OECD-Prognose sagt Rekorddefizit voraus

OECD-Prognose sagt Rekorddefizit voraus: Nur Sparpaket kann Staatsfinanzen retten

Nur Sparpaket kann Staatsfinanzen retten

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Von Eva Linsinger, Michael Nikbakhsh, Josef Redl, Andrea Rexer und Ulla Schmid

Jedes Jahr dasselbe Ritual im Hohen Haus. Kistenweise werden Kopien, eng bedruckt mit Zahlenkolonnen, in die Parlamentsklubs geliefert. Dort werden sie an die Abgeordneten verteilt, damit sich diese auf die dreitägige Debatte über Österreichs Staatshaushalt vorbereiten können. Jedes Jahr dasselbe Ritual im Hohen Haus. Wenn diese Woche der Finanzminister ans Rednerpult tritt, haben die Mandatare ihre Argumente bereits parat. Das parlamentarische Spiel ist absehbar, weil oft erprobt: Die Regierungsparteien werden höflich Applaus spenden und selbstlobende Worte finden. Die Opposition wird scharfe Angriffe reiten.

Jedes Jahr dasselbe Ritual im Hohen Haus – und doch eine Premiere. Es ist Josef Prölls erste Budgetrede, und die Vorstellung wird wohl nicht so rühmlich ablaufen, wie er sich das zu Amtsantritt vielleicht noch ausgemalt hat. Die Vorzeichen sind unheilschwanger. Bereits vergangene Woche musste Pröll eingestehen, dass Österreich die von der EU erlaubten Defizitgrenzen nicht einhalten wird können. Mit einem Abgang von über vier Prozent müsse gerechnet werden. Schlimm genug. Doch selbst dieses düstere Szenario scheint von der Krise längst überholt.

Bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) in Paris werden für Österreich weit schlechtere Zahlen prognostiziert. Freitag vergangener Woche ging profil ein brisantes Papier zu – ein Auszug aus dem am 15. April fertig gestellten und bisher unveröffentlichten „Länderbericht Österreich 2009“ der OECD mit der Nummer ECO/EDR (2009)7. Ein Rohbericht also, der am 6. Mai endredigiert wird. Die 1961 gegründete Organisation prüft die 30 Mitgliedsstaaten alle eineinhalb bis zwei Jahre. Der letzte so genannte Economic Survey zu Österreich stammt vom Juli 2007 – da war noch scheinbare Ordnung in der Weltwirtschaft.

Die OECD-Ökonomen kommen auf Basis der Wirtschaftsdaten vom April 2009 zu verheerenden Erkenntnissen: Demnach soll Österreichs Budgetdefizit heuer auf 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen. 2008 waren es laut OECD 0,3 Prozent (das Finanzressort errechnete 0,4 Prozent). 2010 soll sich der Abgang auf sagenhafte 7,7 Prozent auswachsen. Zum Vergleich: Der schlechteste Wert der jüngeren Geschichte lag 1995 bei 5,8 Prozent. Eines steht fest: Die Österreicher können sich auf Sparpakete einstellen, die tiefe Einschnitte in allen Bereichen vorsehen werden.

Rekorddefizit. Die Experten der OECD korrigieren auf Seite 14 des „vertraulichen“ Berichts die in Österreich erstellten Prognosen empfindlich nach unten. Die Oesterreichische Nationalbank und die Wirtschaftsforschungsinstitute gehen für heuer von einem Budgetdefizit von unter vier Prozent aus, für 2010 werden vier bis fünf Prozent nicht ausgeschlossen. Auch bei der Wirtschaftsleistung liegen Welten zwischen Wien und Paris. Das Finanzministerium erwartet, gestützt auf nationale Prognosen, dass Österreichs BIP heuer real günstigstenfalls um zwei Prozent, schlimmstenfalls um vier Prozent schrumpfen wird. Doch spätestens 2010 soll die Wirtschaft wieder leicht wachsen. Die Rede ist von plus 0,5 bis ein Prozent.

