Österreich/EU

Österreich/EU: Verkehrsopfer

Verkehrsopfer

Drucken

Schriftgröße

Der von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel erhoffte nationale Schulterschluss in Sachen Transit misslang. Am vergangenen Freitagabend hatte er die Chefs der vier Parlamentsparteien, den Tiroler Landeshauptmann Herwig Van Staa und österreichische EU-Abgeordnete zu einem Gipfel ins Kanzleramt gebeten.

SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer sagte ab, der grüne EU-Abgeordnete Johannes Voggenhuber witzelte über ein „Treffen um fünf Minuten nach zwölf“. Die Regierung werfe „mit Nebelgranaten, um ihre wahren Versäumnisse zu verbergen“.

Der Dienstag wird zum Lostag für die österreichische Verkehrspolitik. Am Abend des 25. November tritt in Brüssel der so genannte Vermittlungsausschuss von Vertretern des Europäischen Parlaments und des EU-Rates zusammen, um einen Kompromiss für eine Verlängerung des Transitabkommens mit Österreich zu finden. Es ist die letzte Chance für Österreich, um noch fristgerecht eine Übergangslösung zu vereinbaren. Scheitert die Sitzung, gibt es ab 1. Jänner 2004 keine Beschränkung mehr für Transit-Lastwagen durch Österreich. Das Transitabkommen läuft dann – wie im Vertrag vorgesehen – ersatzlos aus.

Schlimmer noch: Ab 1. Mai hätten zeitgleich mit dem Beitritt auch die Brummer aus den zehn neuen Mitgliedsländern, für die es derzeit noch Kontingente gibt, freie Fahrt auf heimischen Straßen. Sie müssten lediglich, so wie auch Schwerfahrzeuge aus den alten EU-Ländern und Österreich, die neue Lkw-Maut bezahlen.

Selbst wenn Österreich eine dreijährige Übergangsfrist zugestanden bekäme, würde das neue Abkommen nur mehr 40 Prozent der jetzt durchfahrenden Lkws (2002: 1,6 Millionen Fahrten) erfassen. Rat und EU-Parlament sind sich nämlich darüber einig, dass die modernsten Lastwagen künftig nicht mehr dem Ökopunkte-System unterliegen sollen.

Ernüchterung. Nach zwölf Jahren muss das Projekt Transitvertrag nun wohl als gescheitert betrachtet werden. Österreich hat im Ringen um Ökopunkte, Stickoxid-Werte und Lkw-Zahlen auf EU-Ebene zwar viel schlechte Stimmung erzeugt, aber keine brauchbaren Ergebnisse erzielt. Was einst als Verhandlungserfolg von geradezu historischer Dimension gefeiert wurde, endet unrühmlich. Schon nächstes Jahr könnten statt bisher 1,7 Millionen Transit-Lkws bis zu 2,5 Millionen Schwerlaster Österreich durchqueren.

Die Schuld an diesem ernüchternden Resultat jahrelanger Bemühungen ist auf viele Schultern verteilt.

Die Landeshauptleute von Tirol, Oberösterreich und Salzburg reagieren ihren Frust derzeit an der EU-Bürokratie ab. In allen drei Bundesländern wird erwogen, eine Klage gegen die EU einzubringen, weil die im Vertrag festgeschriebene Reduktion der Stickoxid-Emissionen nicht eingetreten ist. Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider droht einmal mehr mit einem Veto gegen die Ost-Erweiterung. Rudi Anschober, grüner Landesrat in Oberösterreich, kritisiert, dass es vonseiten der Regierung nie eine ehrliche Überzeugungsarbeit auf EU-Ebene gegeben habe. „Österreich soll nicht auf ein Sonderrecht bestehen, sondern darauf hinarbeiten, dass es in Europa eine Änderung der Verkehrspolitik gibt.“ SP-Verkehrssprecher Kurt Eder macht den Bundeskanzler verantwortlich: „Wolfgang Schüssel hat die Chance auf eine Einigung verspielt, indem er zu hoch gepokert hat.“ Roderich Regler, VP-Nationalratsabgeordneter und als ehemaliger Leiter der Abteilung Verkehrspolitik in der Wirtschaftskammer bei den Transitverhandlungen vor dem österreichischen EU-Beitritt mit dabei, ortet die Schuld auch am ehesten in Brüssel. Er beobachtet ein „Unverständnis der anderen EU-Staaten für die Probleme Österreichs“.

