„Polen ist ein Ausnahmefall“

Interview. Der polnische Premier Donald Tusk über AKWs, Russland und seine Pläne für den EU-Vorsitz

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Interview: Otmar Lahodynsky

profil: Polens Regierung überlegt den Bau von ersten Atomkraftwerken. Werden Sie trotz des Unfalls in Fukushima an den Plänen festhalten?
Tusk: Die Katastrophe von Fukushima ist eigentlich kein GAU eines Atomkraftwerks, sondern ein Unfall, der als Folge eines Erdbebens und eines Tsunamis passiert ist. Solche Unfälle können auch chemische Fabriken betreffen, und man würde diese nicht stilllegen. Wir sollten daher über die Sicherheit von Kernenergie sprechen, ganz unabhängig von den Ereignissen in Japan.

profil: Aber manche europäische Länder wie Deutschland überlegen jetzt den Ausstieg aus der Atomenergie. Italien hat seine Pläne zum Bau des ersten Atomkraftwerks auf Eis gelegt.
Tusk: Polen ist eigentlich ein Ausnahmefall, weil die meisten EU-Länder bereits Kernenergie nützen. Für Polen ist die Frage eines Einstiegs in die Kernenergie umso wichtiger, als der Druck auf uns wegen der CO2-Emissionen steigen wird. Unsere Energie basiert zu 90 Prozent auf Kohle. Wir können diese nicht durch erneuerbare Energieträger ersetzen.

profil: Österreich tritt in der EU für einen Atomausstieg ein. Welche Botschaft überbringen Sie in dieser Frage bei Ihrem Arbeitsbesuch in Wien?
Tusk: Ich habe für die Österreicher zwei gute Nachrichten: Erstens werden wir dafür sorgen, dass Investitionen in Kernenergie auch sicherheitstechnisch auf höchstem Niveau vorgenommen werden. Die zweite gute Nachricht: Potenzielle Standorte für unser erstes AKW befinden sich im nördlichen Teil Polens, also sehr weit weg von Österreich.

profil: Bundeskanzler Faymann will mit dem deutschen SPD-Chef Sigmar Gabriel ein europaweites Referendum über die Kernenergie einleiten. Irritiert Sie das?
Tusk: Nein, aber ich werde bei der Organisierung eines solchen Referendums nicht mitwirken. Für uns Polen ist das Problem auch weit geringer als für Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Wenn es Österreich gelingen sollte, etwa Frankreich von der Schließung seiner Kernkraftwerke zu überzeugen, dann wird sich auch Polen darüber Gedanken machen.

profil: Also nie.
Tusk: Die Beziehungen zwischen Polen und Österreich sind hervorragend, auch wenn Bundeskanzler Faymann und ich in der Energiefrage unterschiedlicher Meinung sind.

profil: Polens Wirtschaft hat die weltweite Finanzkrise relativ unbeschadet überstanden. Wie ist das gelungen?
Tusk: Im Jahr 2009 waren wir das einzige EU-Land, in dem es trotz weltweiter Finanzkrise ein Wirtschaftswachstum gab. 2010 lagen wir beim Wirtschaftswachstum hinter Schweden auf dem zweiten Platz. Natürlich hat uns der große Binnenmarkt Polens geholfen, aber viele andere Länder mit großen Inlandsmärkten haben unter der Krise sehr gelitten. Vor allem haben wir eine wirksame Aufsicht über das Finanzsystem aufgebaut. Und wir haben als erstes Land in Europa gleich bei Ausbruch der Krise die Entscheidung getroffen, ernsthaft bei den staatlichen Ausgaben zu sparen.

profil: Das staatliche Defizit Polens liegt aber noch bei hohen sieben Prozent des BIP.
Tusk: Das Defizit ist ein Problem für uns, auch wenn es nicht weit über den Werten anderer EU-Staaten liegt. Wir haben eine sehr kostspielige Pensionsreform durchgeführt. Zweitens mussten wir, um die EU-Förderungen zu fast 100 Prozent zu nutzen, sehr viele Eigenmittel bereitstellen. Die EU-Kommission hat unser Budgetprogramm, durch das wir im kommenden Jahr das Defizit auf drei Prozent senken wollen, bereits abgesegnet. Bei der Gesamtverschuldung liegt Polen aber nur bei 53 Prozent des BIP.

profil: Ursprünglich sollte Polen der Eurozone anlässlich der Fußball-EM 2012 beitreten. Das wird nun doch länger dauern.
Tusk: Diese Prognose hatte ich kurz vor Ausbruch der Finanzkrise angestellt. Aber wir sind weiter fest entschlossen, der Eurozone beizutreten. Manche Experten warnen, dass wir diesen Schritt nicht zu eilig setzen sollten. Aber ich bin anderer Meinung: Polen sollte so schnell wie möglich die Maastricht-Kriterien erfüllen. Die Zukunft der EU hängt vom Fortschritt der europäischen Integration ab. Und dabei hat der Euro eine Schlüsselbedeutung.

