Auf Halbmast

Österreich im Test: Die guten Wirtschaftsdaten täuschen

Statistik. Kritische Wohlstandstudie, mittelmäßige EU-Prognose: Wie gut ist Österreich wirklich?

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Österreichische Politiker zählen nicht eben zu den intensivsten Lesern politischer Spezialmagazine aus den USA. Am Dienstag der Vorwoche konnte SPÖ-Klubobmann Josef Cap in einer abendlichen TV-Debatte allerdings ebenso ausführlich wie auswendig aus einem solchen zitieren – und sein schwarzes Visavis Karlheinz Kopf stand dabei und nickte beifällig. „Das österreichische Wunder“ lautete der Titel der Story in „Foreign Policy“, einer Vierteljahresschrift für US-amerikanische Politik-Aficionados. Der ferne Alpenstaat im kranken Europe kommt darin blendend weg: geringe Arbeitslosigkeit, hohe Inlandsnachfrage, tiefer sozialer Friede, ein schnurrender Sozialstaat: „Wenn man durch die schönen und blühenden Geschäftsstraßen Wiens geht, fällt es einem schwer, sich vorzustellen, wie es heute anderswo in Europa aussieht.“

Verstörend nur, dass tags zuvor ein etwas anderer Befund ins Netz ging, nämlich jener des Londoner Legatum Institute. Der britische Think Tank veröffentlicht alljährlich ein internationales „Wohlstandsranking“, das acht Bereiche – Bildung, Gesundheit, Regierungsqualität, Sozialkapital etc. – in 110 Ländern untersucht und daraus einen Index erstellt. In dem vergangene Woche veröffentlichten Ranking ist Österreich gleich um zwei Plätze nach hinten gerutscht. Jetzt liegen wir auf Rang 16, innerhalb der EU-Mitgliedsländer ist das Mittelfeld. Schuld daran ist vor allem die schlechte Performance in der Bildungspolitik, bei der Österreich nur noch Platz 24 erreichte.


Am Mittwoch publizierte die EU-Kommission ihre Herbstprognose für 2012 ff. Ergebnis: Bei der Sicherung der Arbeitsplätze sind wir im Vergleich mit den anderen 26 Mitgliedsstaaten weiterhin einsame Spitze. Beim Wachstum liegt Österreich auf Rang elf und damit im guten Mittelfeld. Bei der Neuverschuldung (Rang 13) sind wir Durchschnitt und beim Schuldenstand, gemessen amBruttoinlandsprodukt, mit Rang 16 sogar im hinteren Mittelfeld.


Und abermals einen Tag später, am Donnerstag, wurde der „Future Business Infrastrukturreport 2012“ veröffentlicht, der die Qualität der Standortfaktoren Schiene, Straße, Luftfahrt, Telekommunikation und Energieversorgung bewertet. Fazit der Studie: Österreich könnte bei besserer Funktionstüchtigkeit seiner Infrastruktur eine um 27 Milliarden Euro, also um neun Prozent höhere Wirtschaftsleistung erzielen als heute. Zitiert wird darin auch das „World Competitiveness Scoreboard 2012“ des Schweizer Instituts IMD, in dem Österreich heuer in puncto Wettbewerbsfähigkeit von Rang 18 auf Rang 21 zurückgestuft wurde. 2007 hatten wir noch den elften Platz belegt.


Wie steht es ein Jahr vor der nächsten Nationalratswahl wirklich um Österreich? Hat die Regierung das Land tatsächlich mit sicherer Hand durch die Stürme der Finanz- und Wirtschaftskrisen gesteuert, wie sie das behauptet? Oder sind die guten Arbeitsmarktdaten nur ein Potemkinsches Dorf, hinter dessen Pawlatschen sich bittere Wahrheiten verbergen?

Eine profil-Landvermessung in den acht wichtigsten Politikfeldern.

Wirtschaft

Wachstum stabil, Abgaben hoch, Zukunft unsicher

Da kann Österreich schon ein wenig stolz sein: Das zwölfte Jahr hinter­einander wird das Wirtschaftswachstum hierzulande höher sein als im EU-Durchschnitt. „Der Status quo ist nicht schlecht“, befundet auch Margit Schratzenstaller vom Wirtschaftsforschungsinstitut, „aber wir haben in allen Zukunftsbereichen ­großen Nachholbedarf.“ Bildungsmisere, mangelhafte Kinderbetreuung, dräuender Fachkräftemangel – wenn diese Probleme nicht gelöst werden, wird es in absehbarer Zukunft auch nicht mehr die passablen Wachstumsraten geben. Verschärft wird die Lage nach Meinung Schratzenstallers durch eine falsche Abgabenstruktur: „Wir haben eine viel zu hohe Belastung des Faktors Arbeit und viel zu wenig Umweltabgaben und vermögensbezogene Steuern.“


Im Europavergleich liegt Österreich mit einer Abgabenquote von fast 44 Prozent (Steuern und Sozialversicherungsbeiträge) im Spitzenfeld. Die Arbeitnehmer üben sich hingegen in Bescheidenheit: Nach Berechnungen der EU-Kommission werden die Einkommen in Österreich auch heuer wieder real sinken, und zwar ebenso stark wie in den Krisenstaaten Spanien und Irland (siehe Grafik).