Die OECD dagegen: minus 4,1 Prozent Wirtschaftsleistung 2009, minus ein Prozent 2010. Österreich würde damit kommendes Jahr den Anschluss an die Euro-Zone verlieren. Für diese hatte die OECD am 31. März ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung 2010 um 0,3 Prozent errechnet. Auch beim Budgetdefizit droht Österreich übers Ziel hinaus zu schießen. 2009 sollen die 16 Staaten durchschnittlich 5,4 Prozent minus ausweisen, 2010 sollen es sieben Prozent sein – also fast ein Prozentpunkt weniger, als Österreich vorausgesagt wird. Sollte das tatsächlich schlagend werden, würde sich Österreichs Bonität international drastisch verschlechtern. Und diese hat im Lichte der wackeligen Ost-Engagements der Großbanken ohnehin bereits gelitten. Die jüngsten Aussagen von US-Nobelpreisträger Paul Krugman, wonach Österreich Gefahr läuft, neben Island und Irland bank­rottzugehen, waren dem Image auch nicht eben zuträglich.

Auf die Verschuldung des Staates hat all das gewaltige Auswirkungen. Im laufenden Jahr soll sie bereits fast zehn Prozentpunkte über der von der EU festgelegten magischen Grenze von 60 Prozent des BIP liegen (2008: 62,5 Prozent), 2010 die 70-Prozent-Marke überspringen. Das hieße, dass Österreich am Jahresende 2010 auf Schulden von nahezu 200 Milliarden Euro säße.

Es sind mehrere Faktoren, die diese Prognosen plausibel machen. Die Wirtschaftskrise wächst sich mit etwa einem halben Jahr Verzögerung auch zur Budgetkrise aus: Noch sind die Steuereinnahmen relativ stabil. Betonung auf noch: Denn im Finanzministerium wird mit dramatischen Einbußen kalkuliert, vor allem die drei großen Steuerblöcke – Körperschaftsteuer, Einkommensteuer und Kapitalertragsteuer – brechen weg. Selbst vorsichtige Berechnungen gehen von einem Einnahmenausfall von 5,5 Milliarden Euro aus. Denn die Faustregel lautet: Allein ein Schrumpfen des BIP um ein Prozent bedeutet eine Mehrbelastung für das Budget von 1,3 Milliarden Euro.

Kostenfaktor Arbeitslosigkeit. Während die Haben-Seite schrumpft, klettert die Soll-Seite in die Höhe. Der einzige Wirtschaftszweig, der derzeit gleichsam boomt, ist die Kurzarbeit. Allein bei voestalpine in Linz wurden vergangene Woche die Maßnahmen auf 5900 Beschäftigte ausgeweitet. Quer durch Österreich subventioniert der Staat mittlerweile Kurzarbeit für 50.000 Arbeitnehmer mit hunderten Millionen Euro.

Noch teurer ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit: Mit Ende März schnellte sie gegenüber dem Vorjahr um 28 Prozent in die Höhe, inklusive der in Schulung befindlichen Menschen waren exakt 334.007 ohne Job. Schon jetzt reicht die eine Milliarde Euro, die für das Arbeitsmarktservice budgetiert ist, bei Weitem nicht aus. Für Herbst wird bereits mit 500.000 Arbeitslosen kalkuliert. Nach Berechnungen der österreichischen Wirtschaftsforscher soll die Arbeitslosigkeit heuer fünf Prozent erreichen, 2010 wird mit rund sechs Prozent gerechnet – und das bei sinkender Beschäftigung.

Auch hier geht die OECD noch ein Stück weiter, allerdings ist deren Berechnungsmethode mit den auch hierzulande angewendeten Eurostat-Standards nur bedingt vergleichbar. Die OECD prognostiziert für 2009 sechs Prozent Arbeitslose und für 2010 fast acht Prozent. Nur zum Vergleich: 2006 lag die Arbeitslosigkeit laut OECD bei 5,6 Prozent (Eurostat: 4,8 Prozent).

