Ösis und Piefkes: Die merkwürdige Nachbarschaft

Ösis und Piefkes: Neue Freunde in Zeiten der Krise

Beziehungen. Neue Freunde in Zeiten der Krise

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Als damals, 1978 in Cordoba, die Kameras ausgeschaltet waren, trat Berti Vogts, Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, auf Hans Krankl zu und gratulierte: „Mensch, Junge. Ich freu mich tierisch für euch.“ – „Dafür gewinnt ihr heuer sicher einmal ein Skirennen“, erwiderte Hans Krankl. „Außerdem, Bruder – wenn ihr noch eine Chance gehabt hättet, ins Finale zu kommen, hätten wir euch gewinnen lassen.“

Deutschland und Österreich, Liebe und Waschtrog
– allerdings nur in der Satire „Cordoba. Das Rückspiel“ von Rupert Henning und Florian Scheuba (Cartoons von Gerhard Haderer), szenisch derzeit im Wiener Rabenhoftheater zu sehen.

Die Wirklichkeit war etwas anders:
­„Tooor! Tooor! Tooor! Tooor! I werd narrisch! Krankl schießt ein! 3:2 für Österreich! Wir fallen uns um den Hals, wir busseln uns ab!“, kreischte Edi Finger. Hans Krankl freute sich in „Sport am Montag“, „dass jetzt die Deutschen den Mund halten müssen“. Die „Bild“-Zeitung erklärte ihn daraufhin zum Staatsfeind und veröffentlichte seine private Telefonnummer.

Und dennoch hat Henning und Scheubas pfiffiger Schlussabsatz diesseits der Satire eine Wahrheit: Die Österreicher können mit den Deutschen ganz gut, wenn es denen einmal nicht so prima geht. Seit Kellner aus Castrop-Rauxel auf den diversen Sonnberghütten in Österreichs Alpen den Jagatee servieren und im Wiener Brunnenmarktviertel deutsches Servicepersonal unter türkischen Chefs werkt, werden sie noch viel mehr gemocht. Nach außen hin zwar empört, aber mit einem Quäntchen Stolz werden die verzweifelt um einen Platz an den österreichischen Medizin-Unis kämpfenden jungen Deutschen registriert. Die in der Vorwoche veröffentlichte Kriminalstatistik, derzufolge von allen Ausländern nicht Georgier oder Moldawier, sondern Deutsche die meisten Straftaten in Österreich verüben, rief nicht blankes Entsetzen, sondern interessiertes Staunen hervor: Wer hätte das gedacht!

Seit es den Deutschen nicht mehr so gut geht, hat Österreich erstmals in der Geschichte ein einigermaßen entspanntes Verhältnis zum großen Nachbarn im Nordwesten, gegen den und an dessen Seite es blutige Kriege gefochten hatte. Lange hatte Deutschland dominiert: als preußischer Aufsteigerstaat; als neues Kaiserreich; als Verbündeter im Ersten und Betreiber des Zweiten Weltkriegs; schließlich nach dem Krieg als Wirtschaftswunderland.

Das ist vorerst vorbei. „Deutschland ist nicht mehr der primäre Bezugspunkt der Österreicher, sie brauchen die Deutschen nicht mehr, um sich selbst zu definieren“, sagt Peter Ulram, Politikwissenschafter beim Meinungsforschungsinstitut GfK Austria.

Schwächen.
Vor fünf Jahren erhob Ulram in einer großen Studie die Meinung der Österreicher über das nun zwar große, aber nicht mehr ganz so mächtige, reiche und polternde Deutschland. Die Ergebnisse waren verblüffend: Die Deutschen wurden gegenüber einer Vergleichsstudie aus dem Jahr 1980 nun als plan- und erfolgloser, konservativer und pessimistischer, gleichzeitig aber auch als fröhlicher, friedliebender und großzügiger eingeschätzt.

Schwäche macht sympathisch, wenn es sich um eine frühere Übermacht handelt. Dass sich einiges verändert hat, seit die Bundesrepublik die ehemalige DDR saniert und sich ihre pipifeine Industrie gegen billige Konkurrenz aus irgendwo wehren muss, ist in Österreich jedenfalls augenfällig: • Rund 120.000 deutsche Staatsbürger leben heute in Österreich – 80.000 Zweitwohnsitzer nicht mitgerechnet. In Wien wohnen 42.000 Deutsche, das entspricht der Einwohnerschaft der Bezirke Innere Stadt plus Josefstadt. 10.000 wandern jährlich netto zu.