Tatsache ist, dass Brüssel mit der Sonderbehandlung der Österreicher nie viel Freude hatte. Der freie Warenverkehr gilt in der Europäischen Union als Dogma, und jede Einschränkung beim Transport widerspricht diesem Prinzip.
Tatsache ist aber auch, dass Österreich in den vergangenen Jahren fundamentale Grundsätze des Verhandelns auf EU-Ebene gebrochen hat. Anstatt nach Partnern zu suchen und Allianzen zu bilden, setzte man auf vage Hoffnungen und eine Politik der starken Sprüche. Kein Wahlkampf in den Transitregionen kam ohne Drohgebärden in Richtung Brüssel aus; das viel wichtigere Lobbying im Hintergrund wurde dabei vergessen.

Obendrein hielt Österreich einige im Anhang des Beitrittsvertrags vereinbarte Zusagen nicht ein. Versprochen wird darin unter anderem der Ausbau des kombinierten Verkehrs Schiene-Straße und eine Entscheidung zum Bau des Brenner-Bahntunnels – passiert ist beides nicht.

Nicht zuletzt erweckten die Österreicher den Verdacht, dass der Transitvertrag auch dazu dient, lästige Konkurrenz fernzuhalten. Der bayerische EU-Abgeordnete Markus Ferber (CSU) kritisiert: „Der Transitvertrag war eine einzige Förderung für eure Frächter. Die haben Waren von Deutschland ökopunktefrei nach Italien gebracht, indem sie einfach zwei bilaterale Transporte hintereinander durchführten.“

Maßnahmen zur Eindämmung des hausgemachten Verkehrs hat es in den letzten Jahren jedenfalls kaum gegeben – und das, obwohl der Binnenverkehr mehr als drei Viertel des gesamten Lkw-Aufkommens ausmacht. Auf den Transit entfallen derzeit elf Prozent (siehe Grafik). Nur über die Brennerroute rollen mehrheitlich ausländische Laster.

Alle gegen einen. Dass es mit den EU-Partnern Zoff geben würde, war schon vor Vertragsabschluss absehbar. Weil Österreich das einzige Mitgliedsland mit einer Sonderregelung ist, fühlte sich keine andere Regierung zur Solidarität verpflichtet. Die Spielregel lautete daher von Anfang an: Österreich gegen alle. Der damalige Verkehrsminister Viktor Klima schaffte es mit Mühe und Not, das von seinem Vorgänger Rudolf Streicher ausgehandelte Abkommen in den Beitrittsvertrag zu integrieren – allerdings mit verkürzter Laufzeit und wieder ohne Nachfolgeregelung.

Zum jetzigen Schaden Österreichs wurde mancher wichtige Punkt im Vertrag eher schwammig formuliert. Die dauerhafte Senkung des Stickoxid-Ausstoßes der Transit-Lkws um 60 Prozent etwa ist eigentlich der zentrale Punkt der Vereinbarung. Doch wie das überprüft werden soll, blieb offen. Abgase sind Abgase – und in welchem Ausmaß sie von österreichischen Lkws im Binnenverkehr verursacht werden oder von ausländischen auf der Durchfahrt, lässt sich an keiner Messstelle ablesen. Falls Österreich aus diesem Titel tatsächlich eine Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) einbringt, wird es wohl zu einem jahrelangen Streit der Gutachter kommen.