Leute ohne Job kosten Geld. Auch hier gelten simple Faustregeln: Ein Prozent weniger Wirtschaftswachstum produziert 20.000 Arbeitslose mehr. Und ein Prozentpunkt mehr Arbeitslosigkeit kostet rund 500 Millionen Euro pro Jahr. Dazu kommt, dass Arbeitslose nur 55 Prozent ihres Gehalts verdienen – und damit auch weniger Beiträge in die Sozialversicherung abliefern. Nun war allen klar, dass während einer Wirtschaftskrise diesen Ausmaßes keine Nulldefizite zu erstellen sind. Nicht zuletzt deshalb hat Brüssel seine strengen Budgetvorgaben gelockert.

Aber trotzdem: Noch im Vorjahr lag das heimische Defizit, wie gesagt, bei 0,4 Prozent. Nachgerade putzig nehmen sich aus heutiger Sicht die Sorgen des vergangenen Herbstes aus. Das Weltwirtschaftsbarometer stand bereits auf Sturm, und die Wirtschaftsforscher hatten angesichts der Krise mit einer Erhöhung des Defizits auf 2,4 Prozent gerechnet. Trotzdem legte sich Prölls Vorgänger Wilhelm Molterer auf einen „persönlichen Zielwert“ von 0,1 Prozent Defizit für 2010 fest. Weiter kann man von einem Ziel kaum entfernt sein.

Steuerproblem. Selbst wenn die Prognosen der OECD nicht eintreten sollten – das Budgetproblem ist eklatant und ungelöst. „Das ist das erste Mal in der Nachkriegszeit, dass wir nicht nur einen realen, sondern auch einen nominellen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zu gewärtigen haben“, so der Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank Ewald Nowotny – also unter Einrechnung der Inflation. „Alle Steuern hängen an der nominellen Wirtschaftsleistung, und das hat gewaltige Effekte.“

Die Kalkulation der staatlichten Gebarung kommt der Raketenwissenschaft bereits gefährlich nahe. Dennoch lässt sie sich auf eine vergleichsweise einfache Rechnung reduzieren: 2008 hat Österreich ein Bruttoinlandsprodukt von rund 283 Milliarden Euro erwirtschaftet. Das ausgewiesene Budgetdefizit lag bei 0,4 Prozent und somit bei 1,1 Milliarden Euro. Da Österreichs Wirtschaft heuer und 2010 nicht wachsen wird, wird auch das BIP annähernd gleich bleiben. Das heißt aber: Selbst bei einem gnädig prognostizierten Abgang von nur vier Prozent (laut Wifo) käme für 2009 eine Budgetüberschreitung von kolossalen elf Milliarden Euro heraus. Legt man den OECD-Parameter von sechs Prozent 2009 an, wären es heuer 17 Milliarden, 2010 bei einer angenommenen Defizitquote von 7,7 Prozent sogar fast 22 Milliarden Euro.

So oder so: Einen derart aus den Fugen geratenen Haushalt hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Das höchste Defizit gab es zuletzt 1995 mit 5,8 Prozent. Das war ebenfalls krisenbedingt und hatte die ÖVP prompt Neuwahlen ausrufen lassen. Jene ÖVP also, die jetzt den Finanzminister stellt – und die sich die Frage gefallen lassen muss, wer all das bezahlen soll.

„Es wird heuer und 2010 kein Sparpaket geben“, beteuert Josef Pröll. „Wir werden sicherlich nicht an Sozialleistungen sparen. Das wäre unverantwortlich, da ein Sparpaket die Konjunktur weiter abbremsen würde. Auf der Verwaltungsseite hingegen werden wir langfristig ausgerichtete Reformen vorantreiben.“ Ähnlich formuliert es SP-Finanzstaatssekretär Andreas Schieder: „Mit dem Budget setzen wir die richtigen Schwerpunkte in schwierigen Zeiten. Bei der sozialen Sicherheit und bei den Zukunftsinvestitionen Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur. Andernfalls würde die Wirtschaftskrise zur sozialen Krise.“

In der Verwaltung sind theoretisch tatsächlich Milliarden zu holen – und das seit Jahrzehnten. In der Praxis ist daran jede Regierung gescheitert. Wenn schon wegen zwei Unterrichtsstunden mehr der Staatsnotstand ausgerufen wird, wie soll dann eine große Verwaltungsreform gegen Beamtengewerkschaft und Landeshauptleute durchgezogen werden? „Wir werden nicht an einem Bürokratieabbau vorbeigehen können“, sagt der Generalsekretär der Indus­triellenvereinigung Markus Beyrer, „den richtigen Zeitpunkt dafür gibt es ohnehin nie.“

Spätestens 2010 muss die Regierung sich etwas einfallen lassen. Das erklärt auch, war­um die SPÖ so plötzlich laut über zusätzliche Einnahmen wie etwa die Vermögen­steuer nachdenkt. Sozialminister Rudolf Hundstorfer dazu: „Wir müssen Vermögen stärker besteuern, nur so kann man drastische Sparpakete verhindern.“ Parteikollege und SPÖ-Budgetsprecher Kai-Jan Krainer baut ebenfalls vor: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir wieder bei Gesundheit, Bildung und Sozialem sparen, weil es die trifft, die für die Krise nichts können.“

Andererseits: Es wäre nicht das erste Mal, dass genau das passiert. In der Vergangenheit mussten immer wieder Sparpakete geschnürt werden, um den Staatshaushalt nicht gänzlich entgleisen zu lassen. 1987 bewegte sich das Defizit bei 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In absoluten Zahlen: umgerechnet 5,2 Milliarden Euro. Die große Koalition unter Kanzler Franz Vranitzky beschloss damals zwar auch eine umfassende Steuerreform, die eine jährliche Entlastung von rund 15 Milliarden Schilling (1,1 Milliarden Euro) bringen sollte; darunter Maßnahmen wie die Senkung des Einkommensteuer-Spitzensatzes von 62 auf 50 Prozent. Das Budget wurde damals aber vor allem ausgabenseitig saniert. Die größten Einsparungen erzielte SPÖ-Finanzminister Ferdinand Lacina, indem er die Pensionsanpassung und die Erhöhung von Beamtengehältern statt per 1. Jänner einfach um ein halbes Jahr auf den 1. Juli 1988 verschieben ließ.

Sparpakete. Beamten und Pensionisten waren auch Mitte der Neunziger Leidtragende der Budgetsanierung. 1995 stand das Defizit mit 5,8 Prozent auf dem historischen Höchststand. Gleichzeitig musste für 1997 nach den so genannten Maastricht-Kriterien eine Neuverschuldung von unter drei Prozent erreicht werden, um an der EU-Währungsunion teilnehmen zu können.

In mehreren Sparpaketen wurden Rezeptgebühren, Tabaksteuer und Kapitalertragsteuer (von 22 auf 25 Prozent) erhöht und eine Energiesteuer auf Strom und Gas eingeführt. Für die Beamten gab es 1996 nur eine Einmalzahlung, 1997 wurde die Pensionsanpassung ausgesetzt. Insgesamt belief sich das Volumen an Einsparungen auf umgerechnet 6,8 Milliarden Euro. Die eine Hälfte wurde steuerlich lukriert, die andere ausgabenseitig. „Es ist erfahrungsgemäß leichter, Einnahmenerhöhungen durchzubringen als Ausgabeneinsparungen. Bei den Ausgaben trifft man eine ganz bestimmte Schicht, die dann auf die Barrikaden steigt. Bei einer allgemeinen Steuererhöhung ist das anders“, so der Budgetexperte und ehemalige Wifo-Ökonom Gerhard Lehner.

Ein Rat, den auch ein gewisser Karl-Heinz Grasser beherzigte. Zur Durchsetzung seiner „Nulldefizit“-Pläne erhöhte er die Energieabgabe und die motorbezogene Versicherungssteuer, führte (mittlerweile ­wieder abgeschaffte) Studien- und Ambulanzgebühren ein. Darüber hinaus wurde der Investitionsfreibetrag für Unternehmen abgeschafft und der Arbeitnehmerabsetzbetrag halbiert. Einsparung: rund zwei Milliarden Euro. Das war freilich nur ein Bruchteil der heutigen Summen.