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Kairo, 10. Februar 2011, 21.45 Uhr. Hosni Mubarak tritt vor die Kameras, starr und leichenblass. „Ich spreche wie ein Vater zu seinen Söhnen und Töchtern“, beginnt er seine Ansprache. Zwar werde er, wie versprochen, im September nicht mehr als Präsident kandidieren, aber: „Ich lasse mich vom Ausland nicht unter Druck setzen und werde die Flagge bis ans Ende tragen.“

Keine 24 Stunden später gibt Vizepräsident Omar Suleiman den Rücktritt des Präsidenten bekannt.

Die dunkle Ära des Regimes von Hosni Mubarak ist zu Ende, das Volk hat gesiegt. Niemanden ließ die 18 Tage andauernde Revolution am Nil kalt. Aber in die allgemeine Bewunderung für den Mut, die Hingabe und den Sieg der Demokratiebewegung auf dem Kairoer Tahrir-Platz und in den Straßen der ägyptischen Städte mischen sich große Sorgen:
Was kommt nun, nachdem der Pharao seinen Thron geräumt hat? Wie sieht die Zukunft dieses neuen Ägyptens aus?

Wie unübersichtlich die Lage im wichtigsten und größten Land der arabischen Welt ist, zeigten die Ereignisse von Donnerstag der vergangenen Woche. Dass Mubaraks Abdankung am Abend dieses Tages erfolgen würde, hatten alle erwartet: die Spitzen der ägyptischen Politik, hochrangige Armeeoffiziere, die internationalen Satellitenstationen bis hin zum US-Geheimdienst CIA und Präsident Barack Obama – doch sie alle irrten. Mubarak warf erst 24 Stunden später das Handtuch und überraschte damit erneut die gesamte Welt. Die Unübersichtlichkeit bleibt also. Viele Fragen sind offen. Was wird das Militär mit der ihm nun übertragenen Macht anfangen?

Wenige Minuten nach dem Abgang Mubaraks trat ein ägyptischer General im Fernsehen auf. Er zollte Hosni Mubarak Respekt für seine Dienste an Ägypten, würdigte die Getöteten der vergangenen Wochen und übernahm im Namen des Militärs die Verantwortung für das Land – ohne jedoch zu erklären, was die Armee in den kommenden Wochen und Monaten vorhat. profil versucht vier mögliche Varianten der unmittel­baren und ferneren Zukunft Ägyptens herauszuarbeiten.

Ein ägyptisches Tian’anmen

Im Unterschied zu den osteuropäischen Ländern wollte die chinesische Führung nicht weichen: Die Demokratiebewegung wurde am Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen. Theoretisch ist ein solches Massaker auch in Kairo noch nicht vollends auszuschließen. Sollten sich die Ägypter mit dem Abdanken Mubaraks nicht zufrieden geben, weiter für das Ende einer Diktatur auf die Straße gehen und würden sich mit der Zeit tatsächlich chaotische Zustände einstellen, dann wäre ein gewaltsames Vorgehen des Militärs denkbar.

In der aktuellen Lage, in der Millionen Menschen in Kairo ihren Sieg über den Diktator feiern, erscheint dies unwahrscheinlich. Zunächst ist die Armee eine weitgehend respektierte Institution, die dafür ausgebildet wurde, die Grenzen Ägyptens zu verteidigen, sicher aber nicht dafür, gegen das eigene Volk vorzugehen. Unberechenbar bleiben jedoch die hochrangigen Offiziere, die ihre Stellung erhalten wollen und wirtschaftliche Interessen verfolgen. Einer der jetzt wohl einflussreichsten Soldaten, der berühmte Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, wird von US-Diplomaten in einem WikiLeaks-Dokument als ein Mann dargestellt, der sich starr „gegen jeden politischen Wandel wehrt“.

Den alten Kadern an der Spitze der Armee und des Staates, die noch in Moskau ihr Soldatenhandwerk lernten – bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Ägypten mit der Sowjetunion verbündet –, steht eine junge Offiziersgeneration gegenüber, die von den Amerikanern ausgebildet, trainiert und letztlich auch politisch geprägt wurde. Seit Beginn der Protestbewegung stehen Tausende Rekruten in engem Kontakt mit den revoltierenden Mubarak-Gegnern, oft teilen beide Seiten dieselben Sorgen, täglich sah man Szenen der Verbrüderung zwischen Zivilisten und Rekruten. Die Führung könnte sich also nicht sicher sein, dass die Soldaten vor Ort allfälligen Schießbefehlen Folge leisten würden.

