Kim Jong Ils Nachfolge

Nordkorea: Kim Jong-un wird auf die Machtübernahme vorbereitet

Nordkorea. Kim Jong-un wird derzeit auf die Machtübernahme vorbereitet

Drucken

Schriftgröße

Von Mira Mayrhofer und Gunther Müller

Es ist Anfang September 1997, für João Micaelo, den damals 14-jährigen Sohn portugiesischer Einwanderer, beginnt wieder die Schule. João geht in die sechste Klasse am staatlichen Oberstufenrealgymnasium in Liebefeld, einer 5000-Einwohner-Gemeinde im Schweizer Kanton Bern. Die Schüler sitzen bereits auf ihren Plätzen, als die Klassentüre aufgeht und die Schuldirektorin hereinkommt. Neben ihr steht ein gut 1,70 Meter großer asiatischer Junge mit Trainingsweste und Schuhen der Marke Nike. Er wird den rund 20 Schülern der 6A als Un Pak vorgestellt. Un Pak sei der Sohn nordkoreanischer Diplomaten, heißt es.

Neben João Micaelo ist noch ein Platz frei, also setzt sich Un neben ihn. „Hi, my name is Un“, flüstert der Neue. „Nice to meet you.“ In den Pausen kommen sie schnell ins Gespräch: Beide sind vernarrt in die US-Basketballliga NBA, beide spielen gern Fußball, schauen am liebsten Kung-Fu-Filme. João hilft Un bei den Deutsch-Hausaufgaben, Un ist dafür richtig gut in Mathematik, wo João nie ganz durchblickt.

Eine enge Freundschaft entsteht. Sie sollte rund vier Jahre andauern – bis Un Pak mitten im Sommersemester 2001 aus der Schule genommen wird. Er sei wieder nach Nordkorea gegangen, erklärt der Klassenvorstand den Schülern. Was João Micaelo erst Jahre später begreift: Sein bester Jugendfreund lebte jahrelang unter falscher Identität in Liebefeld. Un Pak war in Wahrheit der jüngste Sohn eines der wüstesten wie unberechenbarsten Machthaber des 21. Jahrhunderts. Sein echter Name: Kim Jong-un. Der Name des Vaters: Kim Jong Il, Diktator von Nordkorea.

Nordkorea:
Kein Land ist heute von der Außenwelt so streng abgeriegelt wie dieser kleine ostasiatische Staat. Die kommunistische Volksrepublik wird von dem gottgleich verehrten Kim Jong Il mit eiserner Hand regiert. Die Grenzen sind nach allen Richtungen dicht, Nachrichten aus dem Landesinneren dringen kaum nach außen. Und alles, was über den schrulligen Diktator mit den verdunkelten Brillengläsern, seine politische Stellung, seine Familie und seine angebliche Krebserkrankung berichtet wird, beruht großteils auf unbestätigten Geheimdienstberichten und Spekulationen. Flüchtlinge, die es in die Nachbarländer China oder Südkorea schafften, erzählen von grenzenloser Armut, Hungersnöten und Aufständen in den ländlichen Regionen des Landes.

Gleichzeitig hat Nordkorea seit der Jahrtausendwende aufgerüstet, das Land verfügt über ein kleines, aber offenbar durchaus einsatzfähiges Atomwaffenarsenal. Immer wieder droht Nordkorea dem Erzfeind Südkorea mit Krieg. Die Lage im Pazifik ist gespannt, ein Konflikt und ein darauf folgender Sturz des nordkoreanischen Regimes würde die gesamte Region ins Chaos stürzen. Kim Jong Il, dem Psychologen aus der Distanz Paranoia und krankhaften Narzissmus attestieren, scheint jedenfalls zu allem fähig zu sein.

Massengymnastik.
Kein Wunder, dass angesichts dieser heiklen Lage die Welt seit Jahren darüber rätselt, wer nach Kim Jong Il, der kommenden Februar 70 Jahre alt wird, in Nordkorea die Macht übernehmen wird. Der Zeitpunkt, eine Erbfolge festzulegen, wäre längst überfällig. Kim Jong Ils Vater, Kim Il Sung, war 62, als er Mitte der siebziger Jahre begann, seinen Sohn unter der Bezeichnung „Zentrum der Partei“ zum Nachfolger aufzubauen. Bühne für die Krönungsmesse war damals ein Mega-Parteitag der Kommunistischen Arbeiterpartei Nordkoreas (WPK) – ein Parteitag, wie ihn das diktatorische Nordkorea nur selten abhält, doch in dieser Woche findet er erneut in Pjöngjang statt.

