„Ich saß nicht tatenlos auf meinem Arsch“

Nick Cave: „Ich saß nicht tatenlos auf meinem Arsch“

Interview. Nick Cave über göttliche Partikel und faustische Pakte

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Interview: Robert Rotifer

Mit seinen Bands The Boys Next Door und The Birthday Party prägte Nick Cave in den späten 1970er-Jahren den australischen Punk, als Anführer der Bad Seeds wurde er in den Achtzigern zum widerwilligen Propheten der Gothic-Subkultur. Dank seiner wohlfeilen Mörderballaden und nicht zuletzt aufgrund eines Duetts mit Kylie Minogue verirrte sich seine Musik in den Neunzigern in den Mainstream. Im neuen Jahrtausend erlebte Cave – nach seiner Entwöhnung von Heroin und Alkohol – seine dritte Blüte als Songwriter, ehe er mittels Neugründung der brachialen Blues-Band Grinderman dem Geruch der Respektabilität wieder entfloh. Nach Ausflügen ins Filmgeschäft (insbesondere als Komponist und Drehbuchautor) versammelte Cave nun wieder seine Stammband, die Bad Seeds, in einem südfranzösischen Studio – fast 30 Jahre nach deren Gründung und acht Jahre nach ihrem letzten Album. Am Mittwoch vergangener Woche wurde das so entstandene Album im großen Stil samt Kinderchor und Streicher-Ensemble im Berliner Admiralspalast aufgeführt: ein geschichtsträchtiger Ort für die Rückkehr der Bad Seeds, schließlich lebten Cave und seine Band von 1985 bis kurz vor dem Mauerfall in Westberlin. profil traf den 55-Jährigen, der seine neben ihm nackt auf dem Cover des neuen Albums abgebildete Frau als seine „Muse“ bezeichnet, am Tag des Auftritts im makellosen schwarzen Anzug mit frisch geschwärztem Haar und Lederhandschuhen.

profil: Ich habe auf meine Reise nach Berlin versehentlich einen Stadtplan aus dem Jahr 1987 mitgenommen. Darauf ist noch die Mauer eingezeichnet. Sie selbst lebten damals auch hier. Die Straßen und Plätze auf dem Plan sind immer noch dieselben, auch wenn sich die Metropole erheblich verändert hat. Wie sehr haben Sie selbst sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten verändert?
Cave: Die Vergangenheit steigt ständig in einem hoch. Ihre Geister erheben sich. Aber sie wollen leben. Sie haben es satt, Geister zu sein. Vielleicht ist das der Kern des Daseins: Am Ende wird man von seiner eigenen Vergangenheit aufgefressen. Es fühlt sich jedenfalls immer mehr danach an, als sei sie nicht weit weg. Sie ist mir auf den Fersen und sucht Rache.

profil: Es gibt eine anhaltende Debatte dar­über, dass auch der Rock’n‘Roll sich selbst auffrisst. Die Popkultur ist offenbar dazu verdammt, sich zu wiederholen. Für einen wie Sie besteht ständig die Versuchung, sich in diese Pflege des Kulturerbes hineinziehen zu lassen. Wie gehen Sie damit um?
Cave: Ich bin nicht die Art von Künstler, der die vergangenen 30 Jahre tatenlos auf seinem Arsch saß und jetzt seine Band wieder zusammentrommelt, um denselben Scheiß zu machen, der damals schon nichts wert war. Ich bin ein zeitgenössischer Künstler. Das ist vielleicht ein seltsamer Gebrauch dieses Begriffs, weil meine Musik ja nicht viel Verbindung dazu hat, was derzeit in der Welt vor sich geht. Aber wenn es etwas gibt, worauf ich stolz bin, so ist es der Individualismus meines Werks. Ich erschaffe mein eigenes Universum, und das hat mit Kulturerbe nichts zu tun.

profil: Sie sprechen in dem Song „We Real Cool“ direkt jene Leute an, die im Internet Ihren Spuren folgen. Macht die ständige Beobachtung, der Sie ausgesetzt sind, Ihr Leben schwerer?
Cave: Das Internet ist eine eigenartige Sache, eine fantastische, lebendige Spiegelung unseres Gedächtnisses, unverlässlich und besessen von eigenartigen, irrelevanten Details. Als Werkzeug für einen Songwriter hat diese Unverlässlichkeit aber etwas Wunderbares. Ich liebe es, ich bin ein Wikipediaphiler. Aber das Internet ist natürlich auch eine Falle. Dank Google-Alert kann man sich ständig selbst durch die Augen anderer betrachten. Die Kommentare zu den Dingen, die man macht, bilden einen großen Brunnen der Melancholie, in den man sich fallen lassen kann.

profil: Lesen Sie denn die Kommentare unter den Internet-Streams Ihrer Videos?
Cave: Aber ja. Jemand stellt ein Video auf YouTube, und man grast ein bisschen die Kommentare dazu ab. Warum sollte ich nicht überprüfen, was die Leute davon halten? Ich muss hinzufügen, dass ich nicht allzu viel Zeit damit verbringe, aber es ist sehr unterhaltsam. Manchmal ist es auch furchterregend oder erniedrigend, aber hin und wieder auch ein Riesenspaß. Grundsätzlich halte ich mich jedoch von der etwas abstoßenden Tendenz des Internets zur Nabelschau fern. Oder besser: Ich versuche es zumindest.

