Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Durch die Krise wursteln

Durch die Krise wursteln

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Zu den Dogmen des freien Marktes zählt seit Adam Smith, dass er auch dann das günstigste Ergebnis für alle Beteiligten herbeiführt, wenn jeder einzelne Teilnehmer seinen egoistischen Vorteil sucht. Wenn das stimmt, dann funktioniert die Weltwirtschaft derzeit ideal: Jede einzelne Volkswirtschaft der „Größten Zwanzig“ sucht vor allem ihre eigenen Interessen zu wahren. „G20-Finanzminister beschließen nichts“, fasst es die „Financial Times“ trocken zusammen.

Voran Deutschland will weder einsehen, dass es, wie ­Obama fordert, „mehr“ Schulden machen soll, um eine Krise zu bekämpfen, die aus US-Schulden resultiert, noch, wieso es finanzpolitisch undisziplinierten Ländern von Irland bis Griechenland aus der Patsche helfen soll. Frankreich wollte die Subventionen für seine Autoindustrie an die Bevorzugung französischer Standorte binden. Und Österreich will dringend ein von allen Beteiligten finanziertes Hilfspaket für Osteuropa, obwohl es vor allem der Abdeckung seiner Risken diente.

Ich lese lauter exzellente Kommentare, in denen dieses egoistische Nebeneinander zutiefst bedauert und gefordert wird, wenigstens die EU möge doch endlich als geschlossene Solidargemeinschaft handeln. Mir ist das aus dem Herzen gesprochen – ich bin nur nicht absolut sicher, dass es stimmt. Denn ich fürchte, dass derzeit niemand weiß, wie die „richtige“ Wirtschaftspolitik aussehen soll. Unter den gegebenen schlampigen Verhältnissen – irgendwo zwischen Markt und Protektionismus – kann es jedes Land ein bisschen anders versuchen. Vielleicht ist das eine Katastrophe – aber vielleicht auch ein Segen, weil es nicht alle auf die gleiche Weise falsch machen.

Nehmen wir Deutschland mit seiner Unterstützung der Autoindustrie. Sicher ist das Auto kein Zukunftsprodukt – aber auch noch kein Auslaufmodell: Der stärkste ­Autoproduzent weit und breit zu sein wird in absehbarer Zeit durchaus wieder Geld bringen. Die USA unterstützen ihre maroden Autogiganten, Japan unterstützt seine gesunden Autogiganten – sollen VW, Mercedes oder BMW ohne Unterstützung in diese Schlacht gehen?

Vom idealen Markt her gesehen natürlich – denn dort unterstützte niemand niemanden: Die maroden US-Giganten gingen ein, und die gesunden deutschen und japanischen Produzenten teilten sich ihren Markt. Aber der real existierende Weltmarkt sieht eben anders aus. Wahrscheinlich kann Angela Merkel nur versuchen, innerhalb Deutschlands marktkonform zu agieren: Wenn sie Opel Finanzhilfe gäbe, schwächte sie VW, Mercedes und BMW, die ansonsten den bisherigen Marktanteil von Opel unter sich aufteilen können. Also tut sie das eher nicht, wenn die nahenden Bundestagswahlen sie nicht dazu zwingen.

Warum allerdings überhaupt gerade die Autoindustrie unterstützen? Warum nicht die Software-, die Laser- oder die Werkzeugproduzenten, die auch alle im internationalen Konkurrenzkampf stehen und denen derzeit auch die Aufträge wegbrechen, obwohl ihre Produkte vielleicht zukunftsträchtiger sind? Wieder ist aus der Sicht einer idealen Marktwirtschaft klar, dass es falsch ist, die Autoproduzenten zu bevorzugen.Aber die Autoindustrie hat Symbolbedeutung: An ihrem Zustand glaubt die deutsche Bevölkerung die Gesundheit der deutschen Wirtschaft zu ersehen. Wenn Mercedes Massenkündigungen durchführen müsste, hätte das verheerende psychologische Folgen mit vermutlich nicht minder verheerenden ökonomischen Folgen.

Wirtschaft ist auch Psychologie. Also wurstelt Angela Merkel zwischen Bekenntnis zum Markt und Bevorzugung der Autoindustrie vor sich hin. Ich bin nicht absolut sicher, dass es anders besser wäre.

Oder nehmen wir Österreichs Probleme. Marktkonform wäre, Erste Bank oder Raiffeisen International ihre Suppe auslöffeln zu lassen. Brächen sie dabei zusammen, wäre das kaum gegen die Logik des Marktes: Die Volksbanken oder die Bawag und vielleicht auch die Deutsche Bank gewännen in Österreich Marktanteile. In Rumänien oder Bulgarien kauften andere ausländische Banken die bisher im Besitz der Österreicher stehenden Geldinstitute aus der Konkursmasse und führten sie zu neuen Bedingungen weiter. Nicht einmal die Bevölkerung der betroffenen Länder käme marktwidrig unter die Räder – sie hat zu rasch den ­Anschluss an den Lebensstandard Westeuropas gesucht und sich dabei finanziell übernommen.

Der funktionierende Markt ließe im Moment eben ein Leichenfeld zurück. Also verstößt man gegen seine Gesetze, denn irgendwie haben alle das Gefühl, dass man Osteuropa doch nicht im Stich lassen kann. „Wenn Osteuropa untergeht“, formulierte der „Economist“, „könnte die EU mit ihm untergehen.“ Trotzdem gibt es kein gemeinsames „Hilfspaket“, weil das reiche Deutschland eben nicht bereit ist, gegen die Gesetze des Marktes die Suppe des reichen Österreich auszulöffeln. Aber es gibt eine ostfreundliche Wurstelei: Der IWF, die Europäische Bank für Entwicklung, der Strukturfonds der EU, die Europäische Investitionsbank erhalten mehr Mittel, um sie in den Osten zu pumpen. Das reiche Österreich wird den betroffenen Banken helfen, ihr Kapital aufzustocken, und die Banken selbst werden auch noch einen ordentlichen Brocken zu schlucken haben – was vom Markt aus gesehen weder völlig ungerecht noch ganz schlecht ist. Natürlich gefiele mir eine koordinierte Aktion mit klar definierten Zielen besser – wenn irgendwer sicher wüsste, wie die beschaffen sein müssten.

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