Das Guinness-Buch der Rekorde

Obsessionen: Ruhm-kugeln

Dieser Tage erscheint die Jubiläumsausgabe

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Ashrita Furman hat ein Durchschnittsgesicht, einen Durchschnitts-job, aber kein Durchschnittsleben. Der 49-jährige Angestellte eines Bioladens in Queens, dem Simmering von New York, ist nämlich der offizielle Rekordhalter im Rekordhalten. Seit 1979 hat der aus Indien stammende Furman 86 Rekorde im Guin-ness-Buch der Rekorde aufgestellt oder gebrochen. Unter anderem auch seine eigenen.

Seine Leidenschaft für die „heilige Macht des Willens“ wurde durch seinen indischen Lehrmeister Sri Chinmoy, einen früheren Zehnkämpfer und Meditations-Guru, entfacht. Unter der Ägide dieses geistigen Hardcore-Eislaufvaters hat Furman vor 25 Jahren in einer Nacht im New Yorker Zoo seine erste Rebellion gegen die eigene Durchschnittlichkeit gestartet, indem er über 24 Stunden lang 131.000 Sprünge auf einem Sprungstab vollführte. Und zwar ohne jedes Technik- und Ausdauertraining im Vorfeld. Der Rekord lag bei 100.000.

In der zehnten Stunde dachte Furman damals, vor Schmerzen umkommen zu müssen; in der zwölften meditierte er sich „aus seinem Körper“ und ließ die Seele „ans Steuer“; in der 22. Stunde hatte er eine „Erleuchtungsvision“ auf seinem Sprungstab; in der 24. Stunde begannen die Pfaue des Zoos im Chor zu schreien. Und Pfaue, so erzählt Furman, sind in der indischen Mythologie das Symbol für die „Macht des Siegers“. Bedauerlicherweise hatten sich die Pfaue insofern geirrt, als Furmans Rekord von der Guinness-Jury nicht anerkannt wurde – wegen zu langer Verschnaufpausen. Glück im Unglück für „den von Gott Geschützten“, so die Übersetzung des Namens Ashrita, denn diese Enttäuschung fungierte gleichzeitig als Initialzündung, „weitere Grenzen“ zu durchbrechen und neue Guinness-Rekorde aufzustellen: zum Beispiel – sein eigentliches Guinness-Debüt – 27.000 Hampelmann-Sprünge am Stück zu hüpfen; 8341 Purzelbäume über 19,67 Kilometer zu schlagen; 23 leere Milchkästen mit einem Gesamtgewicht von 39,92 Kilo 11,23 Sekunden lang auf dem Kinn zu balancieren und eine Orange in 24 Minuten und 36 Sekunden 1,6 Kilometer lang durch Nasenstupser fortzubewegen. Und natürlich dauert ihn der britische Guinness-Rekordhalter im Orangenstupsen, der für dieselbe Distanz auf der Seepromenade in Brighton nun einmal – im Rückblick beschämende – 29 Minuten gebraucht hat. Tausend neue Rekorde wurden aus weltweit 65.000 Rekord-Anträgen für das 50. „Guinness World Records“-Buch ausgewählt, 4000 sind in der Jubiläumsausgabe insgesamt gelistet.

Megaseller. Das „Who is Who des Proletariats“, so „Die Zeit“, hat sich längst zu einer verlegerischen Goldgrube entwickelt: Ende 2003 wurde weltweit die Schallmauer von hundert Millionen verkauften Exemplaren durchbrochen. Das Buch, dessen Lizenzrechte im Besitz des britischen TV-Konzerns Hit Entertainment liegen, erscheint heute mit einer Gesamtauflage von 3,5 Millionen Exemplaren in 37 Sprachen in vierzig Ländern – großteils mit identem Inhalt, wobei marginale Unterschiede durch Schwerpunkte innerhalb des jeweiligen Erscheinungsgebiets gegeben sind. Mit diesem Rekord-Repertoire gilt das Kompendium der Superlative als meistverkauftes Copyright-Buch der Welt. In den Charts der rechtlich „ungeschützten“ Bestseller bekleidet die Institution nach der Bibel und dem Koran den dritten Platz. Der deutschsprachige Markt hat sich, so Olaf Kuchenbecker, Geschäftsführer der deutschen Ausgabe, trotz Verkaufseinbußen nach der Wende und in der aktuellen Wirtschaftskrise „nach den USA und England als zweitwichtigster Lizenznehmer etabliert“.

