Hochschaubahn und Reitvorschrift

Olympia: Die problematische Nahbeziehung von Kunst und Sport

Olympia. Die problematische Nahbeziehung von Kunst und Sport

Drucken

Schriftgröße

Etwas Ungewöhnliches geschah im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2012. Mehr noch als Höhen, Weiten und Sekundenbruchteile bewegte in den vergangenen Wochen ein Kunstwerk die Diskussion um das Weltsportereignis: Die 115 Meter hohe Endlosschleifenskulptur im olympischen Park, erdacht und entworfen von einem der international renommiertesten Künstler der Gegenwart, dem indisch-britischen Bildhauer Anish Kapoor, geriet schon in seiner Entwurfsphase in die internationale Kritik - und das möglicherweise mehr als irgendein Bau seit dem Eiffelturm (siehe auch profil 20/2012). Obwohl nur gut halb so hoch wie das französische Wahrzeichen der Weltausstellung von 1889, ist Großbritanniens jüngstes und größtes Kunstwerk im öffentlichen Raum einerseits der Blickfang der bevorstehenden Olympischen Spiele, andererseits bereits jetzt Gegenstand negativer Erregungen. Hatten gegen die französische Ikone der Moderne die berühmtesten Geister ihrer Zeit, darunter Alexandre Dumas, Guy de Maupassant und Charles Gounod, verbale Geschütze wie "unnötig und ungeheuerlich“, "schwindelerregend, lächerlich“ oder "düsterer Fabrikschlot“ aufgefahren, so schwirren nunmehr ähnlich vernichtende Vergleiche durch den Medienwald. Einer gigantischen "orientalischen Wasserpfeife“ oder einer "aufgestellten Hochschaubahn“ gleiche der begehbare Turm aus rotem Stahl, aber auch "Godzilla“, jene durch atomare Mutation entstandene Horrorkreuzung aus Saurier, Wal und Gorilla, wurde zum Vergleich bereits herangezogen.

Der Name dieser "Mischung aus Skulptur und Hochbau“, wie Anish Kapoor selbst es formuliert, weckte weitere Unsicherheitsfantasien: "ArcelorMittal Orbit“ bezieht sich auf das Unternehmen des reichsten Briten, Lakshmi Mittal, der geschätzte 24 Millionen Euro in den exzentrischen Aussichtsturm investiert hat. Worauf genau der Zusatz "Orbit“, also die Umlaufbahn eines Objekts um einen Himmelskörper, in diesem Zusammenhang anspielen soll, blieb vorerst ungeklärt. So umstritten also Form, Zweck oder Bedeutung dieser ineinander verdrehten roten Stahlstreben sein mögen, so folgen sie doch einer Sehnsucht, welche die größte Sportveranstaltung der modernen Welt, die Olympischen Spiele, von Anfang an begleitete. Es war der französische Adelige Pierre de Coubertin, der 1894 das Internationale Olympische Komitee (IOC) gründete und 1896 die ersten Spiele der Neuzeit in Athen organisierte; er träumte von einem Ereignis, das die Welt des Sports mit jener der Kunst vereinigen sollte, getreu dem antiken Ideal von einem gesunden Körper in einem gesunden Geist.

Es dauerte 18 Jahre, aber 1912 war es schließlich so weit:
Im Rahmen der Olympischen Spiele in Stockholm wurden erstmals auch Kunstwettbewerbe durchgeführt. Baron de Coubertin selbst, der übrigens auch die fünf Ringe als olympisches Symbol erfunden hatte, beteiligte sich unter dem Pseudonym "Georges Hohrod und Martin Eschbach“ mit einer "Ode an den Sport“ und gewann damit die erste olympische Goldmedaille für Literatur. Auch in den Sparten Architektur, Musik, Malerei und Bildhauerei wurden ab sofort per Gremienbeschluss Medaillen vergeben.

Die eingereichten Arbeiten durften vorher nicht publiziert worden sein und mussten Sportbezüge aufweisen. So gewann etwa der österreichische Metallgrafiker Edwin Grienauer in der Sparte "Medaillen und Plaketten“ 1928 Gold und 1948 Bronze für Sportmedaillen. Bekannter wurde er später mit der zwischen 1951 bis 2002 gültigen Ein-Schilling-Münze, für die er die Wertseite gestaltet hatte.

Nachdem die Olympischen Spiele während des Ersten Weltkriegs ausgefallen waren und auch 1920 im kriegsgebeutelten Belgien die Kunst nur ein bescheidenes Randdasein gefristet hatte, wurde diese 1924 in Paris, zur Hochblüte der Avantgarde, erstmals tatsächlich ernst genommen. 193 Künstler hatten Arbeiten eingesandt, darunter auch drei Russen, obwohl die Sowjetunion an dem "bourgeoisen“ Sportspektakel gar nicht teilnehmen wollte. Der Aufschwung setzte sich 1928 in Amsterdam fort, als weit über 1000 Künstler Arbeiten einreichten. Als einer der noch heute - zumindest unter Literaturwissenschaftern - Bekannten erhielt der Deutsche Rudolf G. Binding dort die Silbermedaille für ein lyrisches Werk, das den skurrilen Titel "Reitvorschrift für eine Geliebte“ trug.

Als die Weltwirtschaftskrise einsetzte, reduzierte sich die Zahl der Athleten merklich; die Zahl der Künstler blieb erstaunlich konstant in Zeiten, die sich auch politisch bereits stark verdüstert hatten. Die Goldmedaille in Literatur wurde 1932 in Los Angeles dem deutschen Himalaya-Bergsteiger Paul Bauer für seinen Bericht "Am Kangehenzonga (sic) - Kampf um den Himalaya“ zugesprochen. Bauer avancierte in der Folge zum Beauftragten Nazi-Deutschlands für die Gleichschaltung des NS-Bergsteigerwesens und war nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1990 unermüdlich tätig in Sachen "Einsatz und Hilfe für unsere Kriegsverurteilten“.

Schon 1912 hatte es Vorschläge gegeben, weitere Kunstsparten, vor allem neue Medien wie Tanz, Film und Fotografie, zu berücksichtigen. Diese Vorstöße scheiterten immer wieder an den wenig kunstaffinen IOC-Gewaltigen. Es blieb bei den traditionellen Gattungen.

Die Österreicher unter den Kunst-Olympioniken waren übrigens alles andere als erfolglos. Nicht nur der erwähnte Edwin Grienauer wurde einer Medaille für würdig erachtet, weitere acht Österreicher, darunter auch Grienauers Medailleurskollege Oskar Thiede, reüssierten im Lauf der Jahrzehnte. Die angesehenste Auszeichnung holte sich der Architekt Hermann Kutschera: Der gebürtige Wiener, Jahrgang 1903, war bis 1930 beim berühmten Clemens Holzmeister beschäftigt, danach selbstständig tätig. Als für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin zuerst innerhalb von Österreich Teilnehmer für die Sparte Architektur gesucht wurden, reichte er den Entwurf einer Sprungschanze mit Stadion ein. Letzteres sollte dem Zuschauer Ansicht und Analyse des gesamten Bewegungszyklus, der Anlauf-, Absprung-, Flug- und Landephase jedes Springers erlauben. Das Projekt wurde in Berlin auf Anhieb mit Gold prämiert. Leider gingen Kutscheras Pläne im Zweiten Weltkrieg verloren, doch wurden seine Ideen in der Entwicklung vieler späterer Sprungstadien berücksichtigt. Kutschera war auch an der Planung der Wiener Stadthalle und des Flughafens Schwechat beteiligt; zu seinem spektakulärsten Bau wurde aber der 1956 konzipierte Neubau der "Jubiläumswarte“ im 16. Bezirk, der laut Architekturhistoriker Friedrich Achleitner "den Fortschrittsoptimismus jener Zeit liebenswürdig unverhüllt ausdrückt“. 1936 brachte Medaillen in den Bewerben Lyrik (Hans Stoiber) und Malerei (Rudolf Eisenmenger, später als Designer des Eisernen Vorhangs der Staatsoper bekannt). Zwei weitere Österreicher, Hermann Stiegholzer und sein Partner Herbert Kastinger, erhielten Bronzemedaillen für ein Sportzentrum in Wien. Die Architektur blieb eine österreichische Domäne: 1948 gewann in London Adolf Hoch Gold für eine Skisprungschanze auf dem Cobenzl, Alfred Rinesch wurde mit Silber für ein Wassersportzentrum in Kärnten geehrt.

Das nationalsozialistische Deutschland nutzte die Olympischen Spiele 1936 in Berlin zur rückhaltlosen Ästhetisierung des Sports, der dem Regime außerdem als Propagandainstrument diente. Mit gewaltigem finanziellem Aufwand produzierte Regisseurin Leni Riefenstahl ihre beiden bis heute heftig umstrittenen "Olympia“-Filme (siehe Kasten Seite 90) und machte sich mit Rückendeckung Hitlers und Goebbels’ zur Zeremonienmeisterin der Spiele. Wenig erfolgreich waren deutsche Künstler jedoch in den Medaillenbewerben, die von unabhängigen Gremien vergeben wurden. Arno Breker, der Bildhauer des "arischen“ Schönheitsideals, musste sich für seinen "Zehnkämpfer“ mit einer Silbermedaille begnügen, während Werner Egk, der Gold für eine "Olympische Festmusik“ gewann, ideologisch nicht unbedingt ein Aushängeschild der Nazis war.

Im Bestreben, die olympische Idee auch auf nicht in Zentimetern und Zehntelsekunden erfassbare sportliche Leistungen auszuweiten, war schon 1924 ein Preis für Alpinismus, ein "Prix olympique d’alpinisme“, vergeben worden. Als diesen 1936 das Schweizer Ehepaar Hettie und Günter Dyrenfurth für ihre Himalaya-Expeditionen von 1930 und 1934 erhielt, wurde die Jüdin Hettie boykottiert. Ein Stein des Anstoßes in der Beurteilung der Kunstbewerbe war der professionelle Status der Künstler gegenüber den Athleten, über deren Amateurhaftigkeit das IOC strikt wachte. Bei den Alpinismus-Preisen waren beispielsweise Bergführer ausgeschlossen. Und oft saßen in den Jurys Autoritäten wie die Schriftstellerin Selma Lagerlöf oder der Komponist Igor Strawinski, deren Urteile dennoch meist eher mittelmäßigen Talenten zum Sieg verhalfen. Bis 1948 blieb die Kunst integrierender Bestandteil der olympischen Bewerbe. Erst 1949, im Rahmen eines IOC-Meetings in Rom, wurde beschlossen, Künstler von Medaillenbewerben auszuschließen; stattdessen empfahl man kulturelle Rahmenveranstaltungen.

Generalarchitekt Günter Behnisch forderte bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München mit seinem Konzept heiterer, demokratischer Spiele eine "Schönheit der Transparenz“ - den Palästinenser-Überfall auf die israelische Mannschaft konnten aber auch seine Utopien nicht verhindern. Behnischs Vision eines Bauens ohne Status- und Machtsymbolik fand Ausdruck in dem gemeinsam mit Frei Otto gestalteten Olympiastadion mit seinem schwebenden Dach - bewusst eine Gegenhaltung zum rigiden faschistischen Stadion in Berlin 1936. Behnischs Konzept sah vor, dass man bestimmte aufgewertete Zonen für "Künstlerarchitekten“ reservierte. Davon profitierten auch Österreicher wie Hans Hollein, der mit seinen "Media-Linien“ langfristig Wirkung zeigte (siehe Interview Seite 89), und der kürzlich verstorbene Günther Domenig, der gemeinsam mit Eilfried Huth ein Restaurant und einen Pavillon in die Schwimmhalle baute. Als 1976 Innsbruck erneut zum Austragungsort der Olympischen Winterspiele wurde, gab es eine Reihe von Ideen für künstlerische Projekte, die meist schon in der Planungsphase stecken blieben. So entwickelte die Wiener Architektengruppe Coop Himmel-b(l)au, angespornt von den Tiroler Künstlern Josef Lackner und Paul Flora, Landschaftskonzepte wie Luftballons über den Wettkampfstätten und nächtliche Lichtkegel von der Nordkette quer über die Stadt bis zum Patscherkofel. Den Olympiafunktionären teilten sich solch avancierte Konzepte nicht mit. Abbildungen von Planzeichnungen in der "Tiroler Tageszeitung“ sind die einzigen Relikte dieser nicht realisierten Projekte.

Zuletzt wurde die Kunst bei den Olympischen Spielen auf immer aufwändigere Eröffnungsspektakel reduziert. Als vor vier Jahren in Peking 15.000 zu Tänzern und Akrobaten ausgebildete Soldaten und 2008 Trommler anzutreten hatten, setzte die alte Debatte vom ungeklärten Verhältnis zwischen Sport und Kultur wieder ein. Wieweit London mit seinen erklärten Nachhaltigkeitsspielen in Zeiten der Finanzkrise und des Thronjubiläums der Queen nun mit Anish Kapoors eigenwilliger "Hochschaubahn“ reüssieren wird, werden die Besucher beurteilen müssen. Die Frage ist aber auch, ob darauf viele Olympia-Touristen Lust haben werden. Immerhin kostet das Familienticket für die Auffahrt mehr als 90 Euro.