Die Hauptstadt Pjöngjang ist herausgeputzt wie nie, um die Delegierten, die aus allen Landesteilen herbeiströmen, zu beeindrucken. Tausende übten auf öffentlichen Plätzen in Pjöngjang schon die Massengymnastik zur Unterhaltung der Führung und der Gäste, berichtet die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua. Das werde ein „außergewöhnliches Ereignis, das ewig ausstrahlen wird in die Annalen von Partei und Vaterland“, funkte der staatliche nordkoreanische Rundfunk zuletzt. Und gut informierte Kreise des Landes berichten von „wichtigen Personalentscheidungen“, die getroffen werden sollen.

Kim Jong Ils Schlaganfall vor gut zwei Jahren wurde offiziell zwar nie bestätigt. Er lässt sich jedoch kaum verbergen: Seit Anfang 2009 zeigen Fotos und Fernsehaufnahmen den ehemals wohlgenährten Kim immer wieder dünn und kränklich, mit müdem Blick und hinkendem Gang. Obwohl alle Anzeichen darauf hindeuten, dass Kim das Ruder weiterhin fest in der Hand hält, hatte er – anders als sein Vater Kim Il Sung – bisher kein Vertrauen in die jüngere Generation gesetzt. Nach Koreas konfuzianischer Familientradition wäre der älteste Sohn, Kim Jong-nam, der prädestinierte Erbe. Doch der 39-Jährige soll wegen seiner Eskapaden im Ausland in Ungnade gefallen sein. Die Nummer zwei in der Erbfolge, der 29-jährige Kim Jong-chol, scheint ebenfalls nicht die Gunst des Vaters zu genießen.

Deshalb konzentrieren sich die Nachfolgespekulationen seit vergangenem Jahr auf Kims jüngsten Sohn: Kim Jong-un sei von seinem Vater als Nachfolger im Amt des Generalsekretärs der kommunistischen Partei der Arbeit Koreas benannt worden, berichteten Medien im Jänner 2009. Drei Monate später wurde Kim Jong-un Mitglied im Nationalen Verteidigungsausschuss des Landes. Die Bevölkerung werde bereits auf ein Loblied auf den neuen „Befehlshaber“ eingeschworen, sagen Beobachter. „Ich denke, es wird für Kim Jong-un eine Nominierung für einen bisher vakanten Posten geben“, sagt der Nordkorea-Experte der International Crisis Group, Daniel Pinkston.

Privatchauffeur.
Es ist halb vier Uhr nachmittags, João Micaelo hat gerade Mittagspause. Der junge Mann mit den kurzen braunen Haaren und dem Dreitagebart ist vor drei Jahren aus dem Schweizer Liebefeld nach Österreich gezogen, er arbeitet heute als Koch in dem schicken französischen Restaurant „Coté Sud“ in der Schleifmühlgasse im 4. Wiener Gemeindebezirk. Micaelo erinnert sich noch gut an die gemeinsamen Jahre mit Un. „Wir haben fast jeden Nachmittag miteinander verbracht. Oft hat er mich auch zu sich nach Hause zum Essen eingeladen.“ Dort habe eine Privatköchin für die beiden gekocht. „Das war nicht unbedingt mein Geschmack, es gab oft gekochtes Huhn mit seltsamen süß-sauren Soßen.“

Kim Jong-un, alias Un Pak, wohnte damals in der Kirchengasse Nr. 10, es war eine gutbürgerliche Wohngegend in Liebefeld, die vermeintlichen Eltern des Diktatorenkindes bewohnten ein zweistöckiges Haus. „Un hatte immer die besten technischen Geräte, einen tollen Fernseher und Videorekorder von Sony oder eine PlayStation – alles Dinge, die sich die meisten anderen nicht leisten konnten“, sagt Micaelo. In dem Haus wohnten Un, seine Alibi-Eltern, eine Köchin, ein Privatlehrer und ein Chauffeur, der Un und seine Freunde durch die Gegend kutschierte. „Ich habe mit den Eltern nie gesprochen, weil ich kaum Englisch konnte und sie kein Wort Deutsch.“ Auch hat Micaelo niemals das Zimmer von Un gesehen. „Wir waren meistens im Wohnzimmer, wo er mir nach den Ferien immer neue Jackie-Chan-Filme zeigte. Er hatte wirklich alle von ihm, auch diejenigen, die bei uns nie ins Kino gekommen sind.“

