Raum stand. „Abgehobene linke Oberlehrer“, so der Tenor einer Boulevardkampagne, wollten die Nation in den Schmutz ziehen und mit ihr gleich auch George W. Bush und die Helden von 9/11. Wer von den Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo und den Gefangenenmisshandlungen im Gefängnis von Abu Ghraib spreche, erledige das Geschäft von Amerikas Feinden.

„Take back The Memorial“ („Holen wir uns die Gedenkstätte zurück!“) nennt sich der Aufstand, zu dessen Wortführerin sich eine selbstbewusste blonde Mittvierzigerin aufschwang. Debra Burlingame ist die Witwe jenes Piloten, dessen Flug, AA 77, am 11. September 2001 in das Pentagon raste. „Wir wollen unserer Helden gedenken und nichts anderes“, sagt sie. „Über chinesische Dissidenten und chilenische Flüchtlinge kann man gerne reden – aber nicht ausgerechnet hier!“

Zorn. Ein offener Brief, der im „Wall Street Journal“ erschien und seither zigtausendfach weiterverbreitet wurde, brachte die Emotionen zum Überkochen: „Die Öffentlichkeit wird betrogen“, schrieb Burlingame darin. Sie werde „zwangsernährt“ von internationalistischen Ideologen und „beleidigt“ von „Guantanamo-besessenen Menschenrechtsaktivisten“. Statt Schautafeln über die Rassendiskriminierung und die Ungerechtigkeit der Welt sollten die Reliquien des 11. September ausgestellt werden, die verbeulten Fahrzeuge, Gebäudeteile, Lebensreste, die vom Einsturz übrig geblieben waren und heute in einem Hangar am JFK-Flughafen aufbewahrt werden. Nichts anderes – denn um etwas anderes ginge es nicht.

Vor der Gewalt dieser populistischen Attacke, die wochenlang aus den Schlagzeilen an allen Kiosken plärrte, knickten alle ein. Die Demokratin Hillary Clinton, die sich immer noch Chancen ausrechnet, Präsidentin zu werden, sagte: „Das Museumskonzept überzeugt mich nicht.“ Bloomberg hatte sich ohnehin nie dafür aus dem Fenster gelehnt. Von Pataki schließlich kam der Todesstoß: „Wir werden an dieser Stelle nichts tolerieren, das Amerika in den Schmutz zieht.“

Schon zuvor hatte sich, leiser, aber aus ähnlichen Gründen, das Drawing Center, ein Kunstmuseum, aus der Gedenkstätte zurückgezogen. Man möge bitte „garantieren, dass dort niemals etwas gezeigt werde, das Amerika schlecht macht“, verlangte Pataki – ein Ansinnen, das kein ernst zu nehmender Ausstellungsmacher akzeptieren konnte.

Die Hinterbliebenen des Terrors sind zur politischen Größe in Amerika geworden. Die einen erzwangen den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu 9/11, der gefährliche Versäumnisse der Regierung im Vorfeld der Anschläge zutage förderte. Andere fordern, etwas skurriler, dass die Schuttberge des World Trade Center, die auf Staten Island zu Aufschüttungen zusammengeschoben wurden, wieder abgetragen und ordentlich begraben werden, weil sie „biologisches Material“, also Mikropartikel von Leichen, enthalten. Solche Eiferer gering zu schätzen traut sich allerdings niemand.

„Die Hinterbliebenen sind zur Gedankenpolizei des Landes ernannt worden“, ätzt der Autor Stanke. Nicht genug damit, dass jede der 3000 Opferfamilien im Durchschnitt eine Million Dollar erhalten habe und das Denkmal für die Toten 500 Millionen kosten wird – man habe ihnen auch das Monopol über die Interpretation der jüngeren amerikanischen Geschichte überantwortet. „Wir zelebrieren damit den Tod, unseren Verlust und unsere Niederlage. Und opfern zwei entscheidende amerikanische Stärken: die freie Rede und den Pragmatismus.“

Keine Kühnheit. Nach dem Börsenkrach von 1929 dauerte es bloß 13 Monate, bis das Empire State Building, das damals höchste Gebäude der Welt, hochgezogen war – das Symbol dafür, dass sich New York so schnell nicht kleinkriegen lässt. Im Jahr vier nach 9/11 flattert im großen Loch von Ground Zero hingegen bloß eine träge Fahne.

Das Gebäude der Deutschen Bank, in schwarzes Tuch gehüllt, wird als letzte der Ruinen derzeit langsam abgetragen, am U-Bahnhof wird unterirdisch ein bisschen herumgebaut, und im kommenden Frühjahr soll der Grundstein für den Freedom Tower gelegt werden, der 541 Meter hoch in den Himmel ragen soll. 2009 soll die Gedenkstätte fertig sein, ein Jahr später der Turm, doch es gab schon so viele Verzögerungen und Verwirrungen, dass keiner mehr recht dran glauben kann. Es geht alles langsam, bedächtig, so gar nicht in jenem Tempo, auf das New York City immer derart stolz war.

Die Fantasien, die dieser Ort beflügelte, klingen heute schal: Ein „erneuertes Bürgerbewusstsein“ hatte sich etwa Richard A. Tofel, der Chef des Freiheitszentrums, gewünscht, den „Beweis für das ewige Selbstvertrauen und die Humanität unserer Gesellschaft“. Bürgermeister Bloomberg sah die „Gelegenheit, Lower Manhattan an jenen Platz zu führen, den es verdient: als globales Zentrum der Innovation, als Hauptstadt der Welt“. In Momenten der größten Krisen, beschwor der Bürgermeister, habe New York stets seine größten Leistungen vollbracht.

In der Kühnheit unterschied sich die Stadt stets vom Rest Amerikas, doch die Kühnheit ist ihr heute irgendwie abhanden gekommen. Seit mitten in Downtown das große Loch klafft, scheint es, als sei New York ein Stückchen näher an Amerika herangerückt.

Von Sibylle Hamann, New York