So schwierig die Rahmenbedingungen waren, so ungeschickt agierten die österreichischen Politiker. Vor allem in den vergangenen drei Jahren wäre es wichtig gewesen, in Brüssel professionell zu verhandeln, um eine Nachfolgeregelung zu erwirken. Dummerweise herrschte ausgerechnet im Verkehrsministerium eine besonders hohe Personalfluktuation. Hubert Gorbach ist bereits der vierte FP-Verkehrsminister, der sich mit der sperrigen Causa befassen muss. Aber er ist wenigstens der erste, der sich auskennt und nicht, wie Vorgänger Michael Schmid, Sitzungen in Brüssel wegen eines Blasmusik-Wettbewerbs schwänzt.
„Es hat immer ziemlich lange gedauert, bis sich der jeweilige Minister eingearbeitet hatte“, spottet der CDU-Europaabgeordnete Georg Jarzembowski, „das hat es uns leicht gemacht, die Strategie der Ösis zu durchschauen.“ Auch der als gewiefter Verhandler bekannte Bundeskanzler hatte in Brüssel wenig Fortüne. Beim EU-Gipfel im belgischen Laeken Ende 2001 setzte Wolfgang Schüssel zwar durch, dass die Kommission ein Nachfolgemodell für den Transitvertrag vorlegen musste. Doch beim Gipfel in Kopenhagen Ende 2002 schlug Schüssel ein Kompromissangebot der dänischen Ratspräsidentschaft aus, das deutlich besser gewesen wäre als die jetzt auf dem Tisch liegende Version. Der Kanzler hatte sich verspekuliert; beim historischen Erweiterungsgipfel wollte sich niemand mit der Ökopunkte-Klauberei beschäftigen. Schüssel musste sich vom deutschen Außenminister Joschka Fischer sogar verhöhnen lassen: „Hörbranz, Hörbranz, sagt dir das was, Wolfgang?“, spielte Fischer auf die kurze Transitstrecke durch Vorarlberg an, die Deutschland aus dem Lkw-Zählsystem ausnehmen wollte.

Kleinlaut hat die österreichische Regierung ihre Fehlkalkulation inzwischen einbekannt. Am 7. November wurde in einem Brief an Pat Cox, den Präsidenten des Europaparlaments, darum ersucht, diesen so genannten „Silvester-Kompromiss“ doch wieder aufleben zu lassen. Doch der steht längst nicht mehr zur Debatte.

Die Kette der Versäumnisse reißt nicht ab. Zwar wird von österreichischen Politikern bei jeder Gelegenheit auf die Notwendigkeit einer neuen Wegekostenrichtlinie hingewiesen; das Regelwerk soll unter anderem eine EU-weite Maut für Lastwagen („Eurovignette“) bringen und sieht den Schutz von „sensiblen Zonen“ vor. „Aber bis heute hat die Regierung keine österreichische Position zur Wegekostenrichtlinie vorgelegt“, schimpft der SP-Europaabgeordnete Hannes Swoboda.

Notwehr. Nicht einmal innerhalb Österreichs ist man sich einig über die weitere Vorgangsweise: Während die österreichischen EU-Abgeordneten vergangene Woche bemüht waren, bei ihren Kollegen im Parlament Unterstützung für den heimischen Standpunkt zu finden, arbeiteten ein paar Landsleute eifrig an der Gegenstrategie. Eine Delegation der Wirtschaftskammer war nach Brüssel gereist, um gegen zu viele Extrawürste im Transitverkehr zu lobbyieren. Sektorale Fahrverbote, Nachtfahrverbote, verstärkte Kontrollen: Alle von der Regierung in Aussicht gestellten Notwehraktionen werden von der Kammer missbilligt, weil sie auch heimische Frächter treffen. Stephan Schwarzer, Leiter der Abteilung Infrastrukturpolitik in der Kammer, hält auch die ab 1. Jänner 2004 in Österreich geltende Lkw-Maut für verbesserungsfähig. „41 Cent pro Kilometer sind schon ein bisschen viel.“

Genau das findet auch EU-Verkehrskommissarin Loyola de Palacio. In einem Schreiben an die Regierung in Wien fordert sie Aufklärung über die Berechnungsmodalitäten.
Der nächste Konflikt ist also vorprogrammiert.