Schirmherrschaft

Die überforderten Abgeordneten

Parlament. Die Abgeordneten können mit dem Tempo der Eurokrise nicht Schritt halten

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Otto von Bismarck, der deutsche Reichskanzler, hinterließ neben der Grundidee des Sozialsystems auch zahlreiche Bonmots. "Wer weiß, wie Gesetze und Würste zustande kommen, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen“, sagte er etwa einst.

Vergangene Woche hätte er sich im Parlament wohl bestätigt gefühlt.

Auf der Agenda standen mit dem Euro-Rettungsschirm ESM und dem Fiskalpakt zwei hochkomplexe Materien, eigentlich klassische Fälle für Spitzenökonomen und Verfassungsjuristen - aber nicht einmal diese sind sich einig, ob es sich nun um Wunderwaffen oder Teufelszeug handelt. Wie sollen es dann die 183 Nationalratsabgeordneten beurteilen können?

An sich sind Politiker von Berufs wegen notorische Besserwisser, geschult darin, mit Verve ihre Ansichten darzulegen. Bei den Abstimmungen über die beiden Euro-Vehikel wagten es aber viele Abgeordnete, ihre Zweifel und ihre Beklommenheit auszusprechen. "Politiker können den ESM nicht wirklich verstehen. Er hat so viele Hintertürchen, dass niemand wissen kann, was herauskommt“, gab Elmar Podgorschek, gelernter Farbenhändler und FPÖ-Mandatar, freimütig zu. Selbst Stefan Petzner, an sich eine Kärntner Frohnatur, klagte: "Ich empfinde die Verantwortung als Last. Das ist eine völlig neue Situation für die Politik.“ Trotz aufmerksamer Lektüre der "Spiegel“-Artikel über den Euro habe er "schlaflose Nächte“ gehabt.

Immerhin geht es um Entscheidungen, deren finanzielle und politische Dimension weit über die parlamentarische Routine hinausreicht. Im Ernstfall beträgt Österreichs Beitrag zum ESM 20 Milliarden Euro. Das sind Beträge, mit denen die Abgeordneten sonst nicht im Entferntesten operieren.

Maximilian Linder etwa, Gast- und Landwirt, ist Bürgermeister von Afritz in Kärnten und entscheidet dort über ein Jahresbudget von 2,2 Millionen Euro. Damit fühlt er sich auch bedeutend wohler: "Ich wollte das Nationalratsmandat gar nicht annehmen, Jörg Haider hat mich damals überzeugt. Ich habe mir das im Parlament nicht so vorgestellt, hier dominiert die Krise alles.“

Dabei taten sich die Rechts-Abgeordneten leichter. Sie konnten ihre Unsicherheit hinausschreien, Taferl hochhalten und sicherheitshalber gegen ESM und Fiskalpakt wettern, frei nach dem Motto: Dagegen sein kann nicht ganz falsch sein. Ihre Parteichefs, Josef Bucher vom BZÖ und Heinz-Christian Strache von der FPÖ, hatten auch wirklich andere Sorgen: Wer schaffte es, sich auf ein Foto mit Anti-Euro-Bestsellerautor Thilo Sarrazin zu drängen, der für eine Stunde die Parlamentsdebatte von der Tribüne aus verfolgte?

Die Abgeordneten der Regierungsparteien hatten einen schweren Job. "Es gibt niemanden, der nicht ein gewisses Grummeln im Bauch verspürt“, bekannte Wolfgang Katzian stellvertretend für viele ein. Er sitzt als oberster roter Gewerkschafter im Parlament und hat sich, wie alle im SPÖ-Klub, mit Vorträgen von Nationalbank-Chef Ewald Nowotny und Wirtschaftsforscher und Fiskalpakt-Gegner Stephan Schulmeister auf die Abstimmung vorbereitet. Wenn derartige Kapazunder diametral unterschiedliche Meinungen vertreten, müsse man sich eben entscheiden, wem man vertraue. Katzian folgte Nowotny, auch wegen der gemeinsamen Geschichte: "Mit dem sind wir Gewerkschafter schon gut gefahren, als er noch die Bawag leitete.“ Das verbindet.

Eines war für Katzian aber klar:
"Mein Nachfolger muss richtig gut Englisch können. Es kommen viele Papiere auf Englisch, die sollte man im Original lesen können.“

Das ist beim ESM nicht das Problem - dieser Vertrag liegt schon länger auf Deutsch vor, allerdings in einer Version, die schon von der Geschichte überholt wurde: Auf dem EU-Gipfel Ende Juni hatten die Staats- und Regierungschefs weitreichende Änderungen beschlossen, etwa Direkthilfen an Banken und Vergemeinschaftung von Bankschulden. Die österreichischen Abgeordneten stimmten also über einen Vertrag ab, der gar nicht mehr aktuell war.

Das verstärkte die Unsicherheit, selbst bei kreuzbraven Abgeordneten der Regierungsparteien und Euro-Fans wie Konrad Steindl. 170 renommierte Ökonomen, darunter vier Österreicher, warnten vor der geplanten Bankenunion - und auch ÖVP-Mann Steindl wurde dabei mulmig: "Da sehe ich Diskussionsbedarf.“

Nur - wann?
Das Tempo der Euro-Retter ist für viele nationale Parlamente zu hoch, nicht nur für das österreichische. In Deutschland greift daher auch das Höchstgericht zu Blitzentscheidungen und urteilt am 10. Juli über die Einsprüche gegen ESM und Fiskalpakt. In Österreich wird das länger dauern.

Alexander Van der Bellen findet das gut so.
Bedächtigkeit war schon immer eine der Kernkompetenzen des langjährigen Obergrünen und Ökonomen, der mit seiner Fraktion eine Verfassungsklage gegen den Fiskalpakt einbrachte: "In Verfassungsfragen soll man sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen.“

Möglicherweise entscheiden Österreichs Höchstrichter also zu einem Zeitpunkt, an dem der Fiskalpakt nicht mehr aktuell ist, ob dieser seinerzeit mit Zweidrittelmehrheit hätte beschlossen werden müssen. Und dann? Das weiß niemand.

Für viele Abgeordnete wurden auch grundsätzliche Fragen aufgeworfen. "Die Demokratisierung in der EU hängt hintennach“, kritisierte etwa der Grüne Peter Pilz. Darüber müsse man endlich diskutieren.

Und nicht nur darüber. Der ÖVP-Abgeordnete Peter Michael Ikrath ist im Zivilberuf Generalsekretär des Sparkassenverbands, für ihn sind kniffelige finanzpolitische Fragen kein Neuland. Aber selbst er monierte: "ESM, ESF, Sixpack - das ist selbst für Fachleute völlig verwirrend.“ Die Europäische Union habe dringend eine Lektion aus der Krise zu ziehen: "Die EU muss lernen, eine andere Sprache zu verwenden. Sonst werden die Populisten immer die Nase vorn haben.“ Das ist immerhin eine Problemstellung, bei der sich auch Nicht-Ökonomen fundiert einbringen können.

Trotz all der Bedenken und offenen Fragen - die Abstimmung verlief erstaunlich reibungslos und streng entlang der Parteigrenzen. SPÖ, ÖVP und Grüne stimmten dem ESM geschlossen zu, in Deutschland fanden sich mehr Abweichler. Auch das freie Mandat im österreichischen Parlament ist, gelinde gesagt, ausbaufähig.

Nur die SPÖ-Abgeordnete Sonja Ablinger traute sich als Einzige ihrer Partei, gegen den Fiskalpakt zu stimmen. Eine Rede halten durfte sie nicht, aber Sanktionen für Mut ist Ablinger gewohnt: Wegen ihrer kritischen Töne zu den immer strengeren Fremdengesetzen ist sie schon lange nicht mehr Bereichssprecherin. Bei der Abstimmung war Ablinger wohl eine der am besten vorbereiteten Abgeordneten. Sie hatte Analysen aus Deutschland studiert, die dortigen Debatten verfolgt, zuhauf ökonomische Fachpapiere und Bücher von Wirtschaftsnobelpreisträgern gelesen. Sie konnte ihr Nein zu den Sparzielen im Fiskalpakt begründen - und war nur bedrückt, dass ihre Gegenstimme die einzige in der SPÖ blieb: "Das spiegelt die Stimmung in der Gewerkschaft und in der Partei überhaupt nicht wider.“

Aber auch dieses Spezialergebnis der Abstimmung wird künftig weniger Bedeutung haben. Denn der einzige Effekt von ESM und Fiskalpakt, den alle Ökonomen und Abgeordneten ident beurteilen, ist jener, dass mit dem supranationalen Rettungsmechanismus alle Parlamente an eigenständiger Handlungsfähigkeit verlieren. Diesen Gewichtsverlust haben die österreichischen Landtage seit dem EU-Beitritt schon hinter sich. Auch im Nationalrat werde sich dieser Prozess mit einer einheitlicheren EU-Wirtschaftspolitik nicht aufhalten lassen, analysiert der SPÖ-Abgeordnete Christoph Matznetter: "Wir sind auf dem Weg dorthin, als Nationalrat zum Landtag zu werden.“

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin