Pop - Coldplay: So viel zu verlieren

Pop: So viel zu verlieren

Im Zwiespalt zwischen Er-folg und Glaubwürdigkeit

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Coldplay-Sänger Chris Martin ist gewiss kein Dummkopf. Er spielt jede Menge Instrumente, hat einen Studienabschluss in Urgeschichte, kann gut mit Worten umgehen und wirkt grundsätzlich so, als wüsste er genau, dass man sich eine lose Zunge erst einmal leisten können muss. Als Coldplay vor knapp zwei Wochen in New York einen harmlosen kleinen Presse-Termin absolvierten, ließ Martin sich vermutlich nicht zufällig zu einem verbalen Ausritt verleiten: Was er davon halte, dass das Schicksal des drittgrößten Musikkonzerns der Welt am Erfolg von Coldplays neuem Album hängt? „EMI ist mir eigentlich egal“, ließ Martin wissen. „Das betrifft mich nicht. Ich finde, Aktionäre sind das Böse dieser modernen Welt.“ Zwei Tage zuvor hatte er dem Studiopublikum des Musiksenders VH1 erzählt, er würde, „wenn’s sein muss, die ganze Firma versenken“.

Chris Martins Bissattacken gegen die Hand, die ihn zu Anfang seiner Karriere fütterte, kommen nicht von ungefähr. Zynisch betrachtet, ist Martin – genau wie den EMI-Aktionären – wohl bewusst, dass seine Glaubwürdigkeit bei der potenziellen Käuferschicht durch solch subversive Posen nur gesteigert wird. Ein gewisser rebellischer Anstrich kann dem eine Spur zu milden Mittelklasse-Image von Coldplay kaum schaden.

Doch Martins Zornausbruch hat seine eigentliche Basis in den Strapazen der vergangenen 18 Monate, die seine Band in einen goldenen Druckkochtopf gebracht haben. Mit ihrem dritten Album „X&Y“ müssen Coldplay ihren Platz in der obersten Liga der globalen Stadion-Rock-Acts um jeden Preis zementieren. Die Versuchung, ihre Songs schon vorab für die große Bühne zu arrangieren, habe dazu geführt, „dass wir Musik machten, die wir nicht einmal selbst mochten“, erzählt Chris Martin im Gespräch mit profil in der Londoner EMI-Zentrale: „Die Belastung war immens. Man flüsterte uns von allen Seiten Dinge ein: wie wir Songs schreiben sollten, um sie an nationale Erfordernisse anzupassen, um beispielsweise in Amerika markttauglich zu bleiben. Wenn du all diese Erwartungen erfüllen willst, wirst du verrückt.“

Am Ende blieb Coldplay nur die Flucht in die Verdrängung. Nach über einem Jahr unbefriedigender Aufnahmen stellten Martin, Gitarrist Jonny Buckland, Schlagzeuger Will Champion und Bassist Guy Berryman sich wie in alten Tagen in den Proberaum und spielten drauflos, „bis wir vergessen hatten, dass wir ein Markenartikel sind; bis uns klar wurde, dass wir vier nur uns selbst genügen müssen“. Während die Band sich solcherart wiederentdeckte und ihr Album in neuer Frische noch einmal einspielte (siehe CD-Kritik), ließ der nach hinten verschobene Erscheinungstermin ihres Produkts die Aktienkurse der EMI nach unten purzeln.

Kein Wunder also, dass Martin Mühe hat, die Zyklen seiner Kreativität mit jenen des Aktienmarkts zu synchronisieren, selbst wenn die Wachstumsrate stimmt: Coldplays 2000 erschienenes Debütalbum „Parachutes“ verkaufte sich weltweit beachtliche sechs Millionen Mal, der Nachfolger „A Rush of Blood to the Head“ (2002) konnte diese Zahl fast verdoppeln. Vor Erscheinen ihres lang erwarteten Drittlings „X&Y“ sind Coldplay nun die einzige zeitgenössische Band im Mutterland des Pop, der es ernsthaft zuzutrauen ist, den alles entscheidenden US-Mainstream zu knacken. Mit ihrem jüngsten Hit „Speed of Sound“ stiegen sie als erste britische Band seit den Beatles auf Anhieb in die Top Ten der amerikanischen Singles-Charts ein.

Liebenswerte Marotten. Der ätherisch-balladeske Breitwand-Rock von Coldplay vermag ähnliche Euphorie wie U2 in ihrer klassischen, präironischen Phase wachzurufen, und dank der berührenden Intimität der leicht verschnupften Stimme Martins und liebenswerter Marotten wie seinem linkischen, einbeinigen Bühnentanz wirken Coldplay dabei noch auf ganz unpeinliche Weise kuschelig. Als die Mitte der neunziger Jahre am University College London gegründete Studentenband zur Jahrtausendwende mit dem Song „Yellow“ ihren Durchbruch feierte, besetzte sie genau jene Nische für emphatische, melancholische Rockmusik, die einerseits durch den frühen Tod Jeff Buckleys, andererseits durch den musikalischen Kurswechsel von Radiohead nach deren „OK Computer“-Album frei geworden war. Seither haben Bands wie Keane, Snow Patrol, Athlete oder Thirteen Senses die Nachempfindung des Coldplay-Sounds zu einem eigenen Genre weiterentwickelt.