• Rund 20 Prozent der Studienplätze an Österreichs Medizin-Unis werden von jungen Deutschen besetzt, die den Zugangsbeschränkungen in ihrem Land entgehen wollen. Dass es nicht mehr sind, ist einem 2012 auslaufenden Moratorium zu verdanken, das noch Kanzler Alfred Gusenbauer ausgehandelt hat. Vier von fünf der in Österreich ausgebildeten Ärzte werden später in ihrem Herkunftsland praktizieren. Insgesamt studieren fast 16.000 Deutsche an heimischen Unis, dreimal so viele wie vor zehn Jahren.
• Etwa 80.000 Deutsche tummeln sich am österreichischen Arbeitsmarkt. Damit haben doppelt so viele deutsche Staatsbürger Arbeit in Österreich wie etwa türkische. Per Jahresende werden die Deutschen auch die Serben überholen. 11.000 Deutsche jobben im Gastgewerbe. Übrigens: 60.000 Österreicher verdienen ihr Geld in Deutschland.
• In der Ausländer-Straftäter-Statistik 2009 ist die Zahl deutscher Bösewichter höher als jene der serbischen, türkischen, rumänischen und bosnischen.
• Österreichische Hybris ist aber fehl am Platz: Fast die Hälfte der Immigranten aus Deutschland hat Matura (Österreich-Schnitt: 23 Prozent). 28 Prozent der deutschen Zuwanderer verfügen über einen Hochschulabschluss (Österreicher: neun Prozent). Im Bankwesen und anderen gehobenen Positionen sind deutsche Staatsbürger deutlich überrepräsentiert.

Aber es hat sich etwas verschoben zwischen den beiden Ländern. Es ist kein Zufall, dass neben Hennings und Scheubas leichtfüßiger Satire „Cordoba“ in den vergangenen Wochen noch eine ganze Reihe weiterer Bücher erschien, die sich mit den neuen Verhältnissen auseinandersetzen. Eva Steffen etwa hat in Österreich ansässige Ex-Deutsche, aber auch Neo-Ösis befragt („Wir sind gekommen, um zu bleiben“, Czernin Verlag). Ein Historikerteam um die in Innsbruck lehrenden Professoren Michael Gehler und Rolf Steininger beleuchtet die Geschichte der beiden Länder im 19. und 20. Jahrhundert („Ungleiche Partner?“; StudienVerlag). „Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890–1914“ von Julia Schmid (Campus Verlag) beschreibt die Irrwege, die in die Katastrophe zweier Weltkriege mündeten. „Streitbare Brüder“ nennen Hannes Leidinger, Verena Moritz und Karin Moser ihre „Kurze Geschichte einer schwierigen Nachbarschaft“ (Residenz). Schwierig war die Nachbarschaft stets.

Nation Österreich.
Den Nachkriegsgenerationen erschließt sich die fatale Komplexität des Verhältnisses zwischen Deutschland und Österreich nur in seltenen Momenten. Weitgehend verständnislos quittierte etwa eine breitere Öffentlichkeit 1988 Jörg Haiders Sager, „dass die österreichische Nation eine Missgeburt gewesen ist, eine ideologische Missgeburt, denn die Volkszugehörigkeit ist die eine Sache, und die Staatszugehörigkeit ist die andere Sache“.

Was mochte Haider damit meinen?
1988 erschien der Gedanke, Österreich sei nur ein künstliches Staatsgebilde, aber keine Nation, deren Bürger durch gemeinsame Kultur, Geschichte und kollektive Erfahrungen zusammengehalten werden, bereits völlig fremd.

Aber noch 1960 waren in den damals zu diesem Thema durchgeführten Umfragen jene in der absoluten Mehrheit, die meinten, Österreich sei ein von Deutschen bewohnter Staat, aber keine eigenständige Nation. Ab den siebziger Jahren nahm die Zahl der „Österreich ist eine Nation“-Bekenner drastisch zu. Heute vertreten nur noch fünf Prozent die Ansicht, wir seien in Wahrheit Deutsche – ein Segment, das sich personell wohl weitgehend mit der Kernwählerschaft von Barbara Rosenkranz deckt.

