Ein Bündelchen Widerspruch

NS-Geschichte: Ein Bündelchen Widerspruch

Ihre beste Freundin schreibt über Anne Frank

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In einem Karton hat die 75-jährige Jacqueline van Maarsen die Relikte einer Mädchenfreundschaft aufbewahrt: eine Neujahrskarte, eine mit der Schreibmaschine verfasste Einladung zu einem Geburtstagsfest mit anschließender Filmvorführung aus dem Jahr 1942, ein Stammbuch, in dem die beste Freundin für „Jacque“ ein Gedicht verfasst hatte: „Bleib’ immer ein Sonnenstrahl / In der Schule ein braves Kind / Für mich meine liebste Freundin / dann wirst du von jedem geliebt.“

Die darunter geklebte Fotografie zeigt das Mädchen, das im kollektiven Gedächtnis zur Symbolfigur des Holocaust geworden ist: Anne Frank, im Juni 1929 in Frankfurt geboren, im Februar 1934 nach Amsterdam emigriert, im Juli 1942 im Hinterhaus der Gelierzuckerfirma ihres Vaters untergetaucht. Im August 1944 wurde die Familie Frank vom österreichischen SS-Offizier Karl Josef Silberbauer verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Die Mutter Edith Frank, „eine stille Frau, die Deutschland sehr vermisst hatte“, kam dort vor Hunger und Erschöpfung um. Ihre beiden Töchter Margot und Anne sollten sie nur knapp überleben. Im März 1945 starb Anne nach der Überstellung ins Konzentrationslager Bergen-Belsen in ihrem 16. Lebensjahr, wenige Tage nach ihrer älteren Schwester, an den Folgen von Typhus.

Als der Vater Otto Frank, der einzige Überlebende der Familie, die Tagebuchaufzeichnungen seiner Tochter 1947 in geglätteter Form (abzüglich der sexuellen Sehnsüchte und Kritik an den handelnden Personen) publizieren lassen wollte, hatte er noch Mühe, einen Verleger zu finden, und musste das Projekt selbst mitfinanzieren. Seither wurde das Zeugnis eines Lebens, das zwischen kurzem pubertärem Daseinsenthusiasmus, idealistischen Schwärmereien, prophetischem Scharfsinn und Todesangst pendelte, in 60 Sprachen übersetzt und 32 Millionen Mal verkauft. Jährlich besuchen 700.000 Touristen das zum Anne-Frank-Museum umgewidmete schmale Kaufmannshaus Prinsengracht 263, in dem die Familie, gemeinsam mit vier anderen „zum Arbeitseinsatz bestimmten“ Juden, über zwei Jahre heimlich gelebt hatte.

„Nie wieder bin ich jemandem begegnet, der das Leben so auskostete wie meine Freundin Anne“, sagt die heute noch in Amsterdam lebende Jacqueline van Maarsen. Die siebenfache Großmutter und frühere Buchbinderin ließ Jahrzehnte verstreichen, ehe sie ihre Erinnerungen an ihr eigenes Überleben und an die gemeinsame Zeit mit Anne zu Papier brachte. Van Maarsens „Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank“ (bei S. Fischer) erscheint knapp vor dem 75. Geburtstag der verlorenen Freundin am 12. Juni und widersetzt sich der geläufigen Mythenbildung: „Anne war ein Mensch, was in der Rezeptionsgeschichte oft vergessen wird. Sie war ein bisschen exzentrisch und so gerne Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie war bereits sehr neugierig auf die Sexualität. Sie stopfte sich Watte in ihren BH. Wir träumten von schönen Kleidern in goldenem Georgette und von Bewegungsfreiheit. Und sie war ziemlich besitzergreifend. Wenn ich mich auch anderen Klassenfreundinnen zuwandte, wurde sie schnell eifersüchtig. Nur Hausfrau und Mutter zu werden, das wäre ihr immer zu wenig gewesen.“

Deckname „Jopie“. Mehrfach hatte sie Annes Vater nach dem Krieg angeboten, die im Karton verwahrten Memorabilia der Anne-Frank-Stiftung zu übergeben. „Behalte sie, sie gehören dir“, hatte ihr Otto Frank, der in zweiter Ehe eine Auschwitz-Überlebende geheiratet hatte und im Alter von 90 Jahren 1980 in Basel starb, damals geantwortet.