Bildungspolitik

Das große Debakel

Das Elend hat einen Namen: PISA. Zuletzt 2009 hat die internationale Großstudie das Versagen der österreichischen Bildungspolitik in Zahlen festgehalten: Bei der Lesekompetenz sind nur die Schüler in Bulgarien und Rumänien schlechter als jene in Österreich, bei den Naturwissenschaften lässt Österreich wenigstens noch die am Bettelstab gehenden Staaten Südeuropas hinter sich. Der Bildungsexperte Andreas Salcher hat die PISA-Ergebnisse jenen der so genannten GEM-Studie des Joanneum Graz gegenübergestellt. In der GEM-Untersuchung werden Kreativität und Unternehmergeist gemessen. Das Ergebnis überrascht: In vielen Staaten, in denen die Schüler beim PISA-Test gut abgeschnitten haben, liegen sie beim GEM-Test relativ schlecht und umgekehrt. Österreich ist die Ausnahme: Dort ist man sowohl bei PISA als auch bei GEM ganz hinten. Salcher kommt gerade von einer Erkundungsreise aus Kanada zurück. „Dort schneiden die Immigrantenkinder nach der Schulzeit in Sprachtests besser ab als die ,Eingeborenen‘. Bei uns kann die dritte Zuwanderergeneration schlechter Deutsch als die zweite.“ Das Problem sieht er in der mangelnden Qualität vieler Schulen: „Dort treffen bildungsferne Schüler auf schlechte Lehrer und faule Direktoren. Und ob man dann außen Hauptschule oder Neue Mittelschule draufschreibt, ist völlig egal.“


Aber auch abseits der Hauptschulen liegt vieles im Argen. In den großen österreichischen Städten besuchen bis zu 80 Prozent eines Jahrgangs höhere Schulen, also eine AHS oder eine berufsbildende höhere Schule. „Das sind dann praktisch Gesamtschulen, allerdings in der denkbar schlechtesten Form, nämlich ohne jeden Förderunterricht.“ Das Ergebnis, so Salcher, sei dann entsprechend: „Ein Drittel der Schüler langweilt sich, weil sie unterfordert sind, ein Drittel rutscht halt so durch, und ein Drittel ist völlig überfordert.“

Arbeitsplätze

Die große Erfolgsstory

100.000 Arbeitslose seien für die Demokratie gerade noch erträglich, predigte einst Bruno Kreisky, bei allem, was darüber liege, werde es gefährlich. In Österreich gibt es derzeit 220.000 Arbeitslose (und 70.000 Joblose in Schulungen, die nicht mitgerechnet werden), die Demokratie ist dennoch stabil, und wir sind mit einer Rate von 4,5 Prozent unangefochtener Spitzenreiter in Europa. Bei der Jugendarbeitslosigkeit hält Österreich den drittbesten Platz. Das wird auch so bleiben: Laut der vergangene Woche veröffentlichten Prognose der EU-Kommission werden wir mindestens bis 2014 diesen Spitzenplatz halten.


Zu einem guten Teil verantwortlich für die Arbeitsmarktlage in Österreich ist laut Arbeitsmarktservice-Chef Herbert Buchinger ein Umstand, der so gar nicht zum gängigen Vorurteil passt: „In Wahrheit haben wir den flexibelsten Arbeitsmarkt von allen OECD-Ländern.“ Tatsächlich dauert ein Dienstverhältnis in Österreich im Durchschnitt nur zwei Jahre. 1,6 Millionen der 3,5 Millionen Arbeitnehmer wechseln jährlich ihren Job – freiwillig oder unfreiwillig. Die meisten Jobsuchenden kommen dann wieder relativ rasch unter, wie die Statistik zeigt. Auch das Arbeitsrecht sei entgegen der Klagen von Unternehmerseite überaus flexibel: In Österreich könne man viel leichter, nämlich ohne Angabe von Gründen, gekündigt werden als in den meisten anderen EU-Mitgliedsländern. Auch die Annahme, in Österreich seien die Arbeitslosenraten nur deshalb so niedrig, weil die Beschäftigten so frühzeitig in Pension gehen, stimmt nach Ansicht Buchingers nicht: „Dafür kommt man wegen des dualen Berufsausbildungsmodells bei uns ja auch früher in die Arbeitswelt als in anderen Ländern.“ Derzeit treten 38 Prozent der Jugendlichen mit 15 ins Berufsleben ein – eine Zahl, die seit vielen Jahren stabil bleibt. In den meisten anderen Staaten beginnen die Jugendlichen erst mit 17 oder 18 zu arbeiten, gehen dann aber auch später in Pension.

