Milieustudie

Österreichs Milieus: Wer bin ich, wohin gehöre ich, wen wähle ich?

Titelgeschichte. Eine Studie beleuchtet die zehn Milieus, die Österreich prägen – eine Woche vor der Wahl

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Eine Stunde mit der Schnellbahn von Wien entfernt findet man die „Bürgerliche Mitte“. Im Wohnzimmer von Gerlinde Körber ist alles richtig: die gepolsterte Eckbank in den beherrscht-fröhlichen Farben, die gerahmten Fotos der Lieben in der Vitrine, das Kaffeehäferl aus Gmundner Keramik, der Kater „Bob Marley“, der vor dem Hometrainer in einem geflochtenen Korb döst, viel zu faul, um zu erschrecken.

Sein Frauerl hingegen scheint nicht recht zu wissen, was sie von den Besuchern halten soll. Die 48-jährige Bankangestellte hat zwei Kinder großgezogen, mit ihrem Mann ein Passivhaus in Stockerau gebaut und im Garten einen kleinen Schwimmteich angelegt. Am Wahlsonntag kreuzte sie immer SPÖ oder ÖVP an, und es wäre ihr im Leben nicht eingefallen, einmal nicht wählen zu gehen. Kaum etwas, womit man es üblicherweise in die Zeitung schafft.

Doch genau das macht Gerlinde Körber so interessant. Sie gehört zu den 15 Prozent der Bevölkerung, die als Milieu der „Bürgerlichen Mitte“ das Zentrum jener Sinus-Grafik bilden, die das heutige Österreich beschreiben soll. Benannt ist sie nach ihrem Erfinder, dem deutschen Sinus-Institut, das Anfang der 1980er-Jahre damit begann, nach Gruppen von Gleichgesinnten zu forschen.

Früher wählten Bauern und Wirtschaftstreibende die ÖVP, Arbeiter und kleine Angestellte machten ihr Kreuz bei der SPÖ. Doch die Verhältnisse sind schon lange nicht mehr geordnet. Arm und reich, links und rechts genügen nicht, um die Werte- und Geschmacksuniversen zu beschreiben, die eine Gesellschaft prägen. Heinz-Christian Strache und Eva Glawischnig zum Beispiel lachen vermutlich selten über dieselben Witze, doch in der grauen Welt der Statistik haben sie viel gemein: Beide kamen 1969 auf die Welt, haben zwei Kinder, leben in einer Partnerschaft, arbeiten in führenden politischen Positionen und verdienen nicht schlecht.

Das Sinus-Modell fasst Menschen zusammen, die ähnlich denken, wohnen, konsumieren – und wählen. Je weiter oben ein Milieu in der Grafik liegt, desto wohlhabender und gebildeter ist es, entsprechend höher ist auch der soziale Status. Je weiter links ein Milieu angesiedelt ist, desto mehr zählt für seine Vertreter das Althergebrachte und Überlieferte. Die „Bürgerliche Mitte“ ist – verglichen mit den „Traditionellen“ – modern, kann aber bei Einkommen und gesellschaftlichem Einfluss nicht mit den „Konservativen“ mithalten. Die „Digitalen Individualisten“ wiederum nehmen sich mit einem Bevölkerungsanteil von sechs Prozent neben der „Bürgerlichen Mitte“ wie ein statistischer Zwerg aus. Doch weil sie das jüngste und innovativste Milieu repräsentieren, achten Trendforscher und Zukunftsdeuter auf jede noch so winzige ihrer Bewegungen.

Einmal in zehn Jahren muss die soziologische Karte neu gezeichnet werden, weil alte Werte verblassen, neue auftauchen oder gesellschaftliche Umbrüche zu registrieren sind – so wie 1995 in Deutschland, als sich die DDR-Nostaliker als bisher unbekanntes Sinus-Milieu herauskristallisierten. Im Osten stellten sie 15 Prozent der Bevölkerung, im Westen waren sie bedeutungslos.

Für Österreich werden die Sinus-Milieus seit 2001 vom Marktforschungsunternehmen Integral erhoben. Damals stellten die konservativen „Ländlichen“ noch sieben Prozent der Bevölkerung. Eine Dekade später waren sie unter die Wahrnehmungsschwelle der Soziologen gerutscht. Dafür tauchten am gegenüberliegenden Horizont des Modernisierungspfades bereits die „Digitalen Individualisten“ auf.

Marketingstrategen, Verbände, Raumplaner und längst auch politische Parteien nützen die Sinus-Milieus, um sich in die Lebenswelten ihrer Klientel hineinzuversetzen. Im zarten Erwachsenenalter haben die meisten Menschen ein Wertegerüst ausgeprägt, das über die Jahrzehnte erstaunlich stabil bleibt. Bis heute hält die Generation, die in den 1950er Jahren sozia-lisiert wurde, Pflicht und Gehorsam hoch, während für Menschen, die nur zehn Jahre später in den Roaring Sixties aufwuchsen, Status und Besitz bedeutsam sind.

In den 1980er-Jahren zeichnete sich der Übergang vom Materialismus zum Postmaterialismus ab. 2001 kam der Bruch: Die Anschläge vom 11. September zeigten ein globales Dorf, in dem ungeahnte Möglichkeiten, aber auch Gefahren lauern. Die Dot-com-Blase platzte, es folgten die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und steigende Arbeitslosigkeit. „Die Oberschichts-Milieus reagieren darauf mit einer neuen Lust am Experiment, die mittleren versuchen, irgendwie durchzukommen, während die untere Mittelschicht der Hedonisten sich aus der Leistungsgesellschaft auskoppelt“, konstatiert Integral-Geschäftsführer Martin Mayr.

Exklusiv für profil erhoben seine Marktforscher, wie Traditionelle, Etablierte & Co. es mit der Politik halten, welche Themen sie interessieren und wie sie in die Zukunft blicken ...

Lesen Sie die Titelgeschichte von Tina Goebel und Edith Meinhart in der aktuellenPrintausgabe oder in der profil-iPad-App.