Diktatur der Befreiung

Otto Mühl ist tot: Diktatur der Befreiung

Aktuell. Der Künstler Otto Mühl ist Samstag Früh im Alter von 87 Jahren verstorben. Ein Rückblick auf die Mühl-Kommune

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Von Horst Christoph

Ein kräftiger Mann steht drohend neben einem Kind. Der Bub ist bockig, er will nicht singen und tanzen. Er will nicht tun, was andere Kinder um ihn herum, teils freudig, teils pflichtschuldig, schon getan haben. Er will nicht gehorchen.

Der Mann, den alle hier nur Otto nennen, wird böse; er droht dem Kleinen, schüttet ihm Wasser über den Kopf und erklärt den umstehenden Frauen und Männern, dass er das am nächsten Tag wieder tun werde, dass der Bub zur Lockerheit erzogen werden müsse, die eine Freiheit bedeute, ohne die er Gefahr laufe, kriminell zu werden.

Diese Szene gehört zu den verstörendsten Momenten des Films „Meine keine Familie“, der am 17. April als profil-Premiere im Wiener Gartenbaukino zu sehen war und ebenda nach wie vor läuft. Regisseur Paul-Julien Robert, geboren 1979, arbeitet darin die ersten zwölf Jahre seines Lebens auf, die er in der Kommune Friedrichshof im Burgenland verbrachte (siehe Interview hier). Dort hatte der Wiener Aktionskünstler Otto Mühl seit 1972 eine rasch wachsende Zahl junger, von den Ideen der 1968er-Bewegung faszinierter Menschen in einer „therapeutischen Gruppe“ versammelt, mit der erklärten Absicht, die „durch die Kleinfamilienerziehung geschädigten Gruppenmitglieder“ wieder gesund zu machen. Das Ziel des Kommunenführers: „die Überwindung dieser autoritären Generation“, welcher der Weltkriegsteilnehmer Mühl freilich selbst angehörte.

Väter willkürlich zugeteilt
Statements wie dieses fand Robert in den erhaltenen Videozeugnissen der Kommune, die ihre Aktivitäten fast täglich selbst dokumentiert hatte. Mit diesem Archivmaterial objektiviert der Regisseur seine persönliche, sehr emotionale Erinnerungsarbeit, die mit der Suche nach seinem leiblichen Vater begann. Die Väter der am Friedrichshof geborenen Kinder wurden nämlich unter dem Gebot der „freien Sexualität“ willkürlich zugeteilt. Pauls juristischer Vater (zwei weitere Kommunarden waren als mögliche leibliche Väter in Frage gekommen) hatte 1984 am Friedrichshof Selbstmord begangen.

Wie es sich anfühlte, in diesem autoritären, nur scheinbar „befreiten“ Umfeld aufzuwachsen, davon berichtet „Meine keine Familie“ mit überraschender Sanftheit. Aus seiner kritischen Sicht auf den Kommunenboss macht Paul-Julien Robert, der einst sogar den ersten seiner beiden Vornamen von Mühl persönlich erhielt, kein Hehl: „Die älteren Kinder haben früher als ich begriffen, dass Otto Mühl bis zu einem gewissen Grad auch krank und verrückt war. Dagegen lehnten sie sich auf. Was dann passierte, drehte die Verhältnisse um: Eines der Mädchen wurde, weil es schon als Teenager offen aussprach, wie tyrannisch Mühl sich verhielt, ihrerseits für verrückt erklärt, der Lüge bezichtigt. Es hat Jahre gedauert, bis die Leute wirklich bereit waren, sich anzuhören, was den Mädchen in der Kommune geschehen ist.“

Dennoch dreht sich „Meine keine Familie“ nicht primär um Mühl. Die scheuen Gespräche des Regisseurs mit seiner Mutter, die ihn nach drei Jahren am Friedrichshof geboren hatte und heute in der Schweiz lebt, sind das eigentliche Zentrum des Films. In der gegenseitigen Fassungslosigkeit von Mutter und Sohn bricht das Dilemma der Mühl-Kommune auf; dabei wird noch einmal klar, wie es möglich sein konnte, dass so viele, die in den 1980er-Jahren am Friedrichshof als Besucher ein- und ausgingen, nichts von dem, was dort tatsächlich vor sich ging, realisierten.

