ÖVP: Schüssel und das Waisenkind

Nun ist selbst der Kanzler nicht mehr unangreifbar

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Wien, Ballhausplatz, 18.25 Uhr, Sonntagabend: Wolfgang Schüssel tritt mit Elisabeth Gehrer aus dem Bundeskanzleramt. Kurz werden ein paar Worte gewechselt, dann steigt die stellvertretende ÖVP-Chefin in ihren silbernen Audi-A8-Dienstwagen. Wolfgang Schüssel macht sich, begleitet von seinem Kabinettschef, seiner Pressesprecherin und seinen Personenschützern, zu Fuß auf den Weg: über den Ballhausplatz, durch den Volksgarten, über die Ringstraße am Rathaus vorbei zur Parteizentrale der ÖVP in der Wiener Lichtenfelsgasse. Schüssel wirkt ruhig und nachdenklich. Sein Kabinettschef telefoniert. Es ist ein milder Herbstabend in der Bundeshauptstadt. Es dämmert schon.

Seit einigen Stunden weiß Wolfgang Schüssel, dass er wohl nicht Bundeskanzler bleiben wird.

Schon am Nachmittag hatte der ÖVP-Bundesparteiobmann seine wichtigsten Mitstreiter im Kanzleramt zur mehrstündigen Krisensitzung versammelt – neben Gehrer auch Klubobmann Wilhelm Molterer und Nationalratspräsident Andreas Khol. Die zweite Garnitur der Volkspartei tröpfelte derweilen langsam in der Parteizentrale ein. In den sechs Stockwerken herrschte eine seltsame Stille. Im zweiten Stock, in den Räumlichkeiten des ÖAAB, analysierte der Obmann des schwarzen Arbeitnehmerbunds, Fritz Neugebauer, das Wahlergebnis. Im dritten Stock, dem Sitz des ÖVP-Generalsekretärs, versammelten sich die Minister. Und im fünften Stock hatte ein Team von Statistikern in einem abgesperrten Bereich seit dem Vormittag die eintreffenden Ergebnisse analysiert und hochgerechnet. Gegen halb zwei schien das Unvorstellbare unvermeidlich, am Abend wurde es von Innenministerin Liese Prokop förmlich bestätigt.

Die ÖVP stürzte von 42,3 Prozent auf 34,2 Prozent ab. Im Vergleich zu 2002 stimmten diesmal um 500.000 Wähler weniger für die Volkspartei, ein Minus von 8,1 Prozentpunkten.

Der Spitzenkandidat gab sich auch in der Stunde seiner wohl schmerzhaftesten Niederlage benediktinisch ruhig. Schüssel gratulierte SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer und lobte den politischen Stil im Land. Aus seiner Stimmungslage machte er allerdings kein Geheimnis. „Das Ergebnis ist eine herbe Enttäuschung, darüber müssen wir intensiv nachdenken.“

Am Montag nach der Wahl tagt traditionsgemäß der ÖVP-Bundesparteivorstand. Nach dem Debakel gilt es zwei Fragen zu klären: Soll die ÖVP gegebenenfalls als Juniorpartner in eine große Koalition gehen und, wenn ja, unter welchem Vizekanzler?

Dass man ab sofort statt Hauptakteur teilweise nur noch interessierter Beobachter in der innenpolitischen Manege ist, dürfte allen Akteuren bewusst sein. ÖVP-intern geht man fix davon aus, dass Bundespräsident Heinz Fischer Alfred Gusenbauer mit der Regierungsbildung beauftragen wird. Koalitionsverhandlungen mit dem SPÖ-Vorsitzenden würde Wolfgang Schüssel wohl noch führen, dass er selbst den Vizekanzler macht, scheint unwahrscheinlich (siehe Seite 14).

Überraschung. Drei Tage vor der bitteren Niederlage hatte alles noch anders ausgesehen. Nach der ORF-„Elefantenrunde“ Donnerstagabend begab sich Schüssel mit Gattin Gigi und seinem Mitarbeiterteam ins Lokal Mario in der Lainzer Straße, unweit von Schönbrunn. Bei Nudeln, Gnocchi, Bier und Wein analysierte die Kanzler-Entourage entspannt die TV-Konfrontation. Und bei der Abschlussveranstaltung der ÖVP im Wiener Museumsquartier Samstagvormittag fasste Schüssel sein Wahlziel kurz und bündig zusammen: „Klarheit durch Mehrheit.“ Generalsekretär Reinhold Lopatka hatte am Nachmittag eine Delegation von Vertretern europäischer Schwesterparteien – darunter CDU und CSU – zu Gast. Entspannt schilderte er den Gesinnungsfreunden die Details seiner Wahlkampagne. Lopatkas Tipp zu diesem Zeitpunkt: Die ÖVP würde vorne bleiben.

Sonntagabend waren „Überraschung und Enttäuschung“ (Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll) umso größer. Zwar hatten einige ÖVP-Funktionäre und Sympathisanten in der Wirtschaft ob der sich abzeichnenden Annäherung der Großparteien gezittert, mit dem Eintritt des Super-GAU hatte wohl niemand so richtig gerechnet.

In ihren ersten Reaktionen räumten Lopatka und Molterer Fehler in eigener Sache ein. Es sei nicht gelungen, die Wähler ausreichend zu mobilisieren. Und außerdem habe „die Negativkampagne“ der SPÖ die Volkspartei hinuntergezogen.

Reinhold Lopatkas Wellness-Wahlkampf war parteiintern durchaus skeptisch aufgenommen worden. Der Kampagnenchef hatte seinen Spitzenkandidaten schon im Sommer auf Plakaten als wassertrinkenden Wandersmann inszeniert – der Slogan: „Österreich. Hier geht’s uns gut.“ Als im August unerwartet und aufgrund eines Schüssel-Fehlers – „Es gibt keinen Pflegenotstand“ – eine intensive Sozialdebatte losbrach, fühlten sich manche in der ÖVP nicht mehr wohl. Lopatka blieb dabei, das Land mit unpolitischen Frohbotschaften über Land („Österreich bleibt besser“) und Spitzenkandidat („Weil er’s kann“) zuzupflastern.

Doch der Generalsekretär vollzog nur, was sein Chef ihm vorgab. Mag er in Regierungsgeschäften allein das große Ganze im Auge haben, im Wahlkampf kümmerte sich Wolfgang Schüssel auch um die Beistriche. Kein Slogan, kein Sujet durfte ohne die Freigabe des Bundesparteiobmanns erscheinen. Lopatka seinerseits hätte dem Vernehmen nach durchaus einen schärferen Wahlkampfstil bevorzugt.

Dass in der Partei nur ein, nämlich sein Wort gilt, hatte Schüssel auch bei der Erstellung der Kandidatenliste deutlich gemacht. Vom Parteivorstand ließ er sich bei der schwarzen Vorwahlklausur im oberösterreichischen Bad Schallerbach das exklusive Recht einräumen, im Alleingang sein Wunschteam für die Bundesliste zu nominieren. Die Soloaktion unter Umgehung der Parteistrukturen wurde nicht von jedem ÖVP-Abgeordneten geschätzt: Die Partei verenge sich, so die Kritik.

Parteiinterne Zweifel an seinen Spitzenkandidaten, vor allem an Bildungsministerin Elisabeth Gehrer, wischte Schüssel brüsk vom Tisch. Ja mehr noch: Im Wahlkampf stellte er die angebliche Erfolgsbilanz Gehrers demonstrativ in die Auslage. In den Ländern waren manche Spitzenfunktionäre darob der Verzweiflung nahe und beklagten sich, die unpopuläre Ministerin würde tausende Wählerstimmen kosten.

Doch Schüssel hielt beinahe fahrlässig Kurs. Was er im Wahlkampf als seine größte Stärke präsentierte, war in Wahrheit auch eine Schwäche: sein Team. Mögen die jüngeren Regierungsmitglieder Josef Pröll und Ursula Plassnik in der Öffentlichkeit punkten, die heutzutage notwendige permanente personelle Selbsterneuerung der ÖVP hat Schüssel vernachlässigt – zum Schaden der Partei.