Pensionen

Spitzenreiter bei Frühpensionen

Zuerst die gute Nachricht: Laut einer Studie der internationalen Allianz-Gruppe zählt Österreich nicht zu den Staaten mit dem höchsten Reformbedarf für sein Pensionssystem. Mit einem Skalenwert von 4,2 (eins = sehr geringer, zehn = sehr hoher Reformbedarf) liegen wir derzeit im Mittelfeld. Spitzenreiter ist Griechenland mit dem Faktor sieben.


Gleichzeitig besteht kein Zweifel daran, dass der Reformbedarf kontinuierlich steigen wird. Schon heute machen die österreichischen Staatsausgaben für Pensionen 12,7 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung aus. Nur in Frankreich (13,5 Prozent) und in Italien (14 Prozent) sind sie anteilig noch höher. Wegen der rasch steigenden Lebenserwartung ist eine Kostensteigerung unausweichlich, wenn nicht gleichzeitig auch das Pensionsantrittsalter steigt. Und das ist in Österreich niedriger als in allen anderen EU-Staaten. Mit durchschnittlich 58 geht man hierzulande in die Rente, ein Wert, den Sozialminister Rudolf Hundstorfer mit seinem Maßnahmenpaket in den kommenden Jahren deutlich anheben will. Versuche, das gesetzliche Frauenpensionsalter früher als geplant an jenes der Männer anzugleichen, scheitern vorerst am Widerstand der Frauenorganisationen in SPÖ und ÖGB.
Derzeit gibt es noch in zehn EU-Staaten ein Frauenpensionsalter von 60 Jahren oder darunter. 2020 wird das 65/60-Modell nur noch in Österreich, Bulgarien und Rumänien Gesetz sein. In Österreich wird das Pensionsalter erst 2034 einheitlich sein.

Gerechtigkeit

Gute „Messergebnisse“ – aber andere Wahrnehmung

In der dieswöchigen profil-Umfrage sprechen sich fast zwei Drittel für die Einführung von Vermögensteuern aus. Dass die Österreicher die Verteilung des Besitzes und der Einkommen subjektiv als ungerecht empfinden – davon geht auch die SPÖ in ihrer Wahlkampagne für die Nationalratswahlen aus.


Dabei geht es in Österreich – zumindest was die Einkommen betrifft – im internationalen Vergleich eher egalitär zu. Messgröße ist dabei der so genannte ­„Gini-Koeffizient“, ein Indexwert, mit dem die Schere zwischen niedrigsten und höchsten Einkommen eines Landes gemessen wird.
Die Vereinten Nationen veröffentlichen ein Ranking nach diesen Gini-Koeffizienten alljährlich in ihrem „World Development Report“. Österreich liegt in dessen jüngster Ausgabe an 19. Stelle unter 130 untersuchten Staaten (siehe Grafik). Am geringsten sind die Einkommensunterschiede in Skandinavien und in Mitteleuropa, am höchsten in Afrika und in Lateinamerika.


In Schweden beziehen die zehn Prozent Bestverdiener sechsmal so viel wie die zehn Prozent der am schlechtesten Entlohnten, in Österreich 7,6-mal so viel, in Paraguay 73-mal so viel und in Lesotho gar 105-mal so viel.

Korruption

Auf dem Weg nach unten

„Dieser Platz wird nicht zu halten sein“, vermutet Franz Fiedler, „und verbessern werden wir uns im nächsten Ranking kaum.“ Fiedler, ehemaliger Rechnungshofpräsident und heute Chef von „Transparency International“, bezieht sich auf das jeweils im Dezember eines Jahres von der internationalen Dachorganisation von Transparency veröffentlichte Korruptions-Ranking nach einem „Corruption Perception Index“, der die Wahrnehmung von Korruption in einem Land misst.


Im Ranking vom Dezember 2011 lag Österreich an guter 16. Stelle – immerhin waren 182 Staaten untersucht worden. Fiedler stört nicht der 16. Platz, sondern der Umstand, dass es Jahr für Jahr bergab geht: „2005 sind wir noch an zehnter Stelle gelegen.“ Dennoch sei die Lage nicht nur negativ einzuschätzen: Es werde heute viel mehr aufgedeckt, und die Opposition sei hartnäckiger. Auch das Transparenzpaket zur Parteienfinanzierung und das Medientransparenzgesetz seien positiv einzuschätzen, das Lobbyistengesetz bedürfe hingegen einer Nachbesserung.

Umwelt

Ziele zu hoch gesteckt

Heuer sollte es erreicht sein: Spätestens 2012 wolle die Bundesregierung im Kampf gegen den Klimawandel die Kioto-Ziele erreichen, kündigte der neue Bundeskanzler Alfred Gusenbauer im Jänner 2007 in seiner Regierungserklärung an. Davon kann heute keine Rede mehr sein: Inzwischen ist klar, dass Österreich die bei der großen Umweltkonferenz in Kioto 1997 zugesagten Obergrenzen für den Ausstoß von Treibhausgasen auf absehbare Zeit nicht einhalten wird können. Dieses Ziel war einfach zu hoch gesteckt. Im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre verfehlte Österreich die Kioto-Marke um nicht weniger als 18 Prozent. Die ehe­maligen Ostblockstaaten pusten freilich noch weit mehr in die Luft: Die baltischen Staaten verfehlten das Ziel gleich um 48 Prozent. Am relativ meisten Treibhausgase emittiert in Europa Estland vor Bulgarien und Polen. Österreich liegt hinter Schweden und Frankreich am drittbesten Platz.


Der Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtverbrauch ist in Österreich wegen der intensiven Nutzung der Wasserkraft traditionell hoch: Er liegt bei 31 Prozent, der drittbeste Wert in der Europäischen Union. Besser sind nur Lettland (36 Prozent) und Schweden (35 Prozent). Der Anteil der erneuerbaren Energie liegt im EU-Schnitt bei rund zehn Prozent. Gerhard Heilingbrunner, Präsident des Umweltdachverbands, urteilt differenziert: „In manchen Bereichen, etwa beim Verkehr, geht nichts weiter. Jetzt soll sogar die Pendlerpauschale wieder durch ein Kilometergeld ersetzt werden. Wer mehr fährt, bekommt mehr Geld. Das geht in die falsche Richtung.“ Positiver sieht Heilingbrunner „die ambitionierte Gewässerpolitik“ und die Bemühungen um den ländlichen Raum.

Gesundheit

Spitzenmedizin trifft Vorsorgemuffel

Wenn viele betuchte Ausländer nach Österreich kommen, um sich hier medizinisch behandeln zu lassen, hat das einen guten Grund: Die Wahrscheinlichkeit, von einer ernsten Krankheit geheilt zu werden, ist in österreichischen Spitälern deutlich höher als in jenen anderer europäischer Länder. Der Zugang zu diesen medizinischen Spitzenleistungen ist weitgehend egalitär – das wird auch von der Bevölkerung so empfunden: Laut einer Erhebung von Eurostat, dem Statistik­amt der EU, sagen mehr als 95 Prozent der österreichischen Niedrigverdiener, sie hätten bisher noch jede medizinische ­Leistung bekommen, die sie angestrebt ­hätten.


Nur Griechenland hat eine höhere Ärztedichte als Österreich: Auf je 1000 Einwohner kommen hier 4,7 Ärzte, in Großbritannien sind es gerade halb so viele. Dass Österreich bei der Lebenserwartung dennoch nur im guten Mittelfeld rangiert (siehe Grafik), liegt nicht an der kurativen Medizin, sondern am Lebensstil: „Bei allem, was Vorbeugung und Vorsorge betrifft, sind wir nicht gut“, befundet Ernst Wolner, jahrzehntelang Star der Wiener Herzchirurgie und heute Präsident des Obersten Sanitätsrats, des wichtigsten Beratungsgremiums des Gesundheitsministers. Nur jeder Vierte nutzt die kostenlose Vorsorgeuntersuchung, jedes vierte Kind und jeder vierte Jugendliche sind in Österreich fettleibig. Für Vorbeugung und Vorsorge gebe es keine ausreichenden Budgetposten, meint Wolner. Warum das so ist, könnte einen banalen Grund haben: Solche Investitionen verursachen für Politik und Kassen sofort Kosten, die daraus resultierenden Ersparnisse gibt es aber erst in zwanzig Jahren – wenn die heutige Politiker- und Kassendirektoren-Generation schon lange nicht mehr im Amt ist.