Gewalt und Willkür verschwiegen
War der Friedrichshof in seinen frühen Jahren auch ein Ort sexueller Phantasien älter werdender Post-68er, so öffnete er sich in den 1980er-Jahren mit seiner Aktionismus-Sammlung, die inzwischen auch in eigenen Ausstellungsräumen öffentlich gemacht wurde, bald zu einem Schauplatz der Kunst. Ein Vernissagenfoto aus jener Zeit zeigt, zwischen den Latzhosen-Kommunarden, jede Menge Vertreter der Wiener Kunstöffentlichkeit: von Dieter Ronte, dem damaligen Direktor des Museums moderner Kunst, über Albertina-Chef Konrad Oberhuber bis zum legendären Kulturstadtrat der Nachkriegszeit, Viktor Matejka. Mühls Ausbrüche von Gewalt und Willkür wurden in diesem Rahmen peinlichst verschwiegen.

Die jeden Samstagabend öffentlich abgehaltenen Plenarveranstaltungen führten rund um den sich als Clown-Daddy produzierenden Mühl eine lustig tobende Kinderschar vor. Das letzte Wort hatte allerdings auch in diesem Zusammenhang „immer Otto“, wie es im Film heißt, und das Ziel der das Spiel durchschauenden Kinder war es, „Mitläufer zu werden“. Nach dem „Pow Wow“ wurden die Kinder zu Bett geschickt, und der innere Kreis der Kommune feierte mit den Gästen bei erlesenen toskanischen Weinen weiter. Zeichenblätter wurden verteilt, man begann einander zu porträtieren. Die von den Gästen angefertigten Skizzen wurden von Theo Altenberg, dem Leiter der Friedrichshofsammlung, der auch die Funktion des Zeremonien- und Propagandaministers hatte, eingesammelt. Mühls Zeichnungen der Gäste wurden diesen überreicht. Den größten Teil der Kommunenmitglieder konnte man allenfalls als Schatten hinter den Fenstern der Arbeitsräume wahrnehmen.

Die am Friedrichshof herrschende Hierarchie ließ sich nur erahnen: Mit hilflosem Lächeln meinte etwa die für die Kunsterziehung der Kinder zuständige Pädagogin damals in einem Gespräch, dass es „eben nicht möglich“ sei, sich die gerade in Wien laufende Ausstellung Maria Lassnigs, für die sie sich glühend interessierte, zu sehen. In Roberts Film liefert Mühl die Begründung dafür: Ziel der Kommune sei es gewesen, einen neuen Kunstbegriff zu schaffen, „wie es ihn in der gesamten Kunstgeschichte noch nie gegeben hat“. Da konnte alles, was außerhalb der Kommune vor sich ging, nur stören.

Der Fall Mühl bleibt ein Paradebeispiel für das problematische Verhältnis zwischen Kunst und Moral. Otto Mühl ist zweifellos einer der bedeutenden österreichischen Künstler der vergangenen Jahrzehnte. Er war der wohl Vielseitigste der Wiener Aktionisten. Noch die Fotos seiner Aktionen vermitteln eine irritierende Mischung aus Schock, Witz und Ironie. Zu Recht sind sie in Weltklasse-Museen vertreten. Wie die Arbeit der anderen zentralen Vertreter des Wiener Aktionismus – Nitsch, Brus, Schwarzkogler – wurde auch Mühls Kunst öffentlich angefeindet; dies rief wütende Verteidiger auf den Plan, die sich als Galeristen, Journalisten und Sammler zu dieser Kunst bekannten und damit auf Unverständnis, nicht selten auch auf offene Ablehnung stießen. Ihnen allen fiel es schon deshalb schwer, die massiven Vergehen am Friedrichshof zur Kenntnis zu nehmen – sie alle blendeten, was sie über die Behandlung der Kinder dort vielleicht ahnten, lieber aus.