Bawag-Faktor. Dabei war das für einen erfolgreichen Wahlkampf notwendige Negativthema – die Bawag/ÖGB-Affäre – der Volkspartei förmlich in den Schoß gefallen. Vor allem der Arbeitnehmerbund ÖAAB hatte das Thema mit scharfen Attacken gegen ÖGB und SPÖ ausgeweidet. Doch in den zwei Wochen vor der Wahl, so hatten es die ÖVP-Demoskopen erhoben, geriet die Bawag-

Affäre in der Aufmerksamkeit der Wähler ins Hintertreffen. Schlimmer noch: Als durch einen profil-Bericht Schüssels Sofia-Trip auf Einladung von Ex-Bawag-Chef Helmut Elsner bekannt wurde, bekam plötzlich auch der Kanzler Bawag-Schlammspritzer ab. Überdies wurden das BZÖ und vor allem Hans-Peter Martin ÖVP-intern als Mitbewerber um bürgerliche Stimmen unterschätzt.

Karriereende? Am Mitteleinsatz lag es nicht. Noch nie zuvor dürften die schwarzen Parteimanager so viel in ihren Wahlkampf investiert haben: „Klotzen, nicht kleckern“, lautete die Devise. In den Tageszeitungen kam es zu schwarzen „Anzeigen-Orgien“ (so die österreichische Presseagentur APA), der ÖAAB pflasterte landesweit die Städte mit Anti-SPÖ-Parolen zu, und von der Grazer Oper prangte das mit 500 Quadratmetern größte Werbeplakat aller Zeiten – mit Schüssels Konterfei. Rund 13 Millionen Euro dürften die Gesamtausgaben der Volkspartei ausgemacht haben.

Eine bemerkenswerte innenpolitische Karriere könnte am Sonntag, dem 1. Oktober, zur Neige gegangen sein. Im April 1995 hatte Wolfgang Schüssel die ÖVP übernommen, im Februar 2000 zur Kanzlerschaft gepusht und vor vier Jahren zur stärksten Partei gemacht. In den vergangenen sechs Jahren spielte er in einer eigenen Liga, außerhalb jeder Kritik und sakrosankt. Doch mit der innerparteilichen Unangreifbarkeit dürfte es nun vorbei sein.

Zwar liegen die Messer noch ungewetzt in den Schränken. Doch ist es eine Frage der Zeit, bis ein forsches Vorstandsmitglied die Frage nach der Verantwortung für das Wahldesaster stellt. Dem sich gern souverän gebenden ÖVP-Bundesparteiobmann unterliefen im Wahlkampf ungewohnte Fehler. Ausgerechnet eine Woche vor der Wahl wurde ein schwitziger Kanzlersager vor steirischen ÖVP-Funktionären bekannt. Schüssels Diktum, „die Feministentruppe“ würde angesichts seiner Frauenpolitik „flach liegen vor Begeisterung, wäre ich ein Linker“, verstörte die selbstbewusste weibliche Zielgruppe und lieferte der SPÖ dringend notwendige Wahlkampfmunition.

Neben Schüssel und seinem Wahlkampfleiter Lopatka geht auch ein dritter Mann aufgrund seiner Nähe zum Kanzler schwer geschwächt in die kommenden Wochen: Wilhelm Molterer. Der Klubobmann agierte im Wahlkampf als Hauptstratege und brachte sich in beinahe jede große und kleine Frage ein. Die Folge: Doppelgleisigkeiten und teilweise verwirrende Zuständigkeiten. Geht Schüssel, wäre Molterer dennoch sein logischer Nachfolger an der Spitze der Volkspartei (siehe Kasten).

Wolfgang Schüssel schloss am Wahlabend seinen baldigen Rücktritt aus. Und Erwin Pröll erklärte forsch, er hoffe, Schüssel könne Bundeskanzler und Parteiobmann bleiben. Der Wahlkampf der ÖVP war zur Gänze auf den Spitzenkandidaten zugeschnitten. Motto: „Unser Kanzler.“ Beinahe hatte man den Eindruck, nicht die ÖVP als Liste, sondern die Person des Regierungschefs stehe zur Wahl.

„Die Niederlage ist ein Waisenkind“, hatte Wolfgang Schüssel Wochen vor der Wahl in einer nachdenklichen Stunde philosophiert. „Ich habe die Hauptverantwortung für meine Partei zu tragen“, sagte er am Wahlabend.

Wer, wenn nicht er.

Von Gernot Bauer