profil: Sie sind ja selbst zu einer Art Internetphänomen geworden, weil jedes Mal, wenn Sie in Ihrer Wahlheimatstadt Brighton in den Supermarkt gehen, jemand ein Bild davon ins Netz stellt. Und in Ihrem Song „Mermaids“ spielen Sie auf jenen Kurs für Verkehrsgeschwindigkeitsbewusstsein an, den Sie nach einem im Internet schadenfroh publizierten Unfall an der Seepromenade belegen mussten. Führen Sie da eine Art Konversation mit dem Voyeurismus Ihrer Fans?
Cave: Sicher, aber wie alles, worüber ich schreibe, wird auch Brighton durch die Mühle meines Schreibprozesses getrieben und dabei in etwas anderes, Unwirkliches verwandelt. Allerdings gefällt mir die Tatsache, dass ich diese berühmte Radarkamera niedergefahren habe, die alle in Brighton hassen, weil sie alle erwischt. Ich bin da hineingedonnert und habe die Kamera für sechs Monate außer Gefecht gesetzt – leider auch mein Auto. Ein halbes Jahr lang wurde ich so zum Lokalhelden von Brighton. Die Leute haben mir auf die Schulter geklopft und Biere spendiert.

profil: Einer Ihrer neuen Songs trägt den ironischen Titel „Higgs Boson Blues“. Anderswo erwähnen Sie die 72 Jungfrauen, die islamistische Selbstmordattentäter im Paradies erwarten. Auf der einen Seite die wissenschaftsgläubige Beschwörung eines göttlichen Teilchens, andererseits die Perversion religiösen Glaubens durch die wörtliche Auslegung symbolischer Schriften. Was interessiert Sie daran?
Cave: Ich fühlte mich durch die Ausdrücke, die die Boulevardpresse in ihren Berichten verwendete, von dem Higgs-Boson-Experiment angezogen. Vor allem der Ausdruck „The God Particle“ ließ mich aufhorchen. Die Wissenschafter hielten das zwar für einen Riesenblödsinn, aber es sorgte für öffentliche Aufmerksamkeit. Es gab diese Vorstellung, dass die Entdeckung eines solchen Teilchens die Existenz Gottes widerlegen würde. Das fand ich spannend. Grundsätzlich existieren meine Songs aber in der magisch-absurden Welt meiner Vorstellung, die ihren ganz eigenen Regeln gehorcht. In dieser Welt existiert Gott. Und Meerjungfrauen auch. Was immer ich will.

profil: Muss man Ihre Musik nicht im Kontext des jeweils gesamten Albums hören, um diese Welt wachrufen zu können? Schließlich sehen wir auch im Kino immer noch Filme vom Anfang bis zum Ende. Musik wird dagegen fast nur noch häppchenweise konsumiert.
Cave: Es gibt immer noch Menschen, die Alben durchhören. Wer das tut, wird davon profitieren, denn die Songs geben ein­ander die Hand, und sie bilden eine Gang. Mir ist bewusst, dass dieses Format re­dundant geworden ist, weil wir längst anders leben als noch vor zehn oder 15 Jahren. Kaum jemand setzt sich noch so lange hin, wie ein Album dauert. Ich glaube aber, dass gerade die jungen Leute eine Sehnsucht nach mehr Substanz verspüren. Es ist wohlgemerkt nicht die Sehnsucht nach irgendeiner besseren Vergangenheit, sondern schlicht nach Inhalt.

profil: Beobachten Sie das an Ihren eigenen Kindern?
Cave: Ich weiß nicht. Sie sind erst 12. Sie lernen jedenfalls mehr vom Internet als von der Schule. Sie setzen sich ans Klavier und spielen Musik, einfach so. Ich frage sie: „Wo zum Teufel habt ihr das gelernt?“ Und sie meinen nur: „Ach, da war so ein Lehrgang im Internet.“ Sie machen gemeinsam Filme, und sie interessieren sich sehr für Post-Production, für Nachbearbeitung mit Effekten. Sie filmen einander dabei, wie der eine Zwillingsbruder den anderen mit einer Pistole erschießt, plötzlich explodiert die Pistole, und das Blut fließt in Strömen. Es ist großartig. Die sitzen einfach an ihren Computern und tippen vor sich hin, und dann heißt es in der Schule, sie könnten sich nicht konzentrieren. Da sag ich: „Fuck you! Sie sollten die einmal zu Hause erleben! Geben Sie Ihnen doch etwas, womit sie sich auch befassen wollen!“

profil: Es heißt, das Coverfoto Ihres Albums sei zufällig entstanden – in Ihrem Schlafzimmer. Das Bild ist sehr symbolträchtig: Sie öffnen die Fensterläden, um das Licht der Öffentlichkeit in Ihr Leben zu lassen. Jenes fällt auch auf Ihre Frau Susie, die da – im Gegensatz zu Ihnen selbst – nackt auftritt. Ist das nicht etwas gar intim?
Cave: Solche Dinge habe ich doch immer schon getan. Erstens hat eine Freundin meiner Frau, die französische Fotografin Dominique Issermann, dieses Bild gemacht. Manche Leute wollen immer glauben, dass Frauen Dinge bloß tun, weil Männer diese ihnen anschaffen. Da wird dann gefragt: „Warum ließen Sie Ihre Frau so etwas machen?“ Ich will also grundsätzlich klarstellen: Es waren meine Frau und ihre Freundin, die dieses Bild so gut fanden. Tatsächlich geht es in diesem Foto um den faustischen Pakt, den ein Künstler mit seiner Muse eingeht. Und Susie weiß, dass diese wertvollen Momente zwischen Mann und Frau letztlich durch die Mangel meiner künstlerischen Vorstellungskraft gedreht und am anderen Ende als korrumpierte Lieder wieder ausgespuckt werden. Das ist die Abmachung zwischen uns. Und sie liebt dieses Cover. Warum sollte sie das auch nicht? Dies ist ein Album über sie. Sie kommt darin überall vor, sie geht in dieser Platte ein und aus. Nichts passt also besser als dieses Fotomotiv.