„Ohne Kunst würde ich aufhören zu atmen“

Interview. Verhüllungskünstler Christo über sein Leben und seine Arbeit nach dem Tod seiner Frau Jeanne-Claude

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Interview: Michael Marek

profil: Im November 2009 starb Ihre Ehefrau. Lässt sich das gemeinsame Werk ohne Jeanne-Claude überhaupt fortsetzen?
Christo: Auf jeden Fall. Jeanne-Claude ist immer bei uns. Unser Haus ist das Nervenzentrum für unsere Projekte. Hier zeichne ich und arbeite weiterhin an den Entwürfen. Jeanne-Claude war so intelligent, drei junge Assistenten zu gewinnen, die mir jetzt helfen. Einer ist ihr Neffe, der kümmert sich um die Banken und das Bezahlen von Rechnungen. Der zweite beschäftigt sich mit den Dingen, die mit der Kunst zu tun haben. Und mein Neffe Vladimir macht alles, was an Praktischem anfällt, zum Beispiel Auto fahren. Ich habe keinen Führerschein, und ich verstehe überhaupt nichts von Computern.

profil: Sie arbeiten nicht mit Computern?
Christo: Ich mag nicht eine Minute vor dem Bildschirm verbringen. Und was ich am meisten hasse, ist Telefonieren. Jeanne-Claude hat das früher immer gemacht. Ich mag nicht so gern reden und besonders ungern mit Leuten, die ich nicht sehe. Und so haben wir uns ausgedacht, dass ich Skype verwende. So ist die Person wenigstens auf dem Bildschirm zu sehen.

profil: Was für eine Frau war Jeanne--Claude?
Christo: Sie war immer kritisch und diskussionsfreudig. Ich glaube, das war ihre wertvollste Eigenschaft. Ein Künstler arbeitet ja gewöhnlich allein in seinem Studio, vielleicht lädt er ab und zu ein paar Kritiker oder Freunde ein, mit denen er seine Arbeit diskutiert, aber ansonsten trifft er Entscheidungen allein. Mit Jeanne-Claude gab es eine permanente kritische Auseinandersetzung. Sie war wirklich sehr streitlustig! Wenn Jeanne-Claude etwas nicht wollte, dann kam überhaupt nicht infrage, dass es gemacht wurde.

profil: Wie leben Sie jetzt ohne Ihre Frau?
Christo: Ich arbeite. Jeanne-Claude und ich sind Tatmenschen. Wir haben niemals Urlaub gemacht, wir hatten höchstens „Arbeitsferien“. Wir leben durch die Kunst. Leben und Arbeiten waren bei uns nie getrennt. Überall kleben an den Wänden noch Notizzettel von ihr. Sie lebt weiter. Da gibt es diese ununterbrochene kreative Tätigkeit. Das ist ein großes Geschenk, weil ich diese Art zu arbeiten liebe. Ich habe keine Sekunde für das Projekt „Over the River“ zu verlieren. Es gibt für mich noch so viele Dinge zu tun, Buchveröffentlichungen, Ausstellungen, Verkaufsaktionen.

profil: Können Sie sich ein Leben ohne Kunst vorstellen?
Christo: Nein! Aber das ist eine lustige Frage. Ich arbeite täglich 17 Stunden. Ohne Kunst würde ich aufhören zu atmen. Ich würde einfach sterben!

profil: Ist „Over the River“ ein künstlerisches Vermächtnis, das Sie für Jeanne-Claude zu erfüllen haben?
Christo: Aber selbstverständlich. Seit 1992 haben wir an „Over the River“ gearbeitet. Aber Jeanne-Claude und ich wären niemals fähig gewesen, dieses Projekt allein durchzuführen. Wir haben ein großes Team von Menschen, mit denen wir viele Jahre eng befreundet sind, die uns unterstützen. Überleben werden nicht Christo und Jeanne-Claude, sondern unsere Projekte. Wir haben unsere Zeichnungen an Museen und Sammler verkauft. Wenn unsere zeitlich begrenzten Projekte beendet sind, sammeln wir alles, was dazugehört: Kabel, Stoffe, Dokumente, Fotos, Maßstabsmodelle. Daraus entstehen Dokumentationen mit 350 bis 500 Teilen. Jeanne-Claude hat immer gesagt, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind und deshalb einen Ort für diese Sammlungen finden sollten. Die Smithsonian Institution in Washington D.C. hat unsere „Running Fence“-Dokumentation angekauft. Etwas Ähnliches haben wir mit dem „Verhüllten Reichstag“ vor. Es gibt annähernd 400 Ausstellungsstücke. Diese sollten in Deutschland bleiben, denn es war ja ein deutsches Projekt. Das ist für kommende Generationen eine wichtige Quelle.