„Ich wollte mich nicht durch ein Mädchen, das sterben musste, wichtig machen“, erklärt die Frau, die in der ersten publizierten Fassung unter dem Decknamen „Jopie“ zu einer zentralen Figur in Annes Aufzeichnungen wurde, ihr langes Zögern, ihre Geschichte publik zu machen. Selbst ihren drei Kindern hatte sie das Versprechen abgerungen, ihre enge Freundschaft mit Anne für sich zu behalten. Erst als die Anne-Frank-Industrie in den neunziger Jahren zu boomen begann und Menschen, die das Mädchen erwiesenermaßen nicht gekannt hatten, Bücher über die angeblich gemeinsame Zeit verfassten, dachte sich van Maarsen, „jetzt muss ich da reinspringen“. Über den Schicksalsmiss-brauch und die dazugehörigen Mythosparasiten wird sie ein eigenes Buch verfassen: „Ich möchte noch keine Namen nennen, aber ich trage Beweise zusammen.“

Ihren ersten Erinnerungsversuch startete Jacqueline van Maarsen vor zehn Jahren; doch das von einem kleinen holländischen Verlag publizierte Bändchen erregte keine Aufmerksamkeit. Inzwischen hatte die Tochter einer katholischen Französin und eines jüdischen Niederländers sich das Selbstbewusstsein erarbeitet, „dass auch meine eigene Geschichte von Interesse sein könnte und nicht nur mein Verhältnis zu Anne“.

Jacquelines Kindheit war von Anfang an durch Nichtzugehörigkeit geprägt gewesen. Erst 1938, nach jahrelangem zähem Betreiben des Vaters, hatte die Kultusgemeinde die Mutter und die beiden Töchter als Jüdinnen anerkannt. Als Jacqueline die zwölfjährige Anne Frank 1941 im jüdischen Lyzeum kennen lernte, waren die Segregationsprozesse der deutschen Besatzungsmacht bereits im vollen Gang. Längst durften jüdische Kinder nicht mehr nichtjüdische öffentliche Schulen besuchen. Es war der jüdischen Bevölkerung untersagt, Sportplätze, Schwimmbäder, Theater und Kinos zu frequentieren. Man durfte nach acht Uhr abends nicht mehr im eigenen Garten sitzen; der Besuch in Christen-Häusern war untersagt. „So ging unser Leben weiter: Wir durften dies nicht, und wir durften das nicht“, schrieb Anne im Juni 1942 in das orange-grau karierte Buch mit dem schwachen Blechschloss, das sie zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. „Jacque sagt immer zu mir: ,Ich traue mich nichts mehr zu machen, ich habe Angst, dass es nicht erlaubt ist.‘“ Von der Ermordungsmaschinerie der Nazis ahnten die Mädchen damals noch nichts: „Bis auf meine Mutter konnte niemand sich vorstellen, dass das Grauen sich noch steigern ließe. Wie denn auch – schließlich hat es das noch nie zuvor gegeben. Man würde nach Deutschland zum Arbeiten fahren, und irgendwie würde das auch vorbeigehen, war die gängige Meinung.“

Der 13. sollte Annes letzter Geburtstag in „Freiheit“ werden. Für ihre Klassenkameraden hatte sie eine Filmvorführung in ihrem Elternhaus organisiert. Das Kinoverbot für Juden traf Anne, „die die deutschen Schauspielerinnen mit ihren wallenden blonden Haaren, von denen die meisten in Nazipropagandafilmen mitgespielt hatten, bewunderte und ihre Bilder aus Zeitschriften ausschnitt“, besonders hart. Annes Vater hatte einen Filmprojektor ausgeliehen; im Wohnzimmer stellten die Mädchen die Stühle auf. Vor dem Hauptfilm, einem Abenteuer des Hundes Rin-Tin-Tin, wurde ein Werbefilm für ein Geliermittel gezeigt, das die Firma von Otto Frank vertrieb. In dem Film war Miep Gies, eine Büroangestellte, in einer kleinen Küche beim Marmeladeeinkochen zu sehen. Die gebürtige Wienerin, heute 95-jährig in Amsterdam lebend, war als nahezu verhungertes und tuberkulosekrankes Kind im Rahmen einer Hilfsaktion nach dem Ersten Weltkrieg von ihrer Familie nach Holland geschickt worden. Sie sollte für die Franks „Schutzengel, Ernährerin und Trösterin“ werden, wie Anne später notierte.

