„Gestorben wird im Zimmer”

Lokalaugenschein. Trostlosigkeit und physische Anstrengungen zehren an den Pflegekräften

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Von Astrid Radner

Das erste Mal so richtig gereckt hat es Gero B., als er erbrochenen Stuhl roch. "Klar ausgedrückt: Mit Kotze kann ich ja noch umgehen.“ Der Stationsleiter im Pflegeheim Laaerberg bricht mitten im Satz ab, rümpft die Nase und zieht die Mundwinkel nach unten. Der Kot wird dabei nicht auf natürlichem Weg ausgeschieden, sondern steigt über Magen und Speiseröhre zum Rachenraum hoch, bis der Betroffene schließlich eine bräunliche, übel riechende Flüssigkeit erbricht. "Miserere“ im Fachlatein. Zu Deutsch: Erbarmen.

Pfleger haben in Österreich beste Jobaussichten. Die Nachfrage nach geeignetem Personal übertrifft das Angebot bei Weitem. 7000 Pfleger fehlen jetzt schon, 2020 werden es 17.000 sein. Die Belastungen im Berufsalltag sind enorm. Nacht- und Wochenenddienste, körperliche und psychische Überlastung gehen vielen Pflegern oft so stark an die Substanz, dass der Helfer selbst zum Opfer wird.

6.45 Uhr:
Schichtübergabe auf Station 1 des Altenpflegeheims St. Elisabeth. Familienfreundlich sind die Arbeitszeiten nicht. Auch an Wochenenden, Feiertagen und in der Nacht müssen die Bewohner bandagiert, gewaschen und versorgt werden. Pfleger und Pflegehelfer haben sich in der Teeküche um einen runden Tisch versammelt. Pfleger G. berichtet über die Vorkommnisse der Nacht. Jeder Bewohner hat eine Akte: "Bei der Frau S. gibt’s nichts, die hat gut geschlafen.“ Er blättert um: "Die Frau M. auch. Die Frau S. war sehr schwach, hat eine Infusion bekommen, wir haben schon ein vorbereitendes Gespräch mit der Tochter geführt bezüglich sterben.“ Ein Pflegehelfer atmet tief ein. G. fährt fort: "Frau L. war erfolgreich, sie hat endlich Stuhl gehabt.“ Kichern in der Runde. Ein kleiner Triumph.

Schichtbeginn:
Die Pflegehelfer schwärmen in die Zimmer. Die Patienten erhalten Medikamente, sie werden umgelagert, damit sich ihre hauchdünn gewordene Haut nicht wund liegt. Es ist Frühstückszeit. Pflegehelfer A. füttert eine bettlägerige Frau - sie hat gerade ihren 100. Geburtstag gefeiert - und streichelt ihr über die Wange. Ein Röcheln, ein Husten, und ein bräunlicher Schoko-Speichel-Brei quillt aus ihrem rechten Mundwinkel. In jedem Zimmer riecht es stark nach Urin. Fast alle Bewohner sind inkontinent, kauern leblos in den Betten und atmen mühsam mit lauten Geräuschen. Man bemüht sich, den Bewohnern häusliche Umgebung zu schaffen: hellgelbe Wände, orange Vorhänge, Blumen von Angehörigen und Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus alten Tagen. Eine alte Dame hat einen Stapel englischer Bücher neben sich liegen. "Mylady, what can I do for you?“, erkundigt sich Pflegehelfer A. "You can do everything for me“, sagt die frühere Englischprofessorin. Alles kann Pflegehelfer A. jedoch nicht für sie tun, schließlich wird die Station 1 des Hauses St. Elisabeth die letzte ihres Lebens sein.

Pfleger verbringen oft zehn Jahre Tag für Tag mit den alten Menschen, kennen ihre Vergangenheit, ihre Vorlieben, ihren Charakter und bauen eine Beziehung zu ihnen auf. Dann sterben die Bewohner. "Gestorben wird im Zimmer.“ Gero B. drückt die Klinke einer blauen Tür nach unten: "Und dann geht es in den Verabschiedungsraum.“ Mit ausgestreckten Armen präsentiert er das mit Blumen und Kruzifix geschmückte Zimmer. Wenn Gero B. zur Frühschicht kommt und das Wort "Kühlung“ über diesem Raum grün aufblinken sieht, ist seine erste Frage: "Wer?“

"Man ist schon traurig, aber zum Leben gehört das Sterben eben dazu“, sagt Pflegerin K. Erfolge gebe es in diesem Job dennoch, nur werden sie anders definiert. Wenn ein alter Mann wieder zu sprechen beginnt, das erste Mal wieder aufrecht sitzen oder einfach friedlich sterben kann. Vielen Pflegekräften ist die psychische Belastung dennoch zu viel. "Wenn jemand nicht mit dem Herz dabei ist, dann schafft er es maximal vier Jahre“, sagt Stationsleiterin Eva. Das Wichtigste bei der Altenpflege sei es, sich auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohner einzustellen, denn der Bewohner komme an oberster Stelle.

Und an welcher Stelle kommt man selbst?
"Man muss sich oft hintanstellen, voll und ganz für den anderen da sein.“ Stationsleiter Peter B. aus dem Pflegeheim Haus Laaerberg spricht aus Erfahrung. Aber nicht nur der Psyche, sondern auch dem Körper eines Pflegers wird einiges abverlangt. Viele Bewohner können sich nicht mehr bewegen und müssen gehoben werden. In puncto Kraftanstrengung sei ein Vergleich zwischen Maurern und Krankenschwestern durchaus zulässig, meint Peter B.: "Aber passiert dem Maurer ein Fehler, platzt ihm vielleicht ein Zementsack, bei uns geht es um Menschenleben.“

Menschen im Siechtum, mit Stuhl beschmierte Toiletten, säuerlich riechende Dämpfe - Gero B. macht sich erst mit einem Tupfer Wick-Salbe unter der Nase an die Arbeit. Nicht immer ist ein so leichtes Mittel gefunden. Etwa bei demenzkranken Patienten. "Wo bin i denn do? I wü in mei Wohnung, in die Lerchenfelder Stroßn“, sagt ein alter Mann mit verzweifelter Miene. Seine Wohnung gibt es schon seit 20 Jahren nicht mehr. Im Aufenthaltsraum des Laaerberghauses sitzen einige Bewohner an den Tischen, murmeln mit gesenktem Haupt und schlaff herabhängenden Schultern vor sich hin oder starren mit leeren Augen in die Ferne. Oder in den Fernseher. Hat man am Nachmittag Zeit, setzt man sich als Pfleger auch einmal dazu. "Don Camillo, Sissi und Heintje. Das sind die absoluten Lieblinge.“ Gero B. kennt das Fernsehprogramm: "Da singen dann alle mit.“ In den Zimmern der Bewohner wird außerdem auch weniger Jugendfreies geschaut. Zwei Bewohner - er 85, sie 73 - haben hier im Laaerberghaus nicht nur ihre Liebe füreinander, sondern auch eine gemeinsame Vorliebe gefunden: Pornos. Die sexuellen Gelüste der Bewohner bekommen auch die Pfleger manchmal zu spüren. Hinterteile, Oberweiten, beste Stücke sind Ziel zwickender Finger der Bewohner. "Das muss man mit Humor wegstecken“, sagt Stationsleiter Peter B.

Meistens geht es nicht so lustig zu.
Heimbewohner können auch aggressiv werden. "Es gibt keinen Pfleger, der noch nie eine geprackt gekriegt hat“, sagt Gero B. Emotionen gehören zum täglichen Brot des Pflegers. Dadurch entsteht oft ein starker Leidensdruck: "Was ist mit meiner Mutter? Tun Sie was!“ - seitens der Angehörigen. "Tun Sie mir das nicht an!“ - seitens der Bewohner. "Warum haben Sie das getan?“ - seitens der rechtlichen Aufsicht. Um später nicht in Rechtfertigungsnot zu kommen, wird jeder Schritt genau dokumentiert.

Die Ausstattung und der bewohnergerechte Ausbau der Pflegehäuser haben sich in den vergangenen Jahren verbessert. Ausreichend qualifiziertes Personal gibt es nicht. "Diplomiertes österreichisches Personal bekommt man kaum. Die wenigen, die es gibt, gehen eher in die Spitäler. Sie wollen Action-Chirurgie statt Pflegeheim“, sagt Susanne Csengel von der Haus- und Pflegedienstleitung des Hauses St. Elisabeth. Auch Julia, die gerade ihre letzte Prüfung im Bachelorstudium "Pflegewissenschaften“ geschrieben hat, hat andere Pläne: "Unfallchirurgie, das wäre meins. Da kommt man mit allen Altersstufen in Kontakt.“

Im Haus St. Elisabeth funktioniert das Team gut, die Bewohner sind zufrieden, die Pfleger gehen gern zur Arbeit. Das gelingt jedoch nur, weil genügend Personal und Budget vorhanden sind. In vielen Pflegeheimen sind zu wenige Pflegekräfte für zu viele Patienten zuständig. Die Folge: Zu hohe Verantwortung und Stress führen zu noch höherer Überlastung und wirken sich letztlich auch auf die Qualität der Pflege aus. "Dem Bewohner wird dann nicht mehr liebevoll Essen eingegeben, sondern er bekommt eine Infusion, weil es einfach billiger ist. Es passieren mehr Stürze, weil man keine Zeit mehr hat“, sagt Csengel.

Schichtende:
Auf dem Gehaltszettel einer diplomierten Krankenschwester steht die Summe von 1400 Euro netto, bei einer 40-Stunden-Woche, Überstunden und Zulagen inklusive. Der idealistische Wunsch, "helfen zu wollen“, führt nicht selten zum Burn-out. Vor allem Mitarbeiter, die schon lange den Pflegeberuf ausüben, sind betroffen. Nur selten gibt es Anti-Burn-out-Seminare. Pfleger haben ihre eigenen Strategien entwickelt, um nicht auszubrennen: "Die nötige emotionale Distanz“, rät Gero B. "Rauchen ist Psychohygiene!“, lautet Peter B.s Tipp. Auch die frischgebackene diplomierte Krankenschwester Julia hat schon eines gelernt: "Darüber reden hilft.“