Eine Niederschlagung der Demokratiebewegung wäre aber auch geopolitisch fatal. Die ägyptische Armee ist völlig von den USA abhängig: finanziell und waffentechnologisch. Einem Blutbad an der Bevölkerung und der Etablierung einer Militärdiktatur würde die Obama-Regierung nie und nimmer zustimmen.

Wahrscheinlichkeit dieser Variante: gering

Modell Khomeini-Revolution

Seit Beginn der demokratischen Revolte geht das Gespenst einer Machtübernahme durch die Muslimbruderschaft um. Vor allem Israel und die Rechte in den USA schüren Ängste vor einem ägyptischen Gottesstaat
à la Iran. Es stimmt: Auch 1979, als der persische Schah von einer breiten pluralistischen Volksbewegung hinweggefegt wurde, dachte niemand daran, dass die persische Revolution bald von den Mullahs gekidnappt werden würde.

Eine Khomeini-Revolte ist in Ägypten zum gegenwärtigen Zeitpunkt dennoch kaum denkbar, aus mehreren Gründen: Die Armee, die nun die Macht im Land übernommen hat, ist traditionell laizistisch und würde mit allen Mitteln den Weg in eine Theokratie blockieren. Aber auch in der Demokratiebewegung spielte die Muslimbruderschaft, diese 1928 gegründete antikolonialistische Bewegung, eine nicht sehr bedeutende Rolle. Keiner ihrer Vertreter versuchte, die Massen auf dem Tahrir-Platz für die Anliegen der Bruderschaft einzunehmen, die Stimmung war weder während der Revolte noch nach dem Sieg der Bewegung islamistisch geprägt, auf den Straßen waren kaum Bärtige zu sehen.
Zudem hat die Bruderschaft seit Jahrzehnten der Gewalt abgeschworen, die Führung dieser Bewegung der verschiedenen Strömungen des politischen Islamismus präsentiert sich heute als durchwegs moderat: Sie propagiert Demokratie, Menschenrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit. Die jüngere Generation orientiert sich an der türkischen Regierungspartei AKP.
Diese Eindrücke spiegeln sich auch in den Zahlen wider: In einer aktuellen Umfrage des Washington Institute for Near East Policy unterstützen lediglich zehn Prozent die Muslimbruderschaft, einen aus ihren Reihen würde nicht mehr als ein Prozent zum Präsidenten wählen. Auf die Frage über die Gründe der Revolte gab die breite Mehrheit der befragten Ägypter Korruption, Armut und Mangel an Demokratie an. Nur sieben Prozent glauben, die Revolution sei ausgebrochen, weil das Mubarak-Regime „nicht islamisch genug“ ist. Die Muslimbrüder wollen vorläufig keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken.

Es bleibt vorerst unklar, wie das Militär mit seiner Macht umgehen wird. Sollte eine neue Diktatur hergestellt werden und die Muslimbruderschaft – wie in den vergangenen Jahrzehnten vom Mubarak-Regime – verfolgt und geächtet werden, dann könnte sich diese heute gemäßigte, religiös-konservative Bewegung radikalisieren und in einer weiteren Revolution die Macht an sich reißen. Diese Perspektive wäre aber, wenn überhaupt, erst in Jahren aktuell.

Wahrscheinlichkeit dieser Variante: kurzfristig äußerst gering, langfristig gegeben

Autoritäre Halbdemokratie

In den vergangenen Wochen hat das Regime alles versucht: halbherzige Zugeständnisse an die Demonstranten, Terror gegen die Protestbewegung durch Polizei und bezahlte Schlägerbanden, die sich als Mubarak-Anhänger ausgaben, Verfolgung und massive Behinderung der internationalen Berichterstattung – alles letztlich erfolglos. Die rebellierenden Massen schwollen an, der Ruf „Mubarak verschwinde!“ wurde immer lauter – bis die Armee den Diktator fallen ließ. Nun hat diese das Sagen im Land.

Es ist abzusehen, dass sie nicht freiwillig jene Herrschaft abgeben wird, die sie im Grunde seit sechzig Jahren innehat, und dass sie versuchen wird, die Demokratisierung des Landes zu bremsen. Wird es den Generälen gelingen, ähnlich wie vor dem Rücktritt Mubaraks durch Spaltung der ohnehin recht unvorbereiteten Opposition, durch selektive Repression, durch taktische Manöver die tatsächliche und völlige Übergabe der Staatsmacht an demokratisch gewählte Repräsentanten der ägyptischen Zivilgesellschaft zu verhindern?