profil: Die aktuellen Probleme von Euro-ländern wie Griechenland, Irland, Portugal irritieren Sie nicht? Wird sich Polen an Hilfspaketen beteiligen?
Tusk: Wir sind noch nicht ein so wohlhabendes Land, dass wir große Mittel aufbringen können, um anderen zu helfen. Aber es ist notwendig, sich solidarisch zu zeigen. Polen hat ja schon eine Finanzhilfe für Island angeregt, und wir haben auch Lettland oder Moldau unterstützt.

profil: Welche Ziele haben Sie für Ihren EU-Vorsitz ab 1. Juli?
Tusk: Ich bin vom Sinn eines geeinten Europa zutiefst überzeugt. Deshalb werden wir für die Wiederherstellung des Vertrauens der Bürger in die europäische Integration kämpfen. Formell werden wir uns für das Funktionieren des Binnenmarkts einsetzen und für die Erweiterung der EU: vom Balkan bis zur Türkei. Auch die Ukraine hat diese Perspektive, obwohl sie etwas längerfristiger ist. Weiters trete ich für den Fortbestand der Kohäsionspolitik ein, durch die ganz Europa wohlhabender werden kann.

profil: Polen ist der größte Nettoempfänger aus den Brüsseler Fördertöpfen.
Tusk: Natürlich haben die Kohäsionsmittel eine große Bedeutung für uns. Aber auch Nettozahler wie Österreich profitieren davon, was leider weniger bekannt ist. Von jedem Euro, den Österreich über die gemeinsame EU-Kasse an Polen bezahlt, fließen 68 Cent an österreichische Unternehmen zurück.

profil: Sie wollen auch die Kooperation in der Verteidigungspolitik verstärken.
Tusk: Ein sicheres Europa setzt Einigkeit in den Fragen Wirtschaft, Energie und auch Verteidigung voraus.

profil: Im Fall Libyen ist die EU nicht gerade geschlossen aufgetreten.
Tusk: Das beweist ja, dass eine einheitliche Linie in der Sicherheitspolitik noch immer fehlt. Wir müssen mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas übernehmen.

profil: Was Libyen betrifft, stehen Sie mehr auf Seite Frankreichs als Deutschlands?
Tusk: Ich schätze – was Libyen betrifft – die Maßnahmen von Präsident Sarkozy. Noch immer fehlen die gemeinsamen Mechanismen, um als Europäische Union in einem besonderen Fall wie in Libyen oder früher in Georgien handlungsfähig zu sein.

profil: Polen fordert von den USA nach Absage des umstrittenen Raketenschild-Projekts die Aufstellung von Patriot-Abwehrraketen. Warum sind diese für Polen so wichtig, wo sich doch die Beziehungen mit Russland deutlich gebessert haben?
Tusk: Österreich hat nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Glück gehabt als Polen. Ihr hattet die Rote Armee nur zehn Jahre bei euch, wir fast 60 Jahre. Polen hat wegen dieser Erfahrungen ein Recht auf eine Politik, die unsere Sicherheit garantiert. Das Jahr 1939 darf sich nie wieder wiederholen. Die NATO sollte in der Lage sein, im Ernstfall jedes ihrer Mitglieder zu verteidigen.

profil: Zweifeln Sie daran?
Tusk: Ich zweifle nicht an den Absichten der Bündnispartner. Aber es geht um Ausbau der logistischen, organisatorischen und technischen Möglichkeiten.

profil: Und dazu gehören Patriot-Raketen?
Tusk: Unabhängig von den Beschlüssen der Bündnispartner wollen wir selbst dafür sorgen, dass bei uns entsprechende Anlagen aufgestellt werden, die wirksam für unsere Sicherheit sorgen.

profil: Vor genau einem Jahr ist das Flugzeug mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski und weiteren 95 Passagieren auf dem Weg zur Gedenkfeier in Katyn in Russland abgestürzt. Bestehen für Sie noch offene Fragen über die Unglücksursache?
Tusk: Wir wollen diese Untersuchung nicht gegenüber irgendjemandem missbrauchen. Wir wollen nur die volle Wahrheit erfahren. Ich hege keine sensationellen Vermutungen in Bezug auf die Unfallursache, aber ein solider Bericht sollte alles berücksichtigen, was auf polnischer und russischer Seite an Unzulänglichkeiten passiert ist.

profil: Der russische Endbericht hat die Schuld den polnischen Piloten und dem Luftwaffenchef, der diese zur Landung trotz Nebel gezwungen haben soll, gegeben.
Tusk: Der Bericht der polnischen Kommission wird objektiv alle Gründe und Umstände des Absturzes klären.

profil: Am 1. Mai werden die Arbeitsmärkte von Österreich und Deutschland für Bürger der neuen Mitgliedsländer endgültig geöffnet. Wird das größere Wanderungen von arbeitsuchenden Polen auslösen?
Tusk: Offenbar gibt es immer noch Ängste, dass es zu einseitigen Wanderungen von Arbeitskräften kommen wird. Dabei arbeiten schon lange viele Polen in anderen EU-Ländern. Wenn die Arbeitsmärkte nun komplett geöffnet werden, springe ich sicher nicht vor Freude auf. Denn für uns entstehen Probleme, wenn gut ausgebildete Arbeitskräfte Polen verlassen. Es gibt bereits Hunderte Headhunter aus Österreich oder Deutschland, die uns Fachkräfte abwerben wollen.