Die leisen Einbrüche der Guinness-Absätze sind auch damit zu erklären, dass das Fernsehen längst die psychohygienische Funktion übernommen hat, den Menschen jene „fünfzehn Minuten Ruhm“ zu vergönnen, die laut dem Popkünstler Andy Warhol jedem zustehen. Von „Wetten, dass“ bis zu Barbara Karlich, von „Big Brother“ bis zur „Millionenshow“ – auf allen Kanälen haben die Nebenans heute die Möglichkeit, das Radarsystem der öffentlichen Wahrnehmung einige Herzschläge lang zu durchfliegen.

Demokratisierung. „Der Ruhm hat sich inzwischen derart demokratisiert, dass Unbekanntheit als Mangel und Strafe empfunden wird“, schreibt Martin Amis in dem Medienroman „Yellow Dog“. Und das Guinness-Buch, 1951 von Sir Hugh Beaver, Geschäftsführer der legendären gleichnamigen Brauerei, ersonnen, tätigte sicherlich kostbare Entwicklungshilfe für die schleichende Demokratisierung des Ruhms. Initialzündung für Sir Beavers Idee hatte übrigens eine heftige Debatte in einem Pub gegeben, bei der sich die Gäste nicht einigen konnen, ob der Goldpfeiler oder die Raufußhühner schneller fliegen.

Prinzipiell sind die im Guinness-Buch eingetragenen Rekorde in drei Kategorien zu unterteilen: die unfreiwilligen, die konventionellen und jene, die sich durch die Mobilisierung unglaublichen Energieaufwands für Akte höchster Sinnlosigkeit auszeichnen. Tragischer Platzhalter in der ersten Kategorie ist bis heute der bereits 1940 im Alter von 22 Jahren verstorbene Amerikaner Robert Wadlow, der es mit einer Körpergröße von 2,72 Metern zum längsten Menschen aller Zeiten gebracht hatte. Oder ein Überlebenskünstler wie der US-Waldaufseher Roy C. Sullivan, der siebenmal vom Blitz getroffen wurde.

Unter konventionelles Heldentum fallen Typen wie Franz Klammer (die meisten Abfahrtssiege) oder die Österreicherin Eva Ganster, die den Rekord für den weitesten Skisprung hält. Unter den Rekordhaltern aus Österreich – in der aktuellen Ausgabe sind es 25 – befinden sich aber auch immer wieder Repräsentanten der Spezies hingebungsvoller Exzentriker (siehe Kurzporträts) wie etwa die Rekordhalter in den Disziplinen Hula-Hoop oder Erstellen der kleinsten Mausefalle der Welt. Im internationalen Vergleich muten jedoch auch diese Spleen-Manifestationen nachgerade harmlos an. Kann doch die aktuelle Guinness-Ausgabe mit Farbtupfern der Sinnlosigkeit aufwarten wie dem größten Furzkissensitzen oder dem nach dem Abschlagen des Kopfes am längsten überlebenden US-Hahn Mike, der von seinem grausamen Besitzer 18 Monate lang direkt in die Speiseröhre gefüttert wurde.

Der Wiener Psychoanalytiker Michael Erb sieht den Ursprung solchen Verhaltens in der frühen Mutterbeziehung: „Spiegelt die Mutter häufig nicht die Affekte des Kindes, indem sie sich abwendet und nicht reagiert, dann werden die Voraussetzungen für eine kompensatorische Persönlichkeitsstruktur geschaffen.“ Auf dem Guinness-Spielplatz würde sich dann eine Möglichkeit finden, „das Fehlen solcher Affekte wieder herzustellen“. Möglicherweise sollte Ashrita Furmans Mutter jetzt ein wenig ins Nachdenken kommen, denn ihr Sohn ist bereits heftig am Grübeln, ob er als nächstes seinen Purzelbaumrekord brechen oder sich ein zweites Mal der Aufgabe „schnellste Meile auf einem Springstock in der Antarktis“ stellen soll.