Patriotismus: Ver-netzter Nationalstolz

Patriotismus: Vernetzter Nationalstolz

Das nationale Selbstbe-wusstsein der Österreicher

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Leopoldine Frischauf stand schon am 15. Mai 1955 vor dem Schloss Belvedere, als Leopold Figl vom Balkon aus der jubelnden Menge den Staatsvertrag präsentierte. „Ich war damals zehn Jahre alt und erinnere mich noch an die vielen rot-weiß-roten Fahnen und die vielen winkenden Menschen“, erzählt die Rezeptionistin eines Telekom-Unternehmens. 50 Jahre später ging sie am Pfingstsonntag wieder in den Belvedere-Park, mit ihrer Tochter. „Aber diesmal kam keine rechte Feierstimmung auf. Vielleicht lag es daran, dass so viele Mitglieder der Regierung dort waren. Ich hatte den Eindruck, die wollten am Ruhm der Gründerväter mitnaschen.“

Andere Teilnehmer des Festaktes kritisierten peinliche Pannen. So ging schon am Nachmittag das Bier aus. Jedes Zeltfest sei ausgelassener, meinte ein Besucher aus Salzburg ernüchtert.

Am Höhepunkt des „Gedankenjahres“ 2005 werten Politologen aber genau das fehlende Pathos und den eher bescheidenen Publikumsandrang als Beweis für Normalität. Nach einer OGM-Umfrage der Universität Klagenfurt unter Jugendlichen zeigten nur zwölf Prozent „sehr großes Interesse“ am Jubiläumsjahr der Zweiten Republik. Laut aktueller market-Umfrage für profil gaben immerhin 16 Prozent der Befragten an, die Berichte rund ums Gedankenjahr gar nicht mitverfolgt zu haben. In der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren zeigte sich sogar fast jeder Dritte desinteressiert.

Dabei sind die Österreicher, was Nationalstolz betrifft, in Europa weit aufgestiegen. Nach einer neuen Fessel-GfK-Umfrage für das ORF-Magazin „Report“ gaben 92 Prozent der Österreicher an, stolz auf ihr Land zu sein, womit sie im europäischen Spitzenfeld liegen. Mehr Nationalstolz zeigen nur Iren und Griechen. Sogar die oft mit Chauvinismus-Vorwürfen konfrontierten Franzosen sind nur zu 85 Prozent wirklich stolz auf ihre Heimat (siehe Grafik).

Deutsche überholt. „Wir haben kein Problem mehr mit eigenem Nationalismus und Nationalstolz“, analysiert Meinungsforscher Peter Ulram. „Auch unser Verhältnis zu Deutschland hat sich normalisiert.“ Noch bis Mitte der achtziger Jahre hätten viele Österreicher mit Bewunderung und auch Neid auf die deutschen Nachbarn geblickt. „Jetzt, wo wir wirtschaftlich besser dastehen als Deutschland, ist unser Selbstbewusstsein deutlich gestiegen.“ In Umfragen werden neuerdings rot-weiß-rote Leistungen in der Wirtschaft oder beim Umweltschutz weit häufiger als Grund für Stolz aufs eigene Land genannt als früher.

„Kaum jemand bezweifelt noch, dass die Österreicher eine eigene Nation sind“, analysiert der Politologe Peter Filzmaier. „Die jahrzehntelange Zwangsorientierung an Deutschland gibt es nicht mehr.“ Selbst sportliche Erfolge wie der legendäre 3:2- Sieg des rot-weiß-roten Fußballteams gegen die deutsche Mannschaft bei der WM in Cordoba 1978 hätten heute keine identitätsstiftende Wirkung mehr, glaubt Filzmaier.

Stand am Beginn der Zweiten Republik noch die Abgrenzung zu Deutschland als wichtigster Geburtshelfer für die lange bezweifelte österreichische Nation, kamen 1955 mit Staatsvertrag und Neutralität zwei bis heute fortwirkende identitätsbildende Merkmale für österreichischen Patriotismus hinzu.

Mit der Erklärung der österreichischen Neutralität verbinden heute 82 Prozent der Österreicher spontan persönliche Gefühle. Andere Ereignisse wie das Ende des Zweiten Weltkriegs oder die Rolle Österreichs in der NS-Zeit lösen nur mehr bei etwas mehr als der Hälfte der Österreicher Emotionen aus (siehe Grafik).

Dies erklärt auch, dass das derzeit im Belvedere ausgestellte Original des Staatsvertrags wie eine Reliquie der Zweiten Republik präsentiert wird. „Für uns waren Staatsvertrag und Neutralität jenes historische Ereignis, zu dem sich die meisten Österreicher vorbehaltlos bekennen konnten“, meint der Politologe Anton Pelinka. „Anders als die Schweizer haben wir auch keine Legende wie Wilhelm Tell anzubieten.“

Doch Österreichs Patriotismus falle – so Pelinka – weit „vager und verwaschener“ aus als anderswo. Denn dieser basiere auf dem Staatsvertrag, „den kaum jemand gelesen hat“, und auf einer Neutralität, „mit der außerhalb von Österreich niemand wirklich etwas anfangen kann“.

