Flutopfer: Traurige Ungewissheit

Österreichische Flutopfer: Traurige Ungewissheit

488 Österreicher werden noch immer vermisst

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Erich Zwettler hat in der vergangenen Woche kaum geschlafen. Müdigkeit und Betroffenheit machen aus den Worten des Chefs der Abteilung III des Bundeskriminalamtes fast ein Flüstern. „Diesen Montag“, sagt Zwettler, „wenn die Republik im neuen Jahr wieder aufsperrt, wird die Zahl der Vermissten vermutlich noch einmal deutlich sinken, weil man dann sieht, wer bei der Arbeit erscheint.“ Viele Vermisste hätten sich noch nicht gemeldet, obwohl es ihnen vermutlich gut gehe. „Und ich sitze da und weiß noch immer nicht, wer tatsächlich vermisst wird.“ Mit Redaktionsschluss Freitagnachmittag lag die Zahl der österreichischen Vermissten bei 488, zehn Todesfälle waren bestätigt. In der chaotischen Phase unmittelbar nach dem Tsunami war die Zahl der Vermissten noch bei über 3000 gelegen.

Zwettler hat am Montag der vergangenen Woche mit einem 200-köpfigen Team den „Einsatzabschnitt Ermittlungen und Fahndungen“ vom Krisenstab des Außenministeriums übernommen. Seine Aufgaben: Vermisste finden, Opfer identifizieren, die Hotline mit zwölf Telefonen betreuen, die Teams vor Ort versorgen, Angehörige in Österreich zwecks genetischen Vergleichsmaterials kontaktieren. Gendarmen in ganz Österreich warten schon auf aus dem Urlaub heimkehrende Zahnärzte von Vermissten, um Röntgenbilder von Gebissen zu bekommen.

Doch auch das bietet keine Garantie, die Vermissten wenigstens unter den geborgenen Opfern zu finden. Auf Sri Lanka etwa wurden die meisten Toten, egal ob In- oder Ausländer, sofort in Massengräbern beigesetzt, um Seuchen zu verhindern. Und die noch nicht Bestatteten seien wegen der fortgeschrittenen Verwesung kaum mehr identifizierbar, sagt die Salzburger Gerichtsmedizinerin Edith Tutsch-Bauer, die sich noch in Colombo befindet. Tutsch-Bauer: „Äußerlich ist nicht zu erkennen, wer Europäer ist. Wegen der Verwesung und auch wegen der Strandkleidung, die bei allen dieselbe ist.“ Und jene Leichen, die jetzt noch angeschwemmt werden, hätten nach Tagen im warmen Salzwasser die Zähne verloren. Tutsch-Bauer: „Und so kann man kaum noch identifizieren.“

Erich Zwettler kann nicht mehr machen, als zu versuchen, „die Zeit der Ungewissheit für die Angehörigen zu verkürzen“. Aber wer tatsächlich von der Flut erwischt wurde und noch nicht aufgetaucht ist, dem blieben praktisch keine Chancen mehr. Zwettler: „Wir haben bereits alle Hotels, Spitäler, Auffanglager und Ähnliches mehrmals durchkämmt.“

Allerdings sei es gut möglich, dass manche der Vermissten von der Flut nicht betroffen gewesen seien, weil sie sich gar nicht in betroffenen Gegenden aufgehalten hätten. Manche Personen meldeten sich vermutlich deshalb nicht bei der Behörde, weil sie gar nicht wüssten, dass sie gesucht werden. Und der eine oder andere habe wohl auch den Tsunami als Gelegenheit genutzt, ganz unterzutauchen. Und zumindest ein Fall von einem Überlebenden ist bekannt geworden, der trachten musste, seine Rückkehr mit einem Opfertransport zu verheimlichen, weil seine Frau in Österreich nichts vom Thailand-Urlaub des Gatten wusste.

100 Missverständnisse. In der Anfangshektik wurden auch einfach alle von Anrufern genannten Namen auf die Liste genommen, teils sogar irrtümlich die Anrufer selbst als vermisst gemeldet. Etwa 100 Missverständnisse habe es bisher gegeben. Etwa, weil untereinander zerstrittene Familienangehörige sich nicht gegenseitig verständigt hätten. Und die Hotline-Telefonisten der ersten Stunde, allesamt unerfahrene und einschlägig nicht ausgebildete Grundwehrdiener, seien nicht in der Lage gewesen, die Qualität der durch aufgeregte Anrufer eingehenden Informationen durch gezielte Fragen zu überprüfen. Seit Polizisten an den Telefonen säßen, funktioniere alles besser. Zwettler: „Wenn eine geschockte Großmutter anruft und nicht einmal das Land nennen kann, in dem ihr Angehöriger vielleicht ist, ist das schwierig. Wir können diese Information aber auch nicht ignorieren.“

Aber die Hotline sei wenigstens nicht von „kranken Hirnen heimgesucht“ worden, so Zwettler, wie in England, wo ein Mann verhaftet wurde, nachdem er zahlreiche Angehörige von Vermissten angerufen hatte, um ihnen die „offizielle Todesnachricht“ zu überbringen.

Fast alle überlebenden Österreicher sind mittlerweile wieder zu Hause. Langsam verarbeiten sie die Schrecken der Katastrophe. Und langsam kommt die Trauer wegen der Verwandten und Freunde, die nicht so viel Glück hatten.

„Es gibt ein Leben danach …“
Familie und Freunde eines vermissten Wiener Ehepaares haben die Suche noch nicht aufgegeben. Doch langsam weicht die Hoffnung der Trauer.

Echte Hoffnung ist mehr als Optimismus. Echte Hoffnung denkt, rechnet, rekonstruiert. Entwickelt ausgeklügelte Thesen mit zumindest einem Rest an Realitätsbezogenheit. Hubert und Tina könnten an einen Baum geklammert auf eine andere Insel abgetrieben worden sein. Oder sie könnten im Landesinneren verstört und noch unentdeckt herumirren.

Sabine denkt, rechnet, rekonstruiert. Doch viel mehr fällt auch ihr nicht mehr ein. Auch echte Hoffnung hat Grenzen.

Sabine Totter, 40, Psychologin aus Wien, hat die drei Wellen von Khao Lak mit Schnittwunden und etwas Sand in der Lunge überlebt. Schon zum zweiten Mal hatte sie mit ihrer Jugendfreundin Tina Wolf und deren Gatten Hubert Weihnachten in Khao Lak verbracht. Totter war zwei Tage nach der Flut schon wieder in Wien. Ihre Wunden heilen ab. Aber seit dem gemeinsamen Strandfrühstück am 26. Dezember, als sie die „weiße Wand“ draußen am Meer beobachteten, die da mindestens eine halbe Stunde lang zu sehen war, bevor das Inferno losbrach, gibt es kein Zeichen mehr von Tina und Hubert Wolf.

Sabine Totter, Hubert Wolfs Cousin Gerald, seine Schwester Tamara, die kleine Laura und Eduard, ein Freund der Familie, haben sich im Haus der Vermissten in Wien zusammengefunden, Fotos ausgegraben und versuchen, die Tragödie im Gespräch zu reflektieren. Huberts Mutter kann und will wegen ihrer Weinkrämpfe nicht teilnehmen.

Eduard, der ebenfalls in Khao Lak war, aber unverletzt blieb, sagt: „Das war kein Wasser, was da über den Ort und die Menschen kam, das war ein Konglomerat aus Glasscherben, Schlamm, Eisenteilen, Betontrümmern, Bäumen und Wasser.“
Sabine sagt, sie wolle nicht kleinlich sein, aber dass der Vertreter der österreichischen Botschaft zuerst lange nicht zu erreichen gewesen war und erst gesucht werden musste, während Vertreter anderer Länder längst vor Ort aktiv waren, habe sie befremdet. Dieser von Flutopfern mühsam ausgeforschte Botschaftsvertreter habe gemeint, er könne nichts tun, die Betroffenen müssten sich wohl zu ihm bequemen. Am Konsulat schließlich habe der Mann alte grüne Reisepässe ausgestellt und allen, die darum baten, 10.000 Baht (200 Euro) geliehen. Allerdings gleich 60 Euro für die Ausstellung des Passes abgezogen. Sabine Totter: „Da bin ich gegangen. Von dieser Person wollte ich mir kein Geld ausborgen.“

Gerald, der selbst jahrelang in Thailand war, hat Tage und Nächte damit verbracht, zu telefonieren, E-Mails zu verschicken, nachzuforschen. Für ihn ist sein Cousin bereits zum zweiten Mal vermisst: Ein Reisebüro hatte zunächst mitgeteilt, Hubert Wolf habe sich gemeldet und sei dabei, seine Frau zu suchen. Das Außenministerium in Wien bestätigte das. Es war eine Falschmeldung. Die Recherchen gingen wieder los. „Und wenn S’ jetzat laut a no wern, dann leg i auf“, habe der überforderte Grundwehrdiener am Telefon der Hotline des Außenministeriums noch gezischt.

Gerald machte weiter. Irgendwie. Er sei unfähig gewesen, nichts zu tun, sagt er. Er kontaktierte sogar zwei Wahrsagerinnen. Beide kamen zur Ansicht, dass die beiden Vermissten noch lebten. Sie sei weniger verletzt als er. Dann nannte eine der Wahrsagerinnen sogar eine Telefonnummer von Khao Lak. Gerald rief an. Nichts.
Warum Tina und Hubert Wolf vor ihrer Abreise ein Testament gemacht haben, in dem sie die 21-jährige Schwester Tamara als Erbin des Gartenhauses nahe der Alten Donau eingesetzt haben, ist allen ein Rätsel. Ebenso wie die Ansichtskarte aus Khao Lak, die Tina und Hubert einen Tag vor der Flut an ihre eigene Adresse geschickt haben und die vergangene Woche in Wien ankam. „Es gibt ein Leben danach! (Nach Thailand)“, steht darauf.

Tamara ist die Einzige in der Familie, die überzeugt ist, dass beide leben. Alle anderen haben „echte Hoffnung“, doch sprechen sie über die beiden bereits in der Mitvergangenheit: „Tina war das Energiebündel, unendlich positiv eingestellt, Hubert eher introvertiert, manchmal auch depressiv“, sagt Sabine.

Tina Wolf, 43, arbeitete als Seminartrainerin für Kommunikation und Motivation für Führungskräfte, sammelte leidenschaftlich Muscheln, schrieb Romane, schmiss Gartenpartys, liebte das Leben, die Astrologie, ein bisschen Buddhismus und ihr Cabrio. Kompensierte auf diese Weise erfolgreich eine Kindheit, die früh geendet hatte: Die Mutter starb an Krebs, als Tina 14 war, der Vater war Alkoholiker und nicht vorhanden.

Hubert Wolf, 44, von seinen Verwandten als „herzlich, helfend, sensibel, introvertiert“ beschrieben, arbeitete früher im Gastgewerbe und als Fotograf. Zuletzt war er als Seminartrainer für Drucktechniken tätig und wollte diesmal in Thailand neue Konzepte entwickeln. Beide hatten geplant, ihre Seminare in Zukunft gleich in Khao Lak abzuhalten, doch war es nicht möglich, ein geeignetes Objekt zum Kauf zu finden. Also planten sie zuletzt, den Seminarbetrieb auf ein Segelboot in Kroatien zu verlegen. Die Skipper-Berechtigung hatte Hubert erst unlängst gemacht.
Es fehlte nur noch der letzte Schritt.

Grausame Notwendigkeiten
Eine Bankomat- und eine ÖAMTC-Karte am Strand von Khao Lak: Sonst fehlt von Michaela Schlosser und Manfred Schneider jede Spur.

Im Juli feierte Michaela Schlosser hier noch ihren 36. Geburtstag. Mit Verwandten, vielen Freunden – alles Menschen, die Robert Klammer erst später besser kennen lernen sollte. Hier, im vorletzten Haus Wiens. In einem Garten so weit draußen am Stadtrand, dass sich der Nachbar schon Ponys hält. Hier, wo Robert Klammer nun im Keller zwischen einigen Gitarren, Lautsprecherboxen und einem Haufen Krempel vor seinem Computer sitzt und seit zwei Wochen hunderte Internetseiten nach Hinweisen auf den Verbleib seiner besten Freunde durchsucht. „Vergangene Woche haben wir noch gehofft. Nun geht es uns einfach nur noch darum, Gewissheit zu haben“, sagt Klammer. Traurige Gewissheit. Der Beamte wirkt ruhig und gelassen, während er den brutalen Gedanken ausspricht.

Auf einer Website prangt noch immer sein Vermissten-Aufruf: „Wir suchen: Dipl.-Ing. Manfred Schneider, geb. 5.4. 1959, ca. 180 cm, 90 kg, trägt Brille, hat einen kleinen Ring im linken Ohr, und seine Lebensgefährtin Michaela Schlosser, geb. 6.7.1968, ca. 175 cm, 58 kg, lange dunkle Haare.“ 163 Mails hat er in seinem Thailand-Ordner mittlerweile dazu abgelegt. Ein Anhaltspunkt, der auf das Überleben seiner Freunde hinweisen könnte, ist nicht darunter.

Am 25. Dezember, dem Tag vor der großen Welle, kam das letzte Mail der beiden aus Khao Lak. Am diesem Abend hatten sie noch einen Tisch im „Green-Village-Steirereck“ des Österreichers Gunther Lechner bestellt. Das ist das Letzte, was man von ihnen weiß. Auch Gunther Lechner gilt immer noch als vermisst.

Während Klammer das Internet nach Hinweisen durchforstet, muss Margit P. – die Schwester von Manfred Schneider – die grausamen Notwendigkeiten des Alltags abwickeln. In der Wachstube im 18. Wiener Gemeindebezirk meldete sie ihren Bruder und dessen Lebensgefährtin Mittwoch vergangener Woche nun offiziell als abgängig, Kriminalbeamte nahmen mit Wattestäbchen Abstriche ihrer Mundhöhle, um ihre DNA mit der von hunderten oder tausenden Toten im 8000 Kilometer entfernten Thailand zu vergleichen. „Zu wissen, dass es ihren Speichel braucht, um ihren Bruder vielleicht aus der Anonymität unzähliger Toten herausheben zu können, ist für sie ein einfach unbeschreiblich grauenhaftes Gefühl“, sagt Robert Klammer. Auch in der Wohnung von Manfred und Michaela kratzt die Polizei in makabrer Routine DNA-Spuren der Vermissten vom benutzten Bettzeug und der Computertastatur.

Für den Chef von Manfred Schneider, Umweltminister Josef Pröll, ist es eine heikle Situation. Schneider leitet die Abteilung für internationale Umweltangelegenheiten in Prölls Ressort. Ab wann empfinden es Angehörige und Kollegen nicht mehr als pietätlos, wenn man einen Nachfolger sucht? Schließlich ist allen klar, dass der Lebensmittelchemiker seinen Dienst nach dem geplanten Urlaubsende am 17. Jänner nicht antreten wird. „Ich bin sehr betroffen über das Ausmaß der Katastrophe und die vielen Einzelschicksale“, so Pröll gegenüber profil. „Insbesondere auch darüber, dass ein leitender Mitarbeiter meines Hauses und seine Lebensgefährtin vermisst werden.“ Dennoch steht der Minister vor der heiklen Aufgabe, bald die personellen Weichen für Schneiders Job stellen zu müssen – momentan zumindest interimistisch. Pröll: „Der Respekt vor dem Vermissten gebietet es, dass zwar die Handlungsfähigkeit der Abteilung gewährleistet bleibt, jedoch ohne die Position von Herrn Schneider infrage zu stellen. Zumindest so lange, bis man Gewissheit über sein Schicksal hat.“

Die jungen Kollegen Schneiders, die meisten zwischen 25 und 35 Jahre alt, sind tief betroffen. Immer wieder checken sie ihre Mails, klicken im Internet nach Hinweisen umher. „Man fühlt sich so hilflos und würde doch so gern irgendwie helfen“, versucht eine Kollegin die Gefühle des Teams in Worte zu fassen. Freunde einer Mitarbeiterin Schneiders, die derzeit in Thailand Verwandte besuchen, sahen sich Fotos von Toten an. Identifizierung unmöglich.

Sie mailten auch zwei bedrückende Fotos nach Wien. Eines von der Bankomatkarte von Manfred Schneider, die sie neben seiner ÖAMTC- und Versicherungskarte am Strand der verwüsteten Bungalow-anlage fanden. Und auch zwei der Bungalows fotografierten sie. Oder besser gesagt: deren Überreste.