Auch die öffentliche Hand war für die Mühl-Kommune gern da; das Burgenland versorgte sie mit großzügiger Wohnbauförderung. Zudem wurden die einflussreichen Freunde von außen immer mehr in die Aktivitäten am Friedrichshof einbezogen. Ab 1983 produzierte man Spielfilme über kunsthistorische Themen „aus dem Lebensgefühl der Kommune“, bei denen Mühl das Drehbuch schrieb und Terese Panoutsopoulos-Schulmeister Regie führte. Als Erstes entstand „Vincent“ über Van Gogh als anarchischen Künstler. Es folgten „Picasso“, „Back to Fucking Cambridge“ über das Wien der Jahrhundertwende und „Andy’s Cake“, ein Film über Warhols Factory. Als Darsteller drängten sich Künstler und Kunstszenemenschen aus dem In- und Ausland vor die Kameras. Schon bei „Vincent“ (1984) waren Günter Brus, Hermann Nitsch und der amerikanische Fluxus-Künstler Al Hansen mit von der Partie. In „Back to Fucking Cambridge“ (1989-93) spielten die renommierten Ausstellungsmacher Rudi Fuchs und Harald Szeemann, die Künstler Christian Ludwig Attersee, Maria Lassnig, Nam June Paik und Dieter Roth. Auch der Autor dieser Zeilen tauchte in dem Film auf, durfte in einer Nebenrolle als Gendarm den vom Künstler Georg Jiri Dokoupil verkörperten Egon Schiele verhaften. Die Premiere des Films fand 1993 in der Wiener Secession statt, das New Yorker Museum P.S.1 zeigte ihn ebenso wie die Redaktion der ORF-„Kunststücke“.

Dabei war Otto Mühl bereits 1991 wegen Vergewaltigung, Beischlaf mit Unmündigen, Einladung zum Suchtgiftkonsum und Beeinflussung von Zeugen zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Mühl wies jede Schuld von sich, bezeichnete seine Handlungen als „radikale Kunst“. Erst 2010 entschuldigte er sich in einem offenen Brief bei seinen Opfern. Bei allem Geschick Mühls, sein Terrorregime am Friedrichshof zu verharmlosen, war die am Friedrichshof präsente Kunstöffentlichkeit nicht frei von Schuld. Man sah die Kunst und ignorierte die Kinder. Von allen Künstlerkollegen Mühls sprach allein Günter Brus später aus, dass man die Freiheit der Kunst trennen müsse von der Freiheit des Künstlers.

„Meine keine Familie“ bestätigt diese These eindrucksvoll, ohne die fundamentale Ambivalenz des Kommunenprojekts leugnen zu müssen. Regisseur Paul-Julien Robert betont durchaus nicht nur die Schrecken dieses Lebens; er selbst habe sich, abgesehen von der Trennung von seiner Mutter, die zu Geldbeschaffungsaktionen für die Kommune nach Zürich abkommandiert wurde, am Friedrichshof oft auch „ geborgen“ gefühlt. Andere berichten von Abgründigerem: von dem Verbot beispielsweise, als Jugendlicher mit gleichaltrigen Mädchen Beziehungen einzugehen und von der Pflicht, mit Mühls Frau Claudia zu schlafen – „nur in dem Moment wurdest du wahrgenommen.“ Mühl habe eine gigantische Firma geleitet, erzählt ein Zeitzeuge in diesem Film, „ohne zu wissen, wie man eine Firma leitet“. Mühls Überforderung hatte fatale Folgen.

Mitarbeit: Stefan Grissemann

+++ Wie sich seit dem 19. Jahrhundert Künstlerkollektive zum Zweck gemeinsamen Schaffens von ihrer Umwelt abschotten. +++