Boulez: „Mein Gott, ist das primitiv“

Pierre Boulez: „Mein Gott, ist das primitiv“

Über die Sehnsucht nach dem perfekten Kunstwerk

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profil: Sie dirigieren bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen Wagners „Parsifal“. Dabei wollten Sie früher doch alle Opernhäuser „in die Luft sprengen“, weil sie „voller Scheiße“ sind.
Boulez: Ich habe in den sechziger Jahren nicht gegen die Opernhäuser polemisiert, sondern gegen die schreckliche Routine in den Opernhäusern. Manchmal wusste ich vor einer Vorstellung gar nicht, wer an diesem Abend überhaupt singen wird, welche Musiker im Orchestergraben sitzen werden. Das ist doch unerfreulich.
profil: Haben Sie Ihre Wut aufs Establishment verloren?
Boulez: Wenn man jung ist, steht man draußen vor der Tür und bellt. Protest ist das einzige Mittel, das einem zur Verfügung steht. Doch nach einer gewissen Zeit habe ich die Möglichkeit erhalten, auch etwas zu realisieren. Das muss man dann auch tun. Ich habe versucht, die Sturheit der Institutionen zu unterwandern und an ihnen das aufzuführen, wofür ich kämpfe: die Musik des 20. Jahrhunderts.
profil: Mit wirksamen Mitteln: 1945 befehligten Sie eine Krach-Brigade vor dem Théâtre des Champs-Elysées, um ein Konzert zu stören.
Boulez: Es gab nach dem Krieg eine gefährliche Bewegung, die in die Vorkriegszeit zurückwollte und so tat, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Ich war damals Anfang zwanzig und wollte ganz sicher nicht, dass die Alten zurückkommen. Man durfte doch nicht so tun, als hätte es Schönberg oder die Zwölftontechnik nicht gegeben. Ich habe gegen die Wiedereroberung des Paradieses protestiert.
profil: Ihren Bayreuther „Parsifal“ wird nun einer der routiniertesten Theaterprovokateure der Gegenwart inszenieren: Christoph Schlingensief. Rechnen Sie mit einem Skandal?
Boulez: Wenn Schlingensiefs Ideen gut sind, ist mir ein Skandal egal. Dann lohnt es sich, dafür zu kämpfen. Schlingensief ist ein interessanter und lebendiger Kopf mit einer starken Persönlichkeit. Ich mag Leute, die Ideen haben, auch wenn diese eventuell exzessiv sind. Exzesse kann man korrigieren. Ideenlosigkeit nicht. Und irgendwann ist noch fast jeder Skandal der Theatergeschichte zu einem Klassiker geworden. Zwischen 1976 und 1980 habe ich in Bayreuth den „Ring“ dirigiert. Patrice Chéreau führte Regie. Er wurde förmlich von der Bühne gebuht. Wozu die ganze Aufregung? Heute gilt die Arbeit als Meilenstein.
profil: Was haben Sie und Schlingensief in Bayreuth vor?
Boulez: Wir wissen noch gar nicht genau, was wir machen werden.
profil: Ausgerechnet Sie, der Wegbereiter des durchorganisierten Serialismus, haben kein Konzept?
Boulez: Im Theater sind Konzepte nutzlos. Die besten Regisseure finden ihre Regie nicht am Schreibtisch, sondern während der Proben. Nur so viel: „Parsifal“ wird gern zu einem katholischen Heilsdrama hochstilisiert. Das interessiert mich überhaupt nicht, auch wenn Religion eine große Rolle spielt und die Gralsritter wie eine Sekte organisiert sind.
profil: Glauben Sie an Gott?
Boulez: Nein. Aber man muss nicht gläubig sein, um „Parsifal“ dirigieren zu können. Genauso wenig wie man protestantisch sein muss, um Bach lieben zu dürfen. In „Parsifal“ geht es um einen Menschen, der nicht weiß, wer er ist und was er will. Parsifal kann Buddhist, Katholik oder sonst wer sein.
profil: Das letzte Mal haben Sie „Parsifal“ 1966 in Bayreuth dirigiert. Worin wird sich Ihr heuriges Dirigat von damals unterscheiden?
Boulez: Meine Gesten sind wirksamer, weshalb ich beim Dirigieren wesentlich besser vermitteln kann, was ich über die Musik denke. Das Stück wird also sicher anders klingen als vor vierzig Jahren. Was aber nicht an Wagner liegt, sondern an mir.
profil: Sie müssen es wissen: Was ist Musik?
Boulez: Je älter ich werde, desto weniger weiß ich das. Früher hatte ich ganz präzise Ideen. Doch nun stelle ich fest, dass Präzision eine Fiktion ist. Ich bin mir nur in einer Sache ganz sicher: Ein Komponist muss sich immer weiterentwickeln. Musik ist wie Architektur, also eine kluge Mischung aus Kunst und Technologie. Das Guggenheim-Museum in Bilbao hätte vor fünfzig Jahren unmöglich gebaut werden können, weil es die nötigen Technologien dafür noch nicht gegeben hätte. Ohne Computer wiederum würde es viele meiner Werke nicht geben. Die Entwicklung neuer Techniken zwingt die Komponisten zu neuen Ideen.
profil: Bei den Wiener Festwochen werden Sie Ihr Stück „Répons“ dirigieren, in dem Live-Elektronik eine große Rolle spielt. Warum genügt Ihnen der traditionelle Orchester-Sound nicht mehr?
Boulez: Weil man mit den herkömmlichen Orchestern schnell an Grenzen stößt. Die können keine Mikrointervalle spielen, können das Spektrum eines Instruments nicht verändern, sind rhythmisch eingeschränkt. Warum sollte ich auf weiter gehende Möglichkeiten verzichten?
profil: Wird das Komponieren mit den Jahren leichter oder schwieriger?
Boulez: Es wird schwieriger, weil man sich an all die Dinge, die man schon gemacht hat, so gut erinnert. Man muss ständig verhindern, bei sich selber zu klauen, und darf nicht auf Lösungen zurückgreifen, die abgenutzt sind. Man kann das übertreiben wie etwa Igor Strawinsky, der praktisch
jedes Jahr einen neuen Stil hatte und allzu modisch sein wollte. Eine langsame Entwicklung wie jene von Anton von Webern hingegen finde ich faszinierend. An sei-
nen letzten Werken merkt man, dass sich sein Stil im Lauf der Jahre völlig verändert hat.
profil: Sie haben jedes Ihrer Werke im Kopf?
Boulez: Ich vergesse nicht, was ich einmal komponiert habe. Wenn ich das Manuskript sehe, weiß ich sofort: Das bin ich. Obwohl ich natürlich nicht immer frei aus dem Kopf ein Werk Note für Note wiederholen könnte. Aber die Idee, den Gestus vergesse ich nicht.
profil: Welche Ihrer Kollegen des 20. Jahrhunderts bewundern Sie am meisten?
Boulez: Es gibt Komponisten, ohne deren Potenz und Erfindungen das 20. Jahrhundert nicht existiert hätte: Igor Strawinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern. Gleich danach kommt Edgar Varèse. Dann gibt es Leute, die interessant sind, etwa Paul Hindemith oder Sergej Prokofjew.
profil: Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Pop-Musik. Hören Sie House oder HipHop?
Boulez: Es gibt da diesen TV-Sender MTV. Der ist für mich ein Begriff der Hölle. Vergleicht man diese Musik mit Strawinsky, denkt man sich: Mein Gott, ist das primitiv. Dabei haben diese Menschen Engagement, Persönlichkeit, manchmal sogar Wut. Aber sie können sich nur in irrsinnig ordinären Klischees ausdrücken, weil sie nie Zugang zu einem anderen Niveau erhalten haben. Ihre Kreativität wird durch einen Mangel an Erziehung einfach kaputt gemacht. Das finde ich traurig.
profil: Frustriert es Sie, dass Sie nur einen Bruchteil der Hörerzahlen wie MTV haben?
Boulez: Nein, das ist immer dasselbe. In ein Beethoven-Konzert kommen vielleicht 2500 Menschen. Zu einem Fußballspiel kommen 30.000 bis 100.000 Zuseher. Deshalb ist Beethoven aber nicht schlechter als Fußball.
profil: Für wen komponieren Sie?
Boulez: Für mich. Wenn ich mich am Publikum orientiere, bekomme ich rasch Probleme: Wer soll meine Musik noch hören, wenn die Leute tot sind? Mein Ziel ist, mich über die Musik auszudrücken, so gut und wirksam, wie ich nur kann. Als Dirigent ist es mein Job, Musik an ein Publikum zu vermitteln. Nicht aber als Komponist.
profil: Warum verzichten Sie beim Dirigieren auf das Autoritätssignet des Stabs? Geht es am Pult nicht auch um Macht?
Boulez: Der Dirigentenstab ist kein Symbol der Macht. Er ist einfach überflüssig. Mit den Händen kann man viel besser arbeiten. Meine ersten Dirigate habe ich mit sehr kleinen Ensembles absolviert. Da wäre ein Taktstock vollends lächerlich gewesen. Als ich schließlich größere Orchester dirigiert habe, sah ich keinen Grund, mich umzustellen. Dieses kleine Ding da braucht doch niemand.
profil: Sie haben Einfluss wie kaum ein anderer Tonsetzer: Die Pariser Cité de la musique, das Ensemble InterContemporain und das Institut für elektronische Musik IRCAM verdanken ihre Gründung Ihrem politischen Geschick.
Boulez: Dabei ging es mir nie um Macht. Macht hat keinen Sinn, weil sie meist von nur kurzer Dauer ist. Als ich in Erwägung zog, aus den USA wieder nach Paris zurückzugehen, haben diese Institutionen in Paris einfach gefehlt. Es gab weder einen Saal, wo man zeitgenössische Musik adäquat hätte aufführen können, noch gab es fixe Ensembles, die diese Musik kompetent spielten. Also sagte ich zu Staatspräsident George Pompidou: „Wenn Sie mich zurückhaben wollen, müssen Sie bezahlen.“ Ich kam zurück. Irgendwann muss es so weit sein, dass Schönberg wie eine Symphonie von Brahms gehört wird. Mit gutem Willen allein wird das nicht zu erreichen sein. Dafür braucht es Institutionen.
profil: Stört es Sie, dass Sie als Dirigent bekannter sind denn als Komponist? Sie haben mit ihren zahlreichen Einspielungen 26 Grammys gewonnen.
Boulez: Ja, ziemlich viele. Meistens gebe ich sie an die Orchester weiter, mit denen ich die CDs aufgenommen habe, weil mir persönlich Preise nicht besonders viel bedeuten. Aber die Preise helfen der Musik. Denn ich dirigiere nicht das Standardrepertoire von Mozart und Beethoven, sondern sorge dafür, dass die Menschen Stücke aus dem 20. Jahrhundert zu hören bekommen.
profil: Sie dirigieren auswendig. Wie viele Werke haben Sie memoriert?
Boulez: Ich dirigiere heute praktisch nicht mehr auswendig, weil ich inzwischen zu sehr mit meinem Gedächtnis beschäftigt wäre. Früher habe ich auswendig dirigiert, um mich zu disziplinieren. Heute geben mir die aufgeschlagenen Noten am Dirigentenpult Sicherheit, auch wenn ich gar nicht hineinschaue. Außerdem führe ich Stücke oft viele Jahre lang nicht auf. Nächstes Jahr werde ich in Wien Gustav Mahlers Zweite Symphonie dirigieren. Die habe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gespielt. Da hat man einen frischen Blick auf die Partitur.
profil: Eines Ihrer berühmtesten Stücke, „Polyphonie X“, ist von der ersten bis zur letzten Note durchorganisiert. Geht es in Ihrer Musik denn nie um Gefühle?
Boulez: Natürlich geht es auch um Gefühle, doch wenn man von Ausdruck spricht, wird das Wort meist im romantischen Sinn verwendet: Herz und Tränendrüse. Es gibt auch eine andere Form von Ausdruck. Kandinsky malte Kreise und Vierecke. Das ist ein Standpunkt, wie man die Welt sehen kann. Man kann die Ordnung der Dinge auch mit zwei Linien ausdrücken. Mit der Melodie ist es dasselbe. Man denkt, man weiß, was eine Melodie ist. Dabei haben Bellinis Melodien mit jenen von Strawinsky nichts zu tun. Ich habe ebenfalls Melodien geschrieben, etwa in „Marteau sans Maître“.
profil: Glaubt ein Rationalist wie Sie an Inspiration?
Boulez: Ich bin nicht so rational, wie viele meinen. Man hat eine Idee und weiß nicht immer so genau, warum. Doch die wichtige Frage ist: Was mache ich mit dieser Idee? Da fängt die Arbeit an. Zu sehen, wie rationell Beethoven mit seinen Ideen umgegangen ist, ist für mich ein Genuss. Er hat die Art, wie er eine Idee verarbeitet, jeweils neu aus der Idee abgeleitet. Chopin hingegen hat deshalb so viele kurze Stücke geschrieben, weil er Schwierigkeiten hatte, seine Ideen zu entwickeln.
profil: Schmeichelt es Ihnen, wenn man Sie als Genie bezeichnet?
Boulez: Ich weiß nicht, ob ich ein Genie bin. Mir kommt das Wort ein bisschen zu groß vor. Aber ich bin eine Persönlichkeit, die die letzten Jahrzehnte mitgeprägt hat. Das zu verneinen wäre falsch.
profil: Ihr Werkkatalog fällt mit rund 50 Werken erstaunlich schmal aus. Kollege Hans Werner Henze etwa hat zehn Symphonien, rund zwanzig Opern, ein Requiem und zahlreiche Orchesterwerke komponiert.
Boulez: Mozart hat über 600 Werke geschaffen, Beethoven nur 110, obwohl er doppelt so lange gelebt hat. Es gibt Komponisten, die viel produzieren müssen, um manchmal Stücke hervorzubringen, die wirklich entscheidend sind. Und es gibt andererseits Leute, die viel Zeit brauchen, um etwas wirklich Wichtiges zustande zu bringen. Das ist der Unterschied zwischen Spontaneität und dem kritischen Standpunkt.
profil: Sie haben viele Ihrer Werke mehrfach einer Revision unterzogen. Glauben Sie an das perfekte Kunstwerk?
Boulez: Nein, aber natürlich gibt es Stücke, die für mich fertig sind. „Polyphonie X“ etwa würde ich nicht mehr anrühren, auch deshalb, weil mir das Denken von damals inzwischen zu fremd ist. Anderen Stücken hingegen bin ich noch etwas schuldig. „Pli selon pli“ habe ich nun, nach vierzig Jahren, revidiert, um dem Stück eine endgültige Form zu geben.
profil: Sie werden nächstes Jahr Ihren achtzigsten Geburtstag feiern. Was verändert das Alter?
Boulez: Ich bin noch kämpferisch, aber nicht mehr mit derselben Schärfe, weil ich strenger zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen unterscheide. An den Tod denke ich noch nicht. Nur wenn ich sehe, dass viele Leute, die 1930 geboren wurden, schon gestorben sind, dann denke ich: Jetzt komme wohl bald ich an die Reihe. Man muss das Verschwinden akzeptieren. Es wäre zu einfach, an ein Leben nach dem Tod zu glauben.