Trotz der starken Verankerung der Neutralität im Bewusstsein der Österreicher herrscht über ihre wahre Bedeutung Unklarheit. Denn paradoxerweise gehören die Österreicher in der EU zu den stärksten Befürwortern einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, für die sich laut jüngster Eurobarometer-Umfrage 70 Prozent aussprachen. Entscheidungen über die europäische Verteidigungspolitik wollen 46 Prozent der Österreicher von der EU getroffen wissen, nur 30 Prozent geben in diesem Punkt der eigenen Regierung den Vorzug.

Patrioten. Freilich verlässt die Österreicher, wenn es ernst wird, sehr rasch wieder der Mut: Im Falle eines militärischen Angriffs auf ein EU-Land will nur mehr eine Minderheit – 15 Prozent – Beistand mit Waffen leisten.

In der EU-Familie präsentieren sich die Österreicher laut letzter Eurobarometer-Umfrage aus dem Herbst 2004 als überzeugte Patrioten. Nur 61 Prozent der Befragten sind stolz darauf, auch Bürger der EU zu sein. Gar nur vier Prozent gaben an, sich sowohl als Österreicher wie auch als Europäer zu fühlen, während sonst in vielen EU-Ländern solche Mischidentitäten deutlich ansteigen.

Absoluten Europarekord halten die Österreicher bei der Verbundenheit mit ihren Heimatorten und -regionen, was 95 beziehungsweise 94 Prozent betonen. Ähnlich hohe Zustimmungswerte gibt es sonst nur in skandinavischen und mediterranen Ländern.

Auch was das Funktionieren der Demokratie im eigenen Land betrifft, gehören die Bewohner zwischen Boden- und Neusiedler See mit 72 Prozent Zustimmung zu den Zufriedensten in der gesamten EU. Noch höhere Zustimmungsraten erzielen nur die Dänen, Luxemburger, Finnen, Iren, Schweden und Spanier (siehe Grafik).

Die Regierung Schüssel/Gorbach sollte sich aber nicht zu früh freuen, denn laut Meinungsforschern bezieht sich die Zufriedenheit weniger auf die amtierende Koalition als auf die Art und Weise, wie das demokratische System insgesamt funktioniert. Peter Ulram: „Die hohe Zustimmung gibt es seit den achtziger Jahren. Nur Ende der neunziger Jahre, in der letzten Phase der großen Koalition, gab es einen deutlichen Einbruch.“ Ulram macht dafür hauptsächlich FPÖ-Wähler verantwortlich. Denn mit Beginn der schwarz-blauen Koalition stieg die Zufriedenheit wieder deutlich an.

Weniger Begeisterung herrscht in Österreich über das Funktionieren der Demokratie in der EU: Nur 45 Prozent sind damit zufrieden, 43 Prozent misstrauen der Art und Weise, wie in der EU Entscheidungen getroffen werden.

Damit befinden sich die Österreicher im Lager bekannter EU-Skeptiker wie der Briten oder Dänen. In Österreich weitet sich auch stetig die Kluft zwischen jenen, die mit der nationalen Demokratie zufrieden sind, und jenen, die mit jener auf EU-Ebene einverstanden sind: Sie ist dreimal so groß wie im EU-Durchschnitt.

Zukunft ausgespart. Befragt nach dem Vertrauen in nationale Institutionen wie Justizsystem, Polizei oder Armee, sind die Österreicher besonders obrigkeitshörig: 74 Prozent vertrauen der Polizei, 68 Prozent den Gerichten und dem Bundesheer. Bei den EU-Institutionen finden analog der Europäische Gerichtshof oder die EU-Kommission mehr Vertrauen, obwohl dort die Einflussnahme der Bürger gering ist.

„Die EU emotionalisiert die Bürger immer weniger, wenn man einmal von den Bewohnern an Transitstrecken absieht“, ortet der Politologe Filzmaier auch ein Informationsdefizit. Und er übt Kritik an der „viel zu rückwärts gewandten Orientierung“ der Jubiläumsfeiern. „Ich hätte mir im Gedankenjahr mehr Debatten über Österreichs Zukunft gewünscht, auch über die künftige Rolle der Neutralität.“

Filzmaier erinnert an die Klagen der Politiker über die geringe Beteiligung bei den Europawahlen im Juni 2004. „Offenbar waren alle Versprechungen, etwas gegen den EU-Frust der Bürger zu unternehmen, nur Lippenbekenntnisse. Die Chance, während der Republikfeiern über die Zukunft der EU mehr zu informieren, haben die Politiker bisher nicht wahrgenommen.“

Von Otmar Lahodynsky