In dieser Perspektive würde sich eine Teilung der Macht ergeben, in der die Armee ihre dominante Rolle nicht einbüßen wird. Wer in dieser Konstellation stärker wäre, die Armee oder die Kräfte der Demokratie, hängt davon ab, wie stabil die Sehnsucht des Volks nach einem wirklich freien Ägypten ist und wie sehr es für dieses Ziel mobilisiert bleibt. Eine solche Entwicklung würde in die Etablierung einer Art Halbdemokratie oder einer „gelenkten Demokratie“, wie man die Verhältnisse in Russland nennt, münden. Die Armee würde die Zügel in der Hand behalten. Für diese ­Variante spricht das Interesse des Westens an Stabilität und Sicherheit – vor allem auch für Israel.

Dagegen spricht die Breite und Tiefe der revolutionären Bewegung, die alle Schichten der Bevölkerung umfasst, sowie das massenhafte Bewusstsein, dass es bei dieser Revolte eben nicht nur um Hosni Mubarak geht, sondern um einen genuin demokratischen Wandel. Die führenden Oppositionspolitiker, die in den kommenden Monaten eine Rolle spielen werden, warnten bereits Freitagabend das Militär. „Die Macht muss nun so schnell wie möglich an das Volk abgegeben werden“, sagt etwa der Friedensnobelpreisträger Mohammed El-Baradei. Eines ist freilich sicher: Auf lange Sicht verspricht solch eine Herrschaftsform keine Stabilität.

Wahrscheinlichkeit dieser Variante: hoch

Demokratie und Freiheit

Das Militär steht unter Druck, alle Welt blickt gen Ägypten. Werden die Generäle, wie von der Straße und der Obama-Regierung gefordert, nicht nur Dialog mit Oppositionspolitikern, sondern auch mit den lebendigen Kräften der Bewegung beginnen? Werden sie sich auch den Repräsentanten der Jugendrevolte öffnen?

Wenn ja, könnte die Entwicklung so aussehen: Das Militär etabliert wie seinerzeit in den samtenen Revolutionen in Osteuropa einen „runden Tisch“, der von der Diktatur zur Demokratie führte. Oder aber die Armee entscheidet sich für eine Übergangsregierung, in der alle wesentlichen Strömungen der ägyptischen Gesellschaft vertreten sind – einschließlich der Muslimbrüder. Unter diesen Vorzeichen kann der Wandel rasch erfolgen: Das Scheinparlament des Mubarak-Regimes wird aufgelöst, der Ausnahmezustand aufgehoben, Presse-, Versammlungs-, Meinungs- und Parteienfreiheit werden hergestellt. All das dient der Vorbereitung einer neuen Verfassung und freier Wahlen – die im besten Fall aber nicht zu bald abgehalten werden sollten. Denn nach 30 Jahren Unterdrückung müssen die unterschiedlichen politischen Strömungen und Parteien erst die Möglichkeit bekommen, sich zu organisieren und ihre Programmatik in Freiheit zu entwickeln. Es muss genügend Zeit gegeben werden, dass sich die Institutionen eines Rechtsstaats zumindest rudimentär ausbilden können. Ohne diese könnten die Wahlen sogar zu autoritären Verhältnissen führen, wie das Beispiel vieler afrikanischer Staaten zeigt.

Doch ist die Armee tatsächlich bereit, die Privilegien, die sie seit Jahrzehnten genießt, mit einem Schlag aufzugeben? Fest steht jedenfalls: Die westlichen Regierungen, die sich mit der Unterstützung der Autokraten in der Region in den Augen der internationalen Öffentlichkeit zuletzt so blamierten, werden nicht erneut ihr Gesicht verlieren wollen. Mit einer gewissen Unterstützung der Demokratisierung des Landes durch den Westen können die Ägypter also rechnen. Dieses optimistische Szenario wäre die Erfüllung der Hoffnungen der Bewegung, die mit dem Abgang Mubaraks erst einen Etappensieg errungen hat.

Wahrscheinlichkeit dieser Variante: nicht sehr hoch

Mehr Hintergrundinformationen und Interviews zu der Revolution in Ägypten finden Sie im aktuellen profil 2011/07!