Zwei Wochen später der Filmriss einer Freundschaft: Am Sonntag, dem 5. Juli 1942, hatte Anne ihre Jacque, deren Zuneigung sie mit solch possessivem Eifer einforderte, abends noch angerufen: „Ein harmloses Gespräch – wann wir uns wieder sehen wollten oder so ähnlich“, erinnert sich van Maarsen. Am nächsten Tag fanden Jacqueline und eine Freundin die Wohnung der Franks leer vor. Die Familie „sei abgereist in die Schweiz“, erklärte der Untermieter. In Wahrheit hatte Annes drei Jahre ältere Schwester Margot an diesem Sonntag die Nachricht zum Abtransport in ein Arbeitslager erhalten – weigere sie sich, würde ihre gesamte Familie verhaftet werden. In derselben Nacht tauchten die Franks im Hinterhaus von Ottos Geliermittel- und Gewürzmischungshandel unter. Die Bilder der verlassenen Wohnung haben sich tief in das Gedächtnis der damals 13-jährigen Jacque eingebrannt: das ungemachte Bett von Anne, davor die nagelneuen Holzschuhe, über die sie sich so gefreut hatte, die unaufgeräumte Küche, die so gar nicht dem Ordnungssinn von Frau Frank entsprach. Das Gefühl der hinterlassenen Leere wurde langsam von Freude dominiert. Die Franks hatten es geschafft, nach dem Krieg würde man sich wiedersehen!

Heute weiß Jacqueline, dass es zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr möglich gewesen wäre, Holland zu verlassen: „Ich habe mich später oft gefragt, warum Otto Frank nicht mit seiner Familie früher nach Basel geflohen ist. Dort hatte er Mutter, Bruder und Schwester. Ich glaube, es lag an Frau Frank, dass das nicht passiert ist. Vielleicht hing sie zu sehr an ihrem Haushalt, wollte das Silber und Porzellan nicht zurücklassen, wie so viele jüdische Frauen damals. Eben hatte man ja erst eine neue Existenz in Holland gegründet.“

Der Courage ihrer französischen Mutter hatten Jacqueline und ihre Schwester es zu verdanken, dass sie von den Deportationslisten gestrichen wurden. Ohne ihr Wissen habe der Vater die Kinder in der jüdischen Gemeinde registrieren lassen, erklärte Eline van Maarsen dem diensthabenden Wachkommandanten in ihrer Muttersprache flehentlich. Der Mann reagierte mit Wohlwollen. „Er fand es löblich, dass meine Mutter ihren jüdischen Ehemann in ein so schlechtes Licht rückte, und war außerdem von ihrer Erscheinung beeindruckt.“ Durch Verbindungen in Frankreich konnten die Taufscheine der mütterlichen Verwandtschaft rasch beschafft werden. Wenig später „durfte ich den Judenstern ablegen. Ein kurzes Gefühl der Befreiung stellte sich ein. Nachdem mir jahrelang meine Minderwertigkeit eingetrichtert wurde, war ich erleichtert. Dann wurde es schwierig, weil ich einfach nicht wusste, wo ich hingehörte.“

Sterilisationsschein. Jacquelines Vater überlebte durch den Einsatz ihrer Mutter; immer wieder gelang es ihr, seine Deportation zu verschieben. Durch die gefälschte Sterilisationsbescheinigung eines Arztes, die von jüdischen Männern in Misch-ehen verlangt wurde, durfte auch er 1943 den Stern von seinem Mantel trennen.

Zu diesem Zeitpunkt ahnt niemand, dass die Franks seit eineinviertel Jahren hinter einem Aktenschrank in der Prinsengracht 263 auf engstem Raum gemeinsam mit der befreundeten Familie Pels und dem Zahnarzt Fritz Pfeffer wohnen. Miep Gies und drei andere Büroangestellte versorgen die acht Menschen, die zwei Jahre lang keine Frischluft atmen, tagsüber nicht auf und ab gehen, keine Klospülung betätigen und nur flüstern dürfen, mit Kartoffeln, eingelegtem Kohl, Kriegsnachrichten, Kassabüchern und leeren Blättern. Denn Annes orange-graues Diarium ist schnell voll geschrieben. Als ein holländischer Exil-Minister im freien Radio davon spricht, dass nach dem Krieg sämtliche Tagebücher eingesammelt werden sollen, weil sie dereinst von historischer Bedeutung sein werden, beschließt Anne, parallel zu ihrer persönlichen Chronik der Geschehnisse eine überarbeitete Fassung zu schreiben, in der sie den Protagonisten aus Gründen der Diskretion Decknamen zuteilt. Aus Jacque wird so „Jopie“ und Miep Gies zu „Miep van Santen“. Den letzten Eintrag verfasste das „Bündelchen Widerspruch“, wie sie sich selbst einmal im Tagebuch bezeichnet, am 1. August 1944. „... und suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte ... wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden“, lauten die letzten Sätze.

Am 4. August 1944 hält gegen zehn Uhr dreißig ein Auto vor der Prinsengracht. Die Insassen sind der österreichische SS-Oberscharführer Karl Josef Silberbauer und vermutlich drei bewaffnete Zivilbeamte. Wenige Stunden zuvor war der Verrat telefonisch und anonym beim Gestapo-Referat erfolgt. Wer die acht Versteckten denunziert hatte, ist bis heute nicht stichhaltig geklärt worden.

Die Wiener Autorin Melissa Müller vertrat in ihrer 1998 erschienenen Biografie „Das Mädchen Anne Frank“ die Theorie, dass die im Magazin tätige Putzfrau Lena Hartog die Schuldige war. Zuvor hatte jahrzehntelang ein Lagerarbeiter als Hauptverdächtiger gegolten. Die Otto-Frank-Biografin Carol Ann Lee vermutete hingegen in dessen niederländischem Geschäftspartner Anton Ahlers den Verräter. Ahlers galt als Antisemit und Informant der holländischen NS-Bewegung, die pro denunzierten Juden 7,5 Gulden auszahlte. „Otto selbst hatte wieder ganz eine andere Meinung“, erzählt Jacqueline van Maarsen, „doch er hatte keine Beweise, und für Spekulationen war er zu elegant.“

Aufgrund ihres „wienerischen Akzents“ hatte Miep Gies ihren Courageakt überlebt. „Silberbauer ließ sie und ihre Kollegin Bep laufen, weil Miep aus seiner Heimatstadt stammte“, erzählt van Maarsen. Gies war auch diejenige, die Annes Aufzeichnungen nach Aushebung des Verstecks vor dem Zugriff der Schergen rettete. Erst als sie ganz sicher war, „dass die Kinder nicht mehr zurückkommen“, überreichte sie die Tagebücher Otto Frank.

Die weiteren Helfer Victor Kugler und Joe Kleiman überlebten ihre Haftstrafen. Dass der Wiener Karl Josef Silberbauer nach Kriegsende in seiner Heimatstadt wieder den Polizeidienst antreten konnte, soll daran gelegen haben, dass Otto Frank auf dessen korrektes Verhalten bei der Verhaftung hingewiesen hatte. „Ich denke, dass es Folklore ist“, sagte Frau van Maarsen, „aber angeblich hatte Silberbauer vor Otto, der im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen war, salutiert.“ 1963 wurde Silberbauer von Simon Wiesenthal ausgeforscht – mit der einzigen Konsequenz, dass der Mann in den Innendienst versetzt wurde.

Van Maarsens späterer Mann Ruud Sanders war während der deutsche Besatzung wie 25.000 andere Niederländer untergetaucht. Nur die Hälfte von ihnen sollte überleben. Eine lange Reihe von Lesungen und Vorträgen liegt nun vor der 75-jährigen Jacqueline van Maarsen: „Im Gegensatz zu mir hätte Anne das geliebt. Sie hat Aufmerksamkeit sehr genossen und stand so gern im Mittelpunkt.“