profil: Jeanne-Claude wollte kein Grab. Sie hat ihren Leichnam der Wissenschaft zur Verfügung gestellt.
Christo: Ich auch, wenn ich sterbe.

profil: Warum?
Christo: Wir sind keine Anhänger irgendeiner Religion. Jeanne-Claude liebte „Imagine“ von John Lennon, vor allem die Textzeile „Imagine there’s no religion too“.

profil: Aber braucht man nicht etwas, etwa ein Grab, um zu trauern?
Christo: Nein, ganz und gar nicht. Ich trauere auch nicht, denn es gab diese ununterbrochene kreative Tätigkeit, die mich reich beschenkt hat. Die Kunst ist der Ort, an dem Jeanne-Claude und ich uns treffen.

profil: Was ist der größte Mythos über Christo und Jeanne-Claude?
Christo: Die meisten Leute glauben, wir würden im Geheimen arbeiten. Das ist völlig falsch. Wahrscheinlich gibt es keine anderen Künstler, die mehr in der Öffentlichkeit auftreten. Wir beantworten jede Frage, stellen Hunderte von Anträgen bei staatlichen Behörden. Vor Ausschüssen müssen wir unsere Projekte vorstellen und erklären. Nur so erhalten wir die Genehmigung für unsere Vorhaben.

profil: Sie haben gezeigt, dass das Bild vom einsamen, genialen Künstler, abseits des Alltags in seinem Kämmerlein arbeitend, veraltet ist. Sind Sie stolz darauf?
Christo: Nicht stolz. Für gewöhnliche Künstler ist es vermutlich ein Horror, sich mit Behörden herumschlagen zu müssen, um für das eigene Kunstwerk eine Genehmigung zu erhalten. Aber für uns hat das eine poetische Dimension. Manchmal kommen sogar Ironie und Humor dazu. Denken Sie an die amerikanischen Regierungsstellen, die jetzt über „Over the River“ entscheiden müssen, ein künstlerisches Projekt, das nur 14 Tage zu sehen sein wird.

profil: In 50 Jahren haben Sie zusammen 22 Projekte realisiert, in 37 Fällen erhielten Sie eine Absage.
Christo: Das Leben als Künstler besteht aus Risiken. Es geht uns um reale Dinge, nicht imaginäre. Aber an den nicht realisierten Projekten waren nur wir selbst schuld. Wir haben nicht klug und sensibel genug gehandelt, wir konnten den Leuten unsere künstlerischen Absichten nicht vermitteln.

profil: Sie sind in Europa geboren und aufgewachsen, leben aber seit über 40 Jahren in New York. Warum?
Christo: Ich liebe New York. Am Anfang konnte ich kein Wort Englisch. Jeanne-Claude hat immer gesagt, dass wir nach New York emigriert sind, nicht in die USA, sondern nach Manhattan. Hier geht es um das Machen. Das Leben ist anstrengend und mit Frustrationen verbunden. Aber das gehört zu unserem Leben.

profil: Wie kann man in einer Geschäftsstadt wie New York als Künstler leben?
Christo: Kunst ist ebenfalls ein Geschäft, kein Hobby. Es ist doch töricht, das Geschäftsleben schlechtzureden, denn die Kunst ist wie das Business Ausdruck menschlicher Energie. Beide tragen irrationale Züge in sich. Selbst die verrückteste Kunst hat eine Beziehung zum Geschäft. Das Geschäft gehört zum Leben.

profil: Es gibt die Vorstellung, dass der -kreativ-künstlerische Prozess unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sein sollte.
Christo: In der Kunst steht es einem frei, kreativ zu sein. Aber auch im Geschäftsleben gibt es diese Freiheit. Heutzutage betonen wir die Gegensätzlichkeit von Kunst, Kreativität und Geschäftsleben. Aber in vielerlei Hinsicht sind sich diese Bereiche sehr ähnlich. Zum Beispiel kann Kunst nicht existieren, ohne konsumiert zu werden. Ich sage immer zu jungen Künstlern: „Verkauft eure Arbeiten so schnell wie möglich! Eure Kunst existiert nicht, wenn sie nicht konsumiert wird!“

profil: Ein Künstler sollte aber nicht immer gleich an die Verwertung seines Werks denken, oder?
Christo: Sie formulieren eine sehr romantische Vorstellung, in der es überhaupt keine Kunst geben kann. Für den Künstler ist es wichtig, dass er Spaß im kreativen Prozess hat. Unsere moderne Gesellschaft kann sich den Künstler nur als Außenseiter vorstellen. Aber das ist ein Bild aus Hollywood. Natürlich gibt es Künstler, die Alkoholiker waren, aber Alkoholiker gibt es auch im Geschäftsleben.

profil: Wann wussten Sie, dass Sie Künstler werden wollten?
Christo: Ich danke meinen Eltern zutiefst. Schon mit fünf oder sechs Jahren habe ich immer gezeichnet. Meine Mutter bemerkte das und sorgte dafür, dass ich privaten Unterricht bekam, so wie andere Kinder zum Klavierunterricht gehen. Ich habe das geliebt, Ölbilder und meine eigene Mal-palette.

profil: Haben Sie als Kind nicht auch Fußball gespielt oder Sandburgen gebaut?
Christo: Als ich ein kleiner Junge war, verkehrten in unserer Familie viele Künstler, Architekten, Schriftsteller und Schauspieler. Mein Bruder war ein berühmter Schauspieler. Ich spielte gerne Schach, manchmal Basketball, aber Fußball überhaupt nicht. Ich fuhr ein wenig Ski, aber ich habe damit aufgehört, als ich in den Westen ging.

profil: Stimmt es, dass Sie als junger Student in Bulgarien Potemkin’sche Dörfer bauen mussten?
Christo: Ich studierte in den fünfziger Jahren Kunstgeschichte in Sofia. Die einzige Verbindung nach außen war der berühmte Orient-Express, und die Regierung war sehr daran interessiert, dass die Menschen, die im Zug saßen und die Landschaft sahen, den Eindruck einer funktionierenden Landwirtschaft hatten. Als Kunststudenten mussten wir am Wochenende in die Kolchosen fahren und den Bauern erklären, wie man die landwirtschaftlichen Geräte, die Fahrzeuge und Heuhaufen so aufstellt, dass alles sauber und nach Wohlstand aussah. Aber ich habe an diesen furchtbaren Wochenenden etwas Wichtiges für mich gelernt: wie man mit ganz normalen Menschen außerhalb der akademischen Welt spricht. Das waren gewöhnliche Bauern, und ich habe etwas über Landschaften erfahren und ihre Gegebenheiten.

profil: Können Sie sich vorstellen, etwas Hässliches zu verhüllen, zum Beispiel ein Atomkraftwerk?
Christo: Wir wählen nie absichtlich hässliche Orte aus. Aber es müssen für uns besondere Plätze sein, die eine Verbindung zu unserem Leben und zu unserer Kunst haben. Jedes Projekt hat seine eigene Geschichte, aber das ist kein Geheimnis.

profil: Ich möchte Ihnen noch eine persönliche Frage stellen …
Christo: Nicht über Politik, Religion und andere Künstler!

profil: Haben Sie niemals Krisen?
Christo: Krisen? Wir haben ständig Krisen!

profil: Aber darüber hört und liest man niemals etwas.
Christo: Jedes Projekt hat seine eigene Krise, manche kosten eine Menge Geld. Für „Umbrellas“ 1991 hatten wir 1760 gelbe Schirme in Kalifornien aufstellen und 1340 blaue nach Japan schicken lassen. Der japanische Beamte im Hafen von Hitachi öffnete die Verpackung der Schirme, und was war zu sehen? Da war ein gelber statt einem blauen! Oder eine andere Anekdote: 1983, bei den „Surrounded Islands“ vor Miami, kam eine ältere Dame und fragte Jeanne-Claude, wer dafür verantwortlich sei. Die Inseln seien das Schrecklichste, was sie je im Leben gesehen habe, das sehe wie Pepto Bismol aus, ein bonbonrosafarbenes Mittel gegen Durchfall, Magenschmerzen und Sodbrennen. Kurze Zeit später sprachen einige Herren Jeanne-Claude an: Die Inseln seien das schönste Kunstwerk, das sie je zu Gesicht bekommen hätten, sie würden Pepto Bismol ähneln. Sie sehen, ein Kunstwerk, zwei Sichtweisen.

profil: Sie haben einen Sohn. Unterstützt er Sie bei Ihren Projekten?
Christo: Unser Sohn geht seine eigenen Wege. Er ist ein unromantischer Aktivist, kämpft für Menschenrechte, ist Tierschützer. Wenn Sie mit ihm telefonieren, würde er Ihnen zwei Stunden lang erklären, was alles falsch läuft. Wissen Sie, er will die Welt retten. Zum Glück ist er kein Banker geworden.