In einem Ort wie Liebefeld gab es für Teenager wie João und Un nicht viel zu tun. Im Grund war der Tagesablauf immer derselbe: Man traf sich Nachmittag für Nachmittag auf dem Basketballplatz, warf Körbe und imitierte das große Vorbild Michael Jordan. Alle beneideten Un um seinen NBA-Basketball, der mindestens 200 Franken (155 Euro) gekostet haben musste. „Un und ich haben natürlich oft über Mädchen gesprochen. Wir schwärmten und schmiedeten Pläne, die wir am Ende dann doch nie umsetzten.“ Nur als João an Wochenenden abends ausging, war Un nie mit von der Partie. „Wir tranken schon öfter mal Alkohol, Un hat nie auch nur einen Schluck gemacht.“

Über das Leben in seiner Heimat sprach der Junge aus Nordkorea hingegen nur selten. „Ich weiß nur, dass er oft Heimweh hatte. Auf der Stereoanlage haben wir immer nordkoreanische Lieder gehört. Westliche Musik gefiel ihm fast gar nicht. Am liebsten hörte er sich die nordkoreanische Nationalhymne an, die haben wir mindestens 1000-mal gehört, da wurde er richtig sentimental.“

Kinderfoto.
Wenn es stimmt, dass Micaelos Jugendfreund kurz davor steht, zum dritten Herrscher in der ersten kommunistischen Erbdynastie der Weltgeschichte auserkoren zu werden, dann wird ihm zu Ehren wohl bald das ganze Land die Nationalhymne singen müssen. Protzige Veranstaltungen zu Ehren der Familie Kim gehören in Nordkorea zum politischen Alltag. Bis dahin bemüht sich der Parteiapparat noch, alles über den jüngsten Spross des Diktators geheim zu halten. Mit Erfolg: Bislang tauchte in den Medien nur ein einziges Kinderfoto des Sprösslings auf, dessen Alter auf 25 bis 30 Jahre geschätzt wird. Vor 1997 soll Kim Jong-un eine Privatschule in Bern besucht haben, ehe er dann nach Liebefeld zog. „Ich war damals 14 Jahre alt und er, soweit ich mich erinnern kann, ein Jahr älter als ich“, erzählt João Micaelo, heute 26 Jahre alt.

João und Un waren keine besonders guten Schüler. „Man hat die Klasse oft in zwei Gruppen aufgeteilt, wir beide waren immer in der schwächeren“, sagt João. Wenn Un im Geschichtsunterricht aufgerufen wurde, sah er für ein paar Sekunden beschämt in die Luft, dann haben ihn die Lehrer wieder in Ruhe gelassen. „Er wusste die Antworten, weil er sehr viel mit seinem Privatlehrer gelernt hat, aber er konnte sich einfach nie auf Deutsch ausdrücken.“

Es war ein Sonntagnachmittag, João war bei Un zu Hause, als dieser ein Foto herauszog, auf dem Un zusammen mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong Il zu sehen war. Plötzlich platzte es aus Un heraus. „Ich bin in Wahrheit nicht der Sohn des Botschafters, ich bin der Sohn des nordkoreanischen Präsidenten“, vertraute er seinem Freund an. „Ich habe ihm das einfach nicht geglaubt. Er hat mir das dann öfter gesagt, ich dachte immer, Un macht einen angeberischen Scherz“, sagt Micaelo heute. „Im Grunde war das damals aber auch egal, Politik interessierte doch niemanden von uns. Wir verstanden nichts von dem, was in der Welt so vor sich ging.“

Strahlkraft.
Als Un nach den Osterferien im Sommer 2001 von der Schule ging, dachte João, er würde ihn wiedersehen. Sechs Monate später läutete noch einmal sein Telefon, Un war am anderen Ende der Leitung. Die beiden trafen sich noch einmal auf dem Basketballplatz, warfen Körbe wie in alten Zeiten und plauderten, dann sagte Un, er müsse nun gehen. „Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.“

Sollte Kim Jong-un tatsächlich die Macht in Nordkorea übernehmen, wird er ein äußerst schweres Erbe antreten. Denn neben ständigen Hungerkatastrophen schwindet auch zusehends das Ansehen der als heilig verehrten Familie Kim. „Die Macht des Regimes bröckelt unaufhörlich, am Ende kann alles sehr schnell gehen – wie 1989 in Europa“, sagt Ostasien-Experte Rüdiger Frank von der Universität Wien. „Kim Jong Il war als Sohn des Nationalheiligen Kim Il Sung unantastbar. Doch der Enkelsohn hat nicht mehr diese Strahlkraft. Wenn er zum Machthaber ernannt wird, könnte es zu Putschversuchen bis hin zum Bürgerkrieg kommen.“