1918 war der großdeutsche Gedanke keineswegs ein Monopol der Rechten. Ausnahmslos alle Parteien traten für den sofortigen Anschluss an Deutschland ein. Der soeben konstituierte Nationalrat nannte das Land „Deutschösterreich“ und ließ entsprechende Briefmarken drucken. Kurz hatte man erwogen, die neue Republik „Deutsches Bergreich“, „Hochdeutschland“ oder „Donaugermanien“ zu nennen.

Der leidenschaftlichste Vertreter des Anschlusses war neben den eigentlichen Deutschnationalen der sozialdemokratische Chefdenker und erste Außenminister der Republik, Otto Bauer. Der Austromarxist meinte, der Sozialismus könne nur in einem großen Deutschland, aber nicht im kleinen Österreich verwirklicht werden. Die Siegermächte machten Bauers Plänen in Versailles mit dem Anschlussverbot ein Ende. Zähneknirschend musste sich das Land fortan „Österreich“ nennen. Vor allem den Sozialdemokraten war der Name ein Gräuel. Er erinnerte sie an die verhassten Habsburger: „Haus Österreich“. Erst als 1933 Hitler die Macht in Deutschland übernahm, revidierten sie den entsprechenden Passus in ihrem Parteiprogramm.

Die Christlich-Sozialen verjagten wenig später das Parlament, verboten Sozialdemokraten wie Nationalsozialisten und präsentierten sich in der lächerlichen Pose der „besseren“, weil katholischen Deutschen. Die programmatische Rede beim Katholikentag am Wiener Trabrennplatz, in der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im September 1933 die Demokratie verdammte, troff vor Deutschtümelei: Einen „christlich deutschen Staat“ wolle er gründen, mit „christlich deutscher Kultur“. „Deutsche Gefühle“ für das „deutsche Vaterland“ bewegten den kleinwüchsigen Diktator, „dem gesamten Deutschtum“ werde sein ständestaatliches Österreich einen „Dienst erweisen“.

Wenige Jahre später hatte sich das „Deutschtum“ in Gestalt des Nationalsozialismus über Österreich geworfen. Otto Bauer war nach Paris geflüchtet, wo er im Juni 1938 einem Herzinfarkt erlag. Noch kurz vor seinem Tod schrieb er, nach dem Ende der Hitlerei müsse sich Österreich erst recht an Deutschland anschließen.

Nicht viel anders dachte Bauers innerparteilicher Rivale, der zweifache Republikgründer Karl Renner. Wenige Tage nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen bat er, ihm einen Journalisten zu schicken. Dem Redakteur diktierte Renner, er halte den Anschluss für eine „große geschichtliche Tat“, die er „freudig“ begrüße.

1945, als alles in Trümmern lag, trauerte Renner noch immer dem Reich nach: Am 30. April, drei Tage nach der Proklamation der neuen Republik, jammerte der Gründerkanzler in einer Rede vor Beamten, das große Deutschland sei „nicht durch unsere Schuld gescheitert und begraben. Uns bleibt nichts übrig, als darauf zu verzichten.“

Dass der in jeder Beziehung obsolete Anschlusswunsch Österreichs an ein größeres Deutschland so lange Nachklang hatte, liegt an dessen tiefer Verwurzelung. Immerhin hatte es ein solches Gebilde 844 Jahre lang gegeben, ein „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“, dem Salier, Welfen, Staufer, Nassauer, Luxemburger und Wittelsbacher, die längste Zeit aber Habsburger als Kaiser vorgestanden waren. Rein formal war es ein Reich, das von Pommern bis Flandern, von Kiel bis Florenz reichte. In Wahrheit habe es sich dabei um „eine der bizarrsten Missgeburten aller Zeiten“ gehandelt, wie der Historiker Gordon Brook-Shepherd in seiner Geschichte Österreichs schreibt. Aus zeitweise 350 Einzelstaaten, die einander immer wieder mit blutigen Kriegen über­zogen, bestand dieses merkwürdige Mosaik – der längste dauerte 30 Jahre und entvölkerte beinahe den Kontinent. Der Kaiser hatte in diesem Gebilde, das weder heilig noch römisch, in großen Teilen nicht einmal deutsch war, kaum etwas zu bestimmen.

1806 ging es unter:
Napoleon hatte ein Konkurrenz-Gebilde gegründet, den „Rheinbund“, dem sich vormalige „Reichs“-Mitglieder wie Bayern, Baden, Württemberg und Westphalen anschlossen. Das „Heilige Römische Reich“ krachte einfach in sich zusammen. Der letzte Kaiser, der Habsburger Franz II., ließ das Ende des Reiches am 6. August 1806 durch einen reitenden Herold vor der Wiener Jesuitenkirche verlesen. Jetzt war er nur noch Kaiser von Österreich.

Nachfolge-Gebilde des „Heiligen Römischen Reiches“ wurde der „Deutsche Bund“, in dem ein Staat immer mächtiger wurde, der gar nicht dem Reich angehört hatte. Die Preußen waren ursprünglich Balten gewesen, ihr Stammland liegt im heutigen Polen. Aber alle Eroberungen des Hauses der Hohenzollern wurden mit dem ­Namen Preußen belegt. 1866 kam es bei Königgrätz in Ostböhmen zur Entscheidungsschlacht. Offiziell kämpften Preußen und Österreich um die Kriegsbeute Holstein, das sie gemeinsam den Dänen abgejagt hatten. Tatsächlich ging es um die Vorherrschaft im Deutschen Bund.

Piefkes.
Preußen schlug Österreich vernichtend. Beleidigt schrieb Franz Joseph seiner Sisi: „Aus Deutschland treten wir jedenfalls ganz aus. Nach den Erfahrungen, die wir mit unseren lieben deutschen Bundesgenossen gemacht haben, halte ich das für ein Glück für Österreich.“ 1871 machten sich die Hohenzollern zu deutschen Kaisern im neuen, dem zweiten Deutschen Reich.

Jetzt war Österreich nicht mehr Teil „Deutschlands“ – ein Faktum, an das sich viele bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht gewöhnen mochten. Dabei hatten sich das preußische Deutschland und Österreich schon seit dem 18. Jahrhundert stark aus­einanderentwickelt. Der barocken katholischen Opulenz und gemütlichen Schlamperei im Reiche Habsburgs setzten die lutherischen Preußen Nüchternheit, Strenge und unbedingten Gehorsam entgegen, aber auch Fortschrittswillen, Geschäftssinn und Sparsamkeit – Eigenschaften, die sich bis heute in den Ösi- und Piefke-Klischees halten und sogar Nazi-Herrschaft und Weltkrieg fast unverändert überstanden.

In den Wirtschaftswunderjahren, als deutsche Touristen ihren neuen Wohlstand auch in Österreich zeigten, fanden die ­Piefke-Stereotype ihre Bestätigung. Die Österreicher reagierten mit einer speziellen Spielart von Xenophobie, die sich aus einem Minderwertigkeitskomplex speiste: Scheiß-Piefke.

Zu einem Eklat kam es 1982 bei einer Folge der von Joachim Fuchsberger moderierten Show „Auf los geht’s los“, die aus Wien übertragen wurde: Sechs der neun österreichischen Kandidaten bekannten sich dazu, die Deutschen „Piefke“ zu nennen, worunter sie Leute verstünden, die mit ihrer Mark um sich schmissen und sich für etwas Besseres hielten. Der folgende Wirbel regte den Autor Felix Mitterer zu seiner „Piefke“-Saga an, bei der freilich auch Tiroler Deppen ihr Fett abbekamen.

Unangenehm wurde es noch einmal 1994 während eines Davis-Cup-Matches zwischen Thomas Muster und Michael Stich in Unterpremstätten, als die Zuschauer den Deutschen ständig durch Pfiffe und Zwischenrufe außer Tritt zu bringen versuchten. Muster siegte nach fünf Stunden. „Die haben doch einen an der Waffel“, ärgerte sich Stich. „Nie wieder Urlaub in Österreich!“, forderte „Bild“ und beschimpfte die „dämlichen Deutschenhasser“ in Österreich.

Stimmt die Theorie des Politik- und Meinungsforschers Peter Ulram, würde es solche Exzesse heute nicht mehr geben. Ulram: „Im 17. Jahrhundert sah man die Deutschen als sangesfreudig mit wenig Eignung für Politik. Nach der Reichsgründung 1871 hielt man sie für militaristisch, konsequent und aggressiv. In den fünfziger Jahren galten sie als fleißig, konsequent und er­folgreich. Heute sieht man sie als friedliebend, bescheidener und nicht mehr bedrohlich.“

Ob das Erklärungsmodell hält, wird man bald wissen: Österreich wurde für die EURO 2012 in dieselbe Quali-Gruppe wie Deutschland gelost. Cordoba, das Rückrückspiel.