Chris Martin gibt sich gegenüber seinen Epigonen großmütig: „Wenn man mit Themen wie Tod und Liebe hadert, dann sind solche Vergleiche nicht das, worüber man sich Gedanken macht. Ich glaube, unser neues Album wäre nicht, was es ist, wenn wir singen würden: ‚Oh, ich hörte einen Song im Radio, der klang ein bisschen zu sehr nach uns …‘“ Wo Coldplay jedoch selbst von anderen stehlen, tun sie dies mit entwaffnender Offenheit. Der Song „A Message“ etwa, gesteht Martin, basiere auf der 300 Jahre alten Kirchenhymne „My Song Is Love Unknown“, die den ehemaligen Privatschülern in ihrer Kindheit eingebläut worden war. Ein weiterer Beweis dafür, dass nicht bloß der Blues, sondern auch die Traumata einer britischen Erziehung die Wurzeln der Rockmusik bilden.

Für die Nummer „Talk“ borgten sich Coldplay eine Melodie von Kraftwerks „Computerliebe“. „An unserem Plagiat ist nichts Subtiles“, bekennt Martin. „Erst später fanden wir heraus, dass Kraftwerk so etwas normalerweise nicht erlauben. Aber wir schrieben ihnen einen netten Brief – und es klappte.“ Die Aussicht auf geteilte Tantiemen mag bei der Zusage allerdings auch eine Rolle gespielt haben.

Die unkomplizierte, augenzwinkernde Selbstironie ist nicht nur eine gute Tarnung für Coldplays ungeheuren Ehrgeiz, sie mildert auch die bisweilen reichlich dick aufgetragene Larmoyanz ihrer Texte. Chris Martin, im Hauptberuf Rockstar, ist privat mit der Oscar-Preisträgerin Gwyneth Paltrow verheiratet (die beiden haben eine einjährige Tochter namens Apple), die Lotterie des Lebens hat ihn also gut bedient. Dennoch kann er sich anscheinend die Chuzpe leisten, Songs über das beneidenswerte Problem zu schreiben, „zu viel zu verlieren“ zu haben. „In all meinen Texten geht es um die Angst vor dem Verlust. Und darum, zu schätzen, was man hat, weil man weiß, dass man es irgendwann ganz sicher verlieren wird. Ein Psychotherapeut würde das wohl darauf zurückführen, dass ich seit neun Jahren in dieser Band bin und Frau und Kind habe“, erklärt Martin. „Unser Glück ist fragil, denn allein in England gibt es hundert Journalisten, die uns eins auswischen wollen.“

Fair Trade. In den vergangenen Jahren hatte der vom britischen Boulevard gejagte 28-jährige Familienvater zwei tätliche Auseinandersetzungen mit lästigen Fotografen, die ihm und Paltrow an einem australischen Surf-Strand und vor einem Londoner Restaurant aufgelauert hatten. Dabei weiß er seine mediale Präsenz bisweilen auch für positive Zwecke zu nutzen. Vor öffentlichen Auftritten malt er stets das Logo der „Make Trade Fair“-Plattform auf seine linke Hand. Heuer fuhr Martin im Dienst jener Organisation nach Ghana, um auf die Lebensumstände der dortigen Bauern aufmerksam zu machen, die mit subventionsgestützten Billigimporten aus der EU konkurrieren müssen.

In den USA wiederum riskierten Coldplay die Sympathie des republikanischen Kontingents ihrer Fans, indem sie als unbeteiligte Briten die Werbetrommel für John Kerry rührten. Und am Vorabend der Irak-Invasion trat Martin bei einem Konzert gegen den Krieg auf, selbst wenn er sich während des profil-Interviews daran nicht mehr erinnern kann. Gitarrist Jonny Buckland hilft ihm auf die Sprünge: „Aber ja! Du hast im Shepherd’s Bush Empire in London gespielt.“ – „Oh ja, stimmt“, entschuldigt sich Martin. „Und es funktionierte nicht, oder? Bush hörte nie davon. Ich wünschte, es wäre so einfach, einen Krieg zu verhindern. Ich halte George W. Bush ja für den guten Frontmann einer schlechten Band. Deshalb unterstützten wir John Kerry, statt Bush schlecht zu machen. Wir wenden auch während unserer Konzerte keine Zeit mehr auf, um über ihn herzuziehen; schließlich sind die Leute gekommen, um Coldplay zu sehen. Manchmal finde ich es sehr leicht, ins Negative abzurutschen. Oft wünschte ich, ich hätte mich stattdessen zu etwas anderem positiv geäußert“, sagt Martin, übrigens kurz bevor er gegen die EMI-Aktionäre vom Leder ziehen wird.

Alle Macht dem Positiven, darum geht es Coldplay dieser Tage offenbar. Die hymnischen Refrains, die stadiontauglich reduzierten Tempi, der Hang zur guten Sache und der freche Zungenschlag, gemischt mit der – an Bono Vox in bekehrender Bestform erinnernden – versöhnlich ausgestreckten Hand: Coldplay sind auf dem besten Weg, die U2 ihrer Ära zu